Читать книгу DER SCHÄMS-SCHEUSS-VIRUS - Karl-Ulrich Burgdorf - Страница 13
Im Auge des Betrachters
Оглавление»Man kann nicht nicht wahrnehmen.«
– frei nach Paul Watzlawick
»Retinacheck positiv. Bitte bestätigen Sie das Ergebnis zusätzlich durch Ihren Fingerabdruck.«
Doppelte Sicherheitsvorkehrungen … sehr vernünftig bei einem vollautomatischen Gunshop. Ich presse die Kuppe meines Zeigefingers auf das Pad der IdentBox und warte.
Eigentlich sollte sich die Tür jetzt öffnen, und die Stimme sollte mich auffordern einzutreten. Stattdessen verschwindet das Firmenlogo auf dem Türbildschirm, und eine Schrift erscheint:
Wirklichkeit entsteht im Auge des Betrachters
Gleich darauf löst sich der kryptische Text wieder auf und macht einer pulsierenden Schrift Platz:
Berkeley
Berkeley
Berkeley
Berkeley
Berkeley
Shit! Ich habe mir einen NanoBot-Virus eingefangen! Aber nicht irgendeinen, sondern den neuen, ultragefährlichen, vor dem heute morgen in den Nachrichten gewarnt worden ist!
Ich versuche krampfhaft, mich an den Newstext zu erinnern: »… kann Ihr gesamtes intrakorporales NanoBot-System reprogrammieren und zum Absturz bringen … totaler Zusammenbruch Ihrer Wahrnehmung … äußerste Lebensgefahr …«
Jetzt muss ich schnell handeln. Der nächste NanoBot-Store … Nein, dazu ist es zu spät. Es nützt nichts mehr, meine DefenderBots upzugraden. Ich muss einen EmergencyBot-Injector finden, wenn ich überleben will. Aber wo steht einer? Zum Glück habe ich wenigstens die Flatrate für meinen NanoBot-Denkbeschleuniger – mein »Extrahirn«, wie es in der Werbung heißt – bezahlt. Und darum erinnere ich mich sofort: zwei Blocks entfernt. Ich haste los. Vielleicht schaffe ich es ja noch, bevor der Virus die Blut-Hirn-Schranke passiert. Natürlich können die AntiBotVir-Bots die Eindringlinge nicht schon zu Beginn ihres Angriffs abfangen, sondern müssen sie bekämpfen, nachdem sie sich schon im Körper ausgebreitet haben. Das wird mit hohem Fieber einhergehen … aber wenn die NotfallMedics rechtzeitig eintreffen, überlebe ich es vielleicht.
Ich renne, so schnell mich meine Füße tragen, stolpere, haste weiter. Auf dem Bürgersteig kommt mir eine junge Frau entgegen. Ihr wehendes Haar ist von einem goldenen Halo umgeben, von dem ein tiefes Summen auszugehen scheint, das mit einem Mal die ganze Welt ausfüllt. Die Leuchterscheinung wird immer intensiver – eine virusinduzierte Halluzination? Ich will die junge Frau ansprechen, sie um Hilfe bitten, aber meine Stimme versagt, und nur ein heiseres Krächzen kommt heraus. Die Frau starrt mich an, und ihre Augen sprühen grünes Feuer. Dann weicht sie vor mir zurück, wendet sich ab und flieht. Ihre Füße scheinen den Boden überhaupt nicht zu berühren.
Die Welt vor meinen Augen flackert, verschwimmt, löst sich in grau durchschossene Zeilen auf und verschwindet dann vollständig. Nur das Grau bleibt. Ich torkele blind noch ein paar Schritte weiter, dann pralle ich gegen etwas, das eine Wand zu sein scheint, und bleibe schwer atmend stehen.
Aber das ist vollkommen unmöglich! Sie können doch nicht schon im Sehzentrum sein! Oder haben sie … den … Sehnerv … ge…ka…pert …?
Meine Gedanken werden langsamer, fließen so träge dahin wie Sirup.
Verdammt, verdammt, verdammt! Sie haben bereits die Verbindung zum NanoBot-Add-on meines Gehirns gekappt! Aber das würde bedeuten, sie sind schon hinter der Blut-Hirn-Schranke! Wie haben sie das in der Kürze der Zeit fertiggebracht?
Natürlich: Schon beim Retinacheck hat man mir NanoBots durch die Linse und den Glaskörper auf die Netzhaut geschossen. Die Sache mit dem zusätzlichen Fingerabdruck war ein Trick, um dem Virus mehr Zeit zu geben, sein zerstörerisches Werk zu verrichten. Und jetzt sind meine Augen zu Bildschirmen geworden, auf die der Virus seine Botschaften projizieren kann.
Retinabeschichtung deprogrammiert
Deprogrammiert? Nicht reprogrammiert? Aber bevor ich dazu komme, weiter darüber nachzudenken, verändert sich die Schrift schon wieder. Jetzt lautet sie
Willkommen in der Wirklichkeit!
Und dann:
Öffne die Augen!
Ich soll die Augen öffnen? Aber alles, was sie mir zeigen könnten, ist doch nur Vortäuschung! Außerdem ist das, was mir der Input meiner anderen Sinneskanäle jetzt vorgaukelt, schon unerträglich genug: ein fernes Heulen und Wehklagen, ein Geruch, den zu beschreiben ich keine Worte finde, eine nie zuvor ertastete weiche Oberfläche unter den Kuppen meiner Finger, dort, wo vorhin noch eine solide Wand zu sein schien … nein, die Wirklichkeit dieses Berkeley-NanoBot-Virus entsteht nicht bloß im Auge des Betrachters!
Und dann, als die Angst übermächtig wird, öffne ich die Augen dennoch …