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Erinnerungen des Stadtmissionars Philipp Schmidt

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Philipp Schmidt – geboren am 17.06.1869 – Eintritt am 11.09.1893 – Einsegnung am 1.05.1899 – verstorben am 24.07.1957


Im Internet: https://sites.google.com/site/rauheshausdiakone/schmidt-philipp

http://rauheshausbruder.klack.org/seite1.html

http://rauhes-haus-diakon.npage.de/schmidt-philipp.html

Jugendjahre

Als ich 6 Jahre alt war, besuchte ich die Volksschule in unserem Nachbarort Grebenroth. Alle Klassen wurden gleichzeitig in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet. Mein erster Lehrer hieß Datz und soll recht tüchtig gewesen sein, war aber sehr jähzornig. Wenn er in Fahrt kam, konnte er an einem Ende anfangen und einen nach dem anderen über die Bank ziehen und verprügeln. Zum Glück hatten wir ihn nur zwei Jahre lang. Dann wurde er versetzt. Der neue Lehrer war vorher an einer städtischen Fortbildungsschule gewesen, so dass wir gut mit den Stadtschülern mithalten konnten.

In unserer Freizeit führten wir die üblichen Jugendstreiche durch: Selbst gefangene Forellen und Krebse schätzten wir als besondere Leckerbissen. Wir ärgerten den Müller, indem wir das Wehr des Wasserwerkes abstellten, und wir mussten dann schnell sein, wenn er mit seinen Hunden kam. Außerdem mussten wir uns mit dem Feldhüter herumärgern, denn der hatte auf das Obst aufzupassen.

Jeden Herbst, wenn es kalt wurde, kehrte ein alter Rheinflößer in unser Dorf ein. Er hatte sein Leben auf dem Rhein zugebracht und konnte jetzt nicht mehr arbeiten. So schlug er sich den Winter über bei den Bauern durch. Für uns Kinder waren seine Erzählungen an den Winterabenden sehr spannend. Im Frühjahr verschwand er dann wieder stillschweigend.

Ich erinnere mich auch an einen Handwerksburschen, der bei uns betteln kam und den mein Vater zur Drainierung der Wiesen einsetzte. Er war uns Kindern ein guter Kamerad, da er uns nicht nur Geschichten erzählte, sondern aus Weidensträuchern auch Flöten und Schalmeien bastelte.

Zum Konfirmationsunterricht mussten wir ins Nachbardorf. Er dauerte nur 4 Monate, von Februar bis Pfingsten. Dieser Unterricht hat mir nicht viel gegeben, da er gerade in die Zeit eines Pfarrerwechsels fiel. Zur Konfirmation ging der Förster mit uns in den Wald, und wir mussten Birkenstämme abhauen, mit denen die Kirche geschmückt wurde, so dass sie einem Birkenwald glich. Meine Konfirmation war keine große Festlichkeit. Lediglich von den Patenonkeln und -tanten erhielt ich ein Geschenk von 5 Mark.

Nun kam die Berufsfrage an mich heran. Ich wäre gerne Lehrer geworden, aber für einen Landjungen war es schwierig, auf das zuständige Seminar in Usingen zu kommen. Unterbringung und Schulgeld für das Seminar konnten meine Eltern nicht bezahlen. So musste ich bei meinen Eltern in der Landwirtschaft helfen. Von unserem Lehrer erhielten wir mit mehreren jungen Leuten abends etwas Fortbildungsunterricht. Von einem alten Kellner, der in Frankreich tätig gewesen war, lernten wir etwas Französisch. In dieser Zeit starb meine Mutter, was mir sehr nahe ging. Da mein Vater Kirchenvorsteher war, half ich dem Pastor sonntags bei der Kinderlehre. An den langen Winterabenden kamen wir auch mit den Mädchen in den üblichen Spinnstuben zusammen. Es wurden Geschichten erzählt und Volkslieder gesungen. Dazu gab es Kartoffelpuffer. Inzwischen war ich 17 Jahre alt geworden und musste daran denken, einen Beruf zu ergreifen. Vom Freundeskreis der Anstalt Scheuren bei Nassau ging eine pietistische Bewegung aus, die auch durch die sogenannten Stundenhalter in unser Dorf kam. Unter dem Einfluss unseres Pastors fasste ich den Entschluss, Missionar zu werden. Ich bewarb mich als Missionsschüler bei der Baseler Mission. Es wurde mir jedoch mitgeteilt, dass ich noch zu jung sei. Man riet mir, mit dem Eintritt bis zu meinem 20. Lebensjahr zu warten. Die Missionsgesellschaft legte Wert auf Männer, die sich bereits in einem praktischen Beruf bewährt hatten.

