Читать книгу Sia und Ras im Paradies - Karl Reiche - Страница 7
Erkenntnis
ОглавлениеÜberrascht sah er sie an. Er erinnerte sich an den Traum, in dem er als Jäger mit einer Gruppe anderer Männer unterwegs gewesen war.
War es kein bedeutungsloser Fantasietraum gewesen, sondern hatte er eine Erinnerung geträumt? Er war sich ganz sicher, dass er in seinem Leben noch nie auf der Jagd gewesen war und schon gar nicht nackt mit anderen Männern und dazu auch noch mit Speeren bewaffnet. Er hatte vorhin seinem Körper betrachtet und gesehen, dass dies ganz bestimmt nicht sein eigener war. Er wusste, dass es in vielen Kulturen auf der Welt die Vorstellung einer Seelenwanderung gab. War ihm das auch geschehen? War der Traum eine Erinnerung des Mannes gewesen, in dessen Körper sein Bewusstsein jetzt steckte? Und wenn ja, was war geschehen, und wo war er jetzt?
Verwirrt betrachtete er wieder das Gesicht der jungen Frau.
Er sah erneut mit Erstaunen ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, ihre sehr kräftigen Augenbrauen mit den deutlich erkennbaren Augenbrauenwülsten und der fast geraden Stirn und blickte versonnen auf ihre sehr vollen Lippen.
Kein Homo erectus aber auch kein moderner Mensch. Wahrscheinlich Homo Heidelbergensis. Dachte er plötzlich.
Dann fuhr er erschrocken zusammen.
Was fällt mir denn ein? Der Homo Heidelbergensis lebte vor etwa 600.000 bis vor etwa vor 200-300.00 Jahren! Ich kann doch jetzt keiner Frau der Homo Heidelbergensis begegnen.
Doch der Floh hatte sich ihm ins Ohr gesetzt und jetzt betrachtete er die Frau noch genauer als vorhin.
Sie hatte eine schlanke Figur, schmale Hüften, lange und gerade Beine und kräftige Arme. Beim Anblick ihrer Brüste spürte er wieder, dass er bald eine Erektion bekommen würde und deshalb überlegte er schnell weiter.
Sie ist entweder ein früher moderner Mensch oder ein später Homo Heidelbergensis. Ich habe mich doch in meinem Leben immer für Geschichte interessiert und ganz besonders für die Entwicklung der frühen Menschen bis zum Homo sapiens. Der Übergang vom Homo Heidelbergensis zum modernen Menschen soll, neuesten Forschungen zufolge, vor etwa 300.000 bis 200.000 Jahren oder etwas später stattgefunden haben. Er dachte daran, wie sein Körper ausgesehen hatte. Wenn Sie eine Frau des späten Homo Heidelbergensis ist, was bin ich dann?
Jetzt musste er es genau wissen. Er zeigte auf den Lederbeutel, den die Frau die ganze Zeit über der Schulter getragen hatte und der jetzt neben ihr lag.
„Was hast du da drin?“
„Du hast selbst auch einen solchen Beutel“, antwortete sie ihm.
„Er hat neben dir in dem Geröll gelegen und ich habe ihn mitgenommen. Hier ist er.“
Sie reichte ihm einen Beutel, der dem Ihrigen sehr ähnlich sah, aber wesentlich größer war. Verdutzt nahm er ihn entgegen, zog den Lederriemen auf, mit dem Beutel verschlossen war, und griff hinein.
Als Erstes berührten die Finger seiner Hand einen größeren Gegenstand, der offensichtlich aus Stein war. Er zog ihn heraus und betrachtete ihn ohne wirkliche Überraschung.
Ein Faustkeil dachte er.
Dann griff er wieder in den Beutel und holte ein zusammengerolltes Stück Leder heraus. Als er es auseinanderfaltete, kamen verschiedene Werkzeuge aus Feuerstein zutage, hauptsächlich zum Schneiden oder Schaben.
Der restliche Inhalt des Beutels bestand aus in Ledertücher eingewickeltem Fleisch, das schon etwas abgehangen roch, aber noch nicht verdorben zu sein schien.
Beim Anblick des Fleisches meldete sich sein Magen wieder. Immerhin hatte er seit vier Tagen nichts mehr gegessen. Auch bei der Frau löste der Anblick sofort praktische Überlegungen aus.
„Wir sollten etwas essen. Ich habe gestern einige essbare Wurzeln gefunden und einige Körner. Nur mein Fleisch war alle. Am Fuß dieses Berges ist ein See. Ich hole schnell etwas Wasser, damit wir zum Essen auch etwas trinken können.“
Sie verließ ihn und kam bereits kurze Zeit später mit einem mit Wasser gefüllten Lederbeutel wieder.
In der Zeit, in der sie fort war, begann sein Geist die Situation zu akzeptieren:
Ich bin nicht mehr ich selbst und bin offensichtlich augenblicklich in der älteren Steinzeit.
Während sie aßen - er beobachtete fasziniert, wie geschickt sie mit den Schneidewerkzeugen aus Feuerstein hantierte - dachte er weiter nach:
Was auch immer geschehen ist, wie auch immer ich hierhergekommen bin, offensichtlich bin ich in der Zeit zurückgereist. Aber nicht mein Körper, sondern nur mein Bewusstsein. Das befindet sich nun im Körper eines Mannes aus dieser Zeit. Ich bin also in der frühen Steinzeit. Der moderne Mensch hat sich aus dem Homo Heidelbergensis etwa vor knapp 300.000 Jahren oder etwas später entwickelt. Und zwar in Afrika. Es ist hier sehr warm. Sie trägt nur dieses kurze Lederröckchen und ich nur diesen komischen Lendenschurz. Also muss ich in Afrika sein. Die Frage ist nur wo?
Deshalb stellte er ihr die nächste Frage:
„Wo sind wir hier?“
Sofort antwortete sie: „Wir sind hier am nördlichen Rand dieser Berge. Nördlich von uns breitet sich eine große Grasebene aus, in der es viel Wild gibt. Deshalb sind wir durch dieses Gebirge gezogen, um zu dieser Ebene zu gelangen.“
Das beantwortete zwar nicht seine Frage, gab aber Gelegenheit, nachzufragen.
„Erzähl mir mehr über eure Umgebung. Gibt es hier so etwas wie einen Winter?“
Er hatte tatsächlich in ihrem Wortschatz einen Begriff gefunden, der seinen Vorstellungen von einem Winter am Nächsten kam.
„Ja, wir kennen zwei Jahreszeiten: eine lange Zeit des Sommers und eine kürzere Zeit des Winters. Im Augenblick haben wir Sommer. Aber wenn einige Monde vergangen sind, dann beginnt das schlechte Wetter. Dann wird es manchmal kalt und ich habe schon einmal Schnee erlebt.“
Er hatte sein Gedächtnis der anderen Sprache durchforstet und tatsächlich in ihrem Wortschatz einen Begriff für Schnee entdeckt.
„Wenn es in dieser Gegend manchmal sehr kalt wird, warum hast du dann nur so wenig an?“
Sie lachte wieder: „Oh, jetzt ist Sommer. Wie du selber spüren kannst, ist es zurzeit sehr warm. Aber wenn es kälter wird, dann habe ich auch wärmere Kleidung für mich dabei.“
Sie zeigte auf eine große Fellrolle, die an einer der Wände der Höhle lag.
„Du hast auch so eine Kleiderrolle gehabt. Aber leider ist sie bei dem Bergsturz verlorengegangen.“
Immer noch beschäftigte ihn die Überlegung, wo er sich genau befand. Wenn die Frau schon einmal Schnee gesehen hatte und es in ihrer Sprache ein Wort für Schnee gab, dann konnten sie nicht in Zentralafrika sein. Dann fiel ihm wieder ein, was er über die Eiszeiten wusste. Die vorletzte Eiszeit, die Saale Eiszeit, begann vor etwa 300.000 Jahren.
Wobei ein Zeitraum von 1000 Jahren so gut wie bedeutungslos war. Während der Eiszeiten aber waren die Klimazonen nach Süden verschoben und das Gebiet der Sahara war viel feuchter gewesen und hatte eine üppige savannenartige Vegetation gehabt.
Er befand sich also irgendwo im Norden Afrikas, wahrscheinlich im Gebiet der Sahara, und sein Bewusstsein lebte hier im Körper eines Mannes der Homo Heidelbergensis.
Dann wollte er aber eine letzte Gewissheit haben.
„Du hast erzählt, dass hier in der Nähe ein See ist. Können wir dorthin gehen?“
„Natürlich. Folge mir einfach.“
Sie stand auf, führte ihn aus der Höhle, unter dem Felsüberhang hindurch einen schmalen Tierpfad hinunter. Als sie um eine Felskante herumgingen, lag unter ihnen der See. Es war ein windstiller Tag und die Oberfläche des Sees war spiegelglatt. Er beugte sich am Ufer über die Wasserfläche und hatte damit die letzte Gewissheit.
Er sah in ein markantes Gesicht, ebenfalls mit starken Augenbrauenwülsten, aber, wie bei der Frau, mit einer fast geraden Stirn und dunklen, fast schwarz wirkenden Augen.
Meine Augen sind blau! Dann verbesserte er sich: Waren blau. Und das ist auch nicht mein Gesicht. Schließlich habe ich es jahrzehntelang jeden Morgen beim Rasieren gesehen. Das bestätigt meine Vermutung. Mein Geist ist durch die Zeit gereist und befindet sich jetzt im Körper dieses Mannes.
Sie hatte ihn beobachtet und jetzt fragte sie: „Na, erkennst du dich wieder?“
Er antwortete nicht, sondern führte seine Überlegungen erst einmal zu Ende.
Also später Homo Heidelbergensis oder früher Homo sapiens. Wahrscheinlich kurz vor dem Übergang zu modernen Menschen.
Dann drehte er sich zu ihr um. „Ich muss nachdenken. Ich weiß im Augenblick selbst nicht, wer oder was ich bin. Fest steht nur, dass dieser Körper nicht der Körper ist, den ich von mir kenne.“