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Vorwort
ОглавлениеIm Jahre 1817 formulierte der englische Poet, Literaturkritiker und Philosoph Samuel Taylor Coleridge seine damals vollkommen neuartige Theorie von der »willing suspension of disbelief« – neuartig deshalb, weil hier zum ersten Mal in der Literaturgeschichte die aktive Rolle des Lesers bei der Rezeption eines fiktionalen Werkes thematisiert wurde. Coleridge versuchte zu erklären, wieso es möglich sei, dass das Wissen eines Lesers um die fiktionale Natur des Erzählten sich nicht störend auf seinen durch die Lektüre erstrebten Kunstgenuss auswirke. Laut Coleridge ist dies darin begründet, weil der Leser sich dem Kunstwerk gegenüber nicht rein passiv verhält. Auch wenn es ihm vielleicht nicht bewusst ist, so willigt der Leser doch letztlich aktiv darin ein, seinen Unglauben wenigstens vorübergehend hintanzustellen und die vom Autor gemachten Vorgaben, mögen sie auch noch so unwahrscheinlich oder gar unmöglich sein, wenigstens für die Zeit der Lektüre für bare Münze zu nehmen. Tut er dies, so wird er gleichsam zum Komplizen des Autors und gewinnt dadurch die Möglichkeit, Vergnügen an der Lektüre zu empfinden – immer vorausgesetzt natürlich, dass das, was er da liest, ihm auch gefällt. Gefällt es ihm nicht, nützt auch die schönste »willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit« nichts.
Die Aufgabe (oder, wenn Sie so wollen: die Kunst) des Autors bestünde demzufolge darin, dem Leser diese erhoffte und erwünschte Eigenleistung durch die Art der Darstellung so weit wie möglich zu erleichtern.
Bei umfangreichen Romanen oder gar bei Romanserien ist dies vergleichsweise einfach. Hier hat der Autor die Möglichkeit, seine Prämissen über Hunderte, wenn nicht Tausende von Seiten durch immer neue Details anzureichern und sie dadurch in zunehmendem Maße plausibel zu machen. Zudem stellt sich beim Leser natürlich auch ein Gewöhnungseffekt ein – er erkennt die Personen und die Welt, in der sie agieren, bei jedem neuen Lektüreakt wieder und fühlt sich darum rasch in einem solchen Kosmos daheim. Bei Kurzgeschichten ist das anders. Man kann nicht einfach in die längst vertrauten Szenerien hineinschlüpfen wie in einen bequemen, über die Jahre hinweg immer mehr ausgelatschten Hausschuh. Denken Sie nur an die ewig gleichen Ermittlerteams in den heute so beliebten Fernsehkrimis und Kriminalromanen oder, um in der Fantastik zu bleiben, die liebevoll ausgestaltete Fantasy-Welt von Mittelerde beim Herrn der Ringe oder die fantastische Beinahe-Parallelwelt, in der Harry Potter seine magischen Abenteuer erlebt. Nimmt man solche Bücher zur Hand, setzt sofort nach den ersten Sätzen ein Wiedererkennungseffekt ein – und mit ihm ein wohliges Behagen am Altvertrauten. Ich habe das an mir schon oft beobachtet. Sie vielleicht ja auch an sich.
Bei Kurzgeschichten hingegen muss der Leser – also Sie – sich alle paar Seiten auf völlig neue Gegebenheiten, völlig neue Prämissen einstellen, die sich in der Regel sogar untereinander widersprechen. Das ist natürlich nicht bequem, denn es erfordert eine hohe Flexibilität und eine besondere Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die fantastische Kurzgeschichte nach einer Blütezeit, die viele Jahrzehnte währte und noch bis in die 1980er-Jahre andauerte, heute eher ein Schattendasein fristet. Manchen Autor mag das abschrecken; andere fordert es vielleicht heraus.
Hier also sind dreißig unwahrscheinliche Geschichten aus allen nur möglichen Bereichen der Fantastik – Science-Fiction, Fantasy, Weird Fiction (in Deutschland gerne auch »Horror« genannt), Märchen oder Fabeln – mit denen ich Ihre Flexibilität auf die Probe stellen und Ihre Imagination herausfordern möchte. Wenn Sie nicht bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie dieses Buch besser gleich wieder zuklappen und sich stattdessen lieber den nächsten Fünfhundert-Seiten-Fantasy-Schmöker aus der Buchhandlung Ihres Vertrauens besorgen. Ich würde es Ihnen nicht verübeln. Wenn Sie sich aber auf diese kurzen – und manchmal sehr kurzen – Geschichten einlassen und dem Unwahrscheinlichen durch Ihre Mitwirkung Wahrscheinlichkeit verleihen, werden Sie vielleicht ein ähnlich großes Vergnügen dabei empfinden wie ich, als ich diese Geschichten für Sie und für mich selber schrieb.
Karl-Ulrich Burgdorf