So ging ich dann mit meinem Vater die sieben Stunden Fußweg nach Wiesbaden, um eine Lehrstelle als Stellmacher zu suchen. Wir ließen uns in Wiesbaden von einem Diakon Kaiser beraten, der ein Freund meines Vaters war. Ich war kaum ein Vierteljahr in der Lehre, da bekam ich Anfang März die Nachricht, dass mein Vater schwer erkrankt sei und nach mir verlange. Trotz Schnee und Glatteis im März machte ich mich auf den Weg. Nach Mitternacht traf ich im elterlichen Haus ein. Als mein Vater mich sah, sagte er „endlich“, streckte sich aus - und war tot. Nun war ich 17 Jahre alt und hatte weder Vater noch Mutter.

In meiner Lehrstelle hatte ich es verhältnismäßig gut. Mit den Gesellen kam ich auch gut zurecht. Morgens um 5 Uhr stand ich auf und ging in die Werkstatt. Um 6 Uhr gab es Morgenkaffee, um 10 Uhr Frühstück, und um ½ 1 Uhr wurde zu Mittag gegessen. Nachmittags um 4 Uhr gab es noch eine Tasse Kaffe und eine Schnitte Brot. Dann wurde bis abends um 8 Uhr durchgearbeitet. Abends ging ich meistens noch etwas in die Stadt. Samstags war von 8 bis 10 Uhr Fortbildungsunterricht in Zeichnen, Rechnen und Deutsch.

Öfter ging ich in den Jünglingsverein, den ein Diakon Zimmermann aus Krischona leitete. Die Form des Umganges dort gefiel mir jedoch nicht so sehr. Wir wurden nicht gefragt: „Wie geht es dir?“, sondern „Wie geht es deiner Seele?“ Hier habe ich für meinen späteren Beruf gelernt, wie man es nicht machen soll. Meine Lehrzeit von 2 ½ Jahren ging zu Ende, und ich musste als Gesellenstück vier Kutschenräder anfertigen. Sie wurden für gut befunden, und ich wurde frei gesprochen.

Inzwischen war ich auch in dem Alter, dass ich meiner Militärpflicht genügen musste. Bei der Musterung wurde ich für tauglich befunden und sollte zur Feldartillerie. Aber ich war bereits überzählig und wurde in diesem Jahr nicht mehr eingezogen. So fuhr ich zu einer befreundeten Familie nach Wuppertal. Im Frühjahr wollte ich mit meinem Freund Wilhelm auf Wanderschaft gehen.

In dieser Zeit lernte ich meine spätere Frau Lina kennen. Wir ahnten damals noch nicht, dass wir 10 Jahre warten müssten, bevor wir heiraten könnten. Im Frühjahr marschierte ich mit meinem Freund Wilhelm über Nassau, Ems, Koblenz bis nach Köln. Wir haben uns nirgends lange aufgehalten. In Bonn schliefen wir in einer sehr schönen, sauberen und nett gehaltenen Herberge. In Köln bekamen wir beide Arbeit, ich in einer Wagenfabrik, Wilhelm in einer größeren Tischlerei. Wir bewohnten gemeinsam ein Zimmer. Später wanderten wir nach Düsseldorf. Ich nahm dort Arbeit in einer Wagenfabrik an. Hier machte ich auch die erste Bekanntschaft mit den Gewerkschaften, da die älteren Gesellen mich in die Versammlungen mitnahmen.

Im Januar 1891 erreichte mich plötzlich der Befehl, mich beim Infanterieregiment in Diedenhofen in Lothringen zu melden. Ich verließ Düsseldorf und nahm meinen Weg über die Heimat. In Koblenz besichtigte ich eine Filiale der Scheurener Anstalten in Langau, wo Lina inzwischen als Gehilfin eingetreten war. Nach einem Fußmarsch von 10 Stunden erreichte ich Wiesbaden, wo ich mich bei der Bezirkkommandantur meldete. Ich wurde einem Gefreiten übergeben, der mich nach Mainz brachte. Am nächsten Morgen fuhr ich durch die Pfalz nach Diedenhofen. Die Kompanie war bereits seit drei Monaten in der Ausbildung, und ich war als Ersatz für einen Mann eingezogen worden, der dienstuntauglich geworden war. So wurde ich nachträglich alleine ausgebildet. Das Regiment war vor einigen Jahren aus ostpreußischen Offizieren und Unteroffizieren zusammengestellt worden. Die Namen waren für mich unaussprechlich. Die Ausbildung war wirkliche Soldatenschinderei. Ich musste dann auch für einige Wochen wegen einer Fußwunde ins Lazarett. Im zweiten Dienstjahr wurde ich zur Schießschule nach Spandau versetzt. Hier hatte ich auch Gelegenheit, Berlin kennen zu lernen. Die Dienstzeit dauerte damals drei Jahre. Ich wurde später jedoch noch einmal zu einem Kaisermanöver eingezogen.

Nach der Wehrpflicht nahm ich in Koblenz wieder Arbeit in meinem Beruf als Stellmacher auf. Meinen Beruf hatte ich gern und stand nun vor der Wahl, diesen weiterzuführen oder zur Mission zu gehen. In Koblenz kam ich in einen Kreis junger Männer, die mich dazu drängten, in die Diakonenanstalt Duisburg einzutreten. Ich ließ mir von dort Unterlagen schicken. Doch die Ausbildung für die Krankenpflege behagte mir nicht. Anlässlich meiner Besuche bei Lina kam ich auch mit Diakonen des Rauhen Hauses zusammen, die mir rieten, mich beim Rauhen Haus zu bewerben. Auf meine Anfrage erhielt ich die Antwort, ich solle sofort nach Hamburg zur Vorstellung kommen. Doch dazwischen kam die Aufforderung, beim Kaisermanöver mitzumachen, so dass ich erst danach zur Vorstellung nach Hamburg kam.

Direktor Johannes Wichern (Johann Hinrichs Sohn war seit 1873 Vorsteher) wünschte, dass ich noch zur Feier des 60. Jahrestages am 12. September 1893 in Hamburg sein sollte, da dies eine bleibende Erinnerung für mich sein würde. So traf ich am 11. September 1893 in Hamburg ein. Damit hatte ein neuer bedeutender Abschnitt meines Lebens begonnen.

Die Zeit im Rauhen Haus

Bei mir stellte man fest, dass ich vom Lande sei und deshalb gut mit einem Fuhrwerk umgehen konnte. So bekam ich einen wunderschönen Esel und einen Eselwagen anvertraut und durfte ein halbes Jahr lang das gute Trinkwasser aus einem Brunnen der Koppel in die Anstalt fahren, da das Leitungswasser nicht zu trinken war. Meine Eselin Flora habe ich in guter Erinnerung behalten.

Zu unserer Ausbildung gehörte auch eine Gehilfenzeit in einer auswärtigen Anstalt, die in der Regel zwei Jahre dauern sollte. Ich wurde zu diesem Zweck in die Arbeiterkolonie Kästorf bei Gifhorn geschickt. Dort waren 250 Plätze für Leute, die im Leben gestrauchelt waren und hier einen neuen Anfang wagen wollten. Die Männer fanden Beschäftigung in den Werkstätten, aber auch bei der Urbarmachung weiter Heideflächen. Als ich hinkam, bestand die Kolonie bereits 12 Jahre, und wir hatten zu dieser Zeit 1.500 Morgen Land urbar gemacht. Drei Pferde- und drei Ochsengespanne waren für die Bearbeitung dieser Flächen nötig. Ich hatte den Innendienst zu versehen mit Aufnahme, Entlassung und persönlicher Betreuung der Kolonisten, während die anderen drei Gehilfen Außendienst hatten und mit den Kolonisten draußen arbeiten mussten. Der Leiter der Anstalt war Diakon Kuhlmann vom Rauhen Haus. Von ihm habe ich viel gelernt. Ich musste die Werkstätten beaufsichtigen, das Material herausgeben, die Fleischportionen abwiegen und anderes mehr. Um 5 Uhr morgens begann mein Dienst, der bis in den späten Abend hinein dauerte, bis die Leute im Bett waren. Viele der Kolonisten hatten schwere Zuchthausstrafen hinter sich. Trotzdem bin ich gut mit ihnen zurecht gekommen. Wenn es Schwierigkeiten gab, haben mir meistens die anderen Kolonisten geholfen. Nach 1 ½ Jahren wurde ich vom Rauhen Haus wieder angefordert. Der Hausvater in Kästorf war nicht sehr erfreut darüber und sagte: „Wenn ich einen guten Gehilfen habe, so kommt er nach 1 ½ Jahren wieder weg, habe ich aber einen schlechten, so muss er 3 Jahre bleiben.“

In diese Zeit fiel auch der Tod meines Bruders Christian im Frühjahr 1895. Meine damalige Freundin Lina hatte ihn öfter im Krankenhaus besucht und mir geschrieben, ich möchte ihn doch noch einmal besuchen kommen. So bin ich dann nach Wiesbaden gefahren und fand ihn sehr krank.

Ich kehrte ins Rauhe Haus zurück und sollte meine theoretische Ausbildung beginnen. Aber es dauerte nicht lange, da fehlte eine Kraft, die landwirtschaftliche Kenntnisse hatte und mit den Landwirtschaftslehrlingen umgehen konnte. Diese Kraft sollte ich sein. In Jenfeld neben dem Exerzierfeld der Wandsbeker Husaren hatte das Rauhe Haus 150 Morgen Land. Außer zwei Knechten, welche die Pferdegespanne führten, wurden auch die Ökonomielehrlinge eingesetzt. Es waren 20 junge Leute im Alter von 16 bis 20 Jahren. Sie kamen meistens aus den sogenannten höheren Ständen; viele Adlige und Söhne von Offizieren, Kaufleuten und Gutsbesitzern waren darunter. Die Landwirtschaft des Rauhen Hauses war damals in Deutschland ein Begriff, da wir Versuchsfelder für künstliche Düngung hatten. Die theoretische Ausbildung wurde von Dr. Ullmann durchgeführt. Der Kunstdünger wurde von den Fabriken kostenlos zur Verfügung gestellt, aber wir mussten die Verarbeitung des Düngers und die Ernteergebnisse schriftlich genau festhalten. Das war eine sehr schwierige Arbeit, jedoch für die Jungen sehr lehrreich. Ich kam sehr gut mit ihnen zurecht und stand später noch lange mit einigen von ihnen im Briefwechsel. Für mich war die Zeit sehr anstrengend. Im Sommer mussten wir um 5 Uhr raus, im Winter um 6 Uhr. Bald nach dem Frühstück ging es aufs Feld, eine halbe Stunde Weg. Dort arbeiteten wir bis Mittag. Nach dem Mittagessen fuhren wir wieder hinaus und arbeiteten bis zum Abend. Zur Arbeit kamen also jeden Tag zwei Wegstunden hinzu, dazu dann noch abends die Arbeit in der Familie, das Ganze beinahe 4 Jahre lang. Ich wurde nicht abgelöst, so dass ich den Unterricht, den Johannes Wichern persönlich erteilte, nicht, wie meine Kameraden, ordentlich besuchen konnte. So halfen sie mir abends, das am Tage Durchgenommene nachzuarbeiten.

Das ganze Leben im Rauhen Haus war mir lieb geworden und hat mich tief geprägt. Die religiöse Wärme war unaufdringlich, aber immer gegenwärtig. Die Morgen- und Abendandachten im Betsaal, die Wichern sehr oft selbst hielt, haben meinem Leben die Richtung gegeben. Besonders eindringlich wusste Wichern die Festzeiten, besonders die Weihnachtszeit zu gestalten. Sehr schön war es, wenn in der Adventszeit jeden Sonntag auf dem Kronleuchter ein Licht angesteckt wurde. Wir hatten einen kleinen und einen großen Knabenchor, die sehr schön sangen. Etwa 10 Tage vor dem Fest zogen die Jungen in den Wald, um Moos und anderes Material für den Bau einer Krippe zu holen, die der Sattler Colditz mit Pappe ausgekleidet hatte. In der Adventszeit zog der kleine Chor mit seinen Liedern auf Betteltour zu den Kaufmannsfamilien, die dem Rauhen Haus nahe standen und führte eine Sammelbüchse mit sich. Sie brachten oft reiche Geldbeträge heim. Außerdem hatten die Familien des Rauhen Hauses auch Patenschaften bei bedürftigen Leuten in der Stadt übernommen, die sie zu Weihnachten beschenkten. Diese Bescherten hatten dabei nicht den Eindruck, dass sie Nehmende waren, sondern dass sie geehrt wurden. Am Heiligen Abend gingen alle Jungen zