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Die Höhle

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„Dann bist du im Augenblick der andere, nicht wahr? Was ist mit deinem eigentlichen Ich geschehen? Kannst du dich an gar nichts erinnern? Wer du bist, wer deine Familie ist und wer ich bin?“

„Nein ich erinnere mich an gar nichts. Ich erinnere mich, dass ich deine Sprache kenne und sie selbst auch sprechen kann. Aber mehr weiß ich nicht.“

Wie alle Frauen war sie neugierig:

„Wer bist du? Erzähl mir von dir. Wo kommst du her?“

Bevor er antwortete, dachte er erst einmal nach. Er durchforstete sein Gedächtnis noch einmal nach dem Umfang ihrer Sprache.

Die Sprache, die sie sprechen, ist für den täglichen Umgang in ihrer Welt gut geeignet. Sie enthält Begriffe für alle wichtigen Dinge in ihrem Leben, von ihrer Umwelt bis hin zu ihren familiären Beziehungen. Aber kennen Sie auch abstrakte Begriffe? Kennen Sie Zahlen? Er versuchte herauszubekommen, welche Zahlen sie kannten und stellte überrascht fest, dass sie nicht weiter als bis zehn zählen konnten.

Sie zählen mit den Fingern, dachte er. Weiter geht es nicht. Wie sollte er der Frau begreiflich machen, dass er aus einer Zeit kam, die mehr oder weniger 300.000 Jahre in der Zukunft lag. Wenn sie sich überhaupt über die Zukunft Gedanken machten. Sie lebten ausschließlich in der Gegenwart und hatten damit auch genügend zu tun: mit dem täglichen Kampf ums Überleben und den Umgang mit den ständigen Gefahren in ihrer Welt.

Nachdenklich sah er sie an: „Ich komme aus einer ganz anderen Umgebung.“

Er benutzte das Wort „Umgebung“, weil er in ihrer Sprache kein Wort für den Begriff „Welt“ fand.

„Die Menschen dort leben ganz anders als ihr hier.“

„Wie anders?“

„Nun ja, auch die Menschen bei uns leben in Höhlen.“

Er brauchte seinen Kopf gar nicht erst nach einem Wort für Häuser oder Wohnungen zu durchsuchen, weil ihm klar war, dass sie diese Begriffe gar nicht kennen konnte.

„Aber sie bauen diese Höhlen selber und oft ganz viele nebeneinander.“

Sie konnte sich das nicht vorstellen und lachte etwas unsicher auf.

„Wie alt bist du dort?“

Er hob seine zehn Finger siebenmal hoch und ihre Augen weiteten sich wieder überrascht. Sie hatte keinen Begriff für diese Zahl, aber sie erkannte, dass er sehr alt sein musste.

„So alt wird doch kein Mensch. Wie bist du eigentlich hierhergekommen? “

„Das weiß ich selber nicht. Meine letzte Erinnerung an das andere Leben ist, dass ich gestorben zu sein scheine.“

Jetzt weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen und sie schrie leise auf:

„Du bist der wandelnde Geist eines Toten? Wir fürchten uns vor solchen Geistern. Deshalb beschweren wir unsere Toten mit Steinen, damit sie nicht wiederkommen können.“

Immer noch mit einem entsetzten Ausdruck im Gesicht rückte sie, soweit es die Hölle zuließ, von ihm ab.

Wütend auf sich selbst dachte er:

Das hast du nun davon. Du hättest den Mund halten sollen. Jetzt hast du sie erschreckt und sie hat Angst vor dir.

Inzwischen war draußen die Sonne untergegangen und fast ohne Übergang war es Nacht geworden. In der Höhle war es auf einmal stockdunkel. Das kleine Feuer, das sie vorhin angezündet hatte, war nur noch ein schwach glühendes Häufchen Asche.

Er konnte die Gestalt der Frau, nur noch als wagen Schatten, am Ende der Höhle erkennen.

Man kann ein einmal ausgesprochenes Wort niemals zurücknehmen, so gern man es auch möchte, dachte er. Was soll‘s, es ist nun einmal geschehen. Vielleicht beruhigt sie sich in den nächsten Tagen wieder.

Er legte sich auf das Lager, das die Frau für ihn vorbereitet hatte, und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Wieder träumte er, war sich aber im Traum bereits bewusst, dass er träumte.

Er hockte versteckt in einem Busch am Rande eines Baches und beobachtete die Frau, wie sie sich wusch. Wieder spürte er eine Erektion im Schlaf, aber plötzlich kannte er ihren Namen. Sie war etwa genauso alt wie er und hieß Sia. Wie alle jungen Männer in ihrer Sippe war er ein wenig in sie verliebt gewesen. Sie war eine entfernte Verwandte von ihm. Aber fast alle Mitglieder ihrer Sippe waren ja miteinander verwandt gewesen.

Beim ersten Tageslicht wurde er wach. In der Höhle war es immer noch etwas dämmerig, aber er konnte Sia erkennen. Sie hockte immer noch am Ende der Höhle an die Wand gelehnt, war aber vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ohne sich zu bewegen, betrachtete er erst einmal die Frau und seine Umgebung. Dabei dachte er an seine letzten Überlegungen in dem anderen Leben.

Ist das die zweite Chance, von der du kurz vor deinem Tod geträumt hast? Kannst du hier jetzt alles besser machen? Das hier ist ein vollkommen anderes Leben,

Aber du hast dein Wissen und deine Kenntnisse aus deinem früheren Leben. Hier kannst du vielleicht wirklich etwas Wichtiges bewirken.

Sobald er sich bewegte, wurde auch Sia wach und sah ihn mit ängstlichen Augen an.

„Guten Morgen Sia“, begrüßte er sie.

„Ras, bist du es? Bist du wieder da?“, rief sie.

Freudig lachend verließ sie ihren Platz, eilte zu ihm und umarmte ihn:

„Ras, ich bin ja so glücklich, dass du wieder da bist. Ich hatte solche Angst vor dem anderen in dir. Und ich hatte auch Angst davor, alleine hier weiterleben zu müssen.“

„Etwas in mir ist auch Ras“, murmelte er an ihr Ohr. „Ras ist in der letzten Nacht im Traum zu mir gekommen und hat mir deinem Namen verraten. Ich bin aber hauptsächlich der andere. Aber habe keine Angst. Da wo ich herkomme, bin ich vielleicht gestorben; aber hier lebe ich.“

Erschrocken ließ sie ihn los und trat wieder einen Schritt zurück. Als er in ihr Gesicht blickte, sah er zwar nicht mehr die entsetzte Panik des Vorabends, aber eine deutliche Verunsicherung und Zurückhaltung.

„Hast du immer noch solche Angst vor mir?“, fragte er sie.

„Nein. Ich fürchte mich nicht mehr so sehr vor dir, wie gestern Abend. Da du weißt, wie ich heiße, muss wirklich etwas von Ras in dir sein und das beruhigt mich etwas. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wer du bist.“

Dann brach ihre Neugier wieder aus ihr heraus:

„Wie ist eigentlich dein Name und wie soll ich dich nennen?“

Er überlegte kurz:

Wenn ich ihr meinen Namen aus meiner Zeit nenne, dann wird sie immer diesen Namen mit dem Fremdsein und ihrer Angst in Verbindung bringen. Außerdem gehört dieser Name der Vergangenheit - er musste innerlich grinsen - oder der fernen Zukunft an.

Also antwortete er ihr:

„Nenn mich Ras, denn etwas von Ras ist ja in mir. Das hat mir der Traum in der letzten Nacht gezeigt.“

Begeistert ging sie auf seinen Vorschlag ein:

„Ras ist ein guter Name. Du siehst aus wie Ras, etwas von Ras ist in dir, also werde ich dich Ras nennen. Für mich wirst du also Ras sein.“

Dann kam ihre praktische Seite zum Vorschein:

„Also Ras, wir sind jetzt die einzigen Überlebenden unserer Sippe. Wie stellst du dir vor, sollen wir unser Leben hier organisieren?“

„Du kennst dich hier doch besser aus als ich. Können wir in dieser Höhle wohnen? Finden wir hier in der Umgebung genügend zu essen?“

„Ja. Ich habe mich hier in der Umgebung umgesehen, als ich dieser Höhle gefunden habe. Hier wachsen sehr viele Pflanzen, die wir essen können. In der Ebene unterhalb dieser Berge gibt es viel Wild, das wir jagen können. Deshalb wollten wir ja durch das Gebirge hierher wandern, weil es hier mehr Tiere finden, die wir jagen können.

Wir können hier gut leben. Aber zum Überleben brauchen wir vor allen Dingen Fleisch. Das bedeutet, dass du auf die Jagd gehen musst. Für heute haben wir noch genügend Nahrungsmittel. Von dem Fleisch, das du bei dir hattest, ist noch etwas da und ich habe noch mehr essbare Wurzeln gefunden. Wir werden also heute nicht hungern. Aber spätestens morgen musst du auf die Jagd gehen.“

Er erinnerte sich an seinen Traum.

„Das werde ich alleine nicht können. Ras hat mir in einem Traum gezeigt, wie man jagen muss. Die Männer jagen immer in Gruppen und hetzen das Wild bis zur Erschöpfung. Du wirst mit mir jagen müssen.“

„Aber die Frauen gehen bei uns nicht auf die Jagd. Das ist Sache der Männer.“

„Tja, dann werden wir bei dir wohl eine Ausnahme machen müssen. Denn alleine kann ich nicht jagen gehen und das Wild so lange vor mir hertreiben, bis es vor Müdigkeit zusammenbricht. Dafür müssen wir mindestens zu zweit sein.“

Sia war sofort begeistert: „Oh ja, ich wollte schon immer einmal auf die Jagd gehen. Nur haben es mir die Männer bisher immer verboten.“

„Gut, dann wäre das geklärt. Wir gehen zusammen auf die Jagd. Womit wollen wir jagen? Haben wir Speere?“

„Nein. Ich habe nach dem Bergrutsch nur einen zerbrochenen Speer gefunden. Wir müssen für uns Neue herstellen.“

„Damit haben wir unsere erste Aufgabe für den heutigen Tag. Wir fangen damit an, uns geeignete Speere für die Jagd herzustellen.“

Während Sia zustimmend nickte, dachte er für sich:

Ich bin also jetzt Ras, ich muss anfangen, von mir selbst als Ras zu denken.




Sia und Ras im Paradies

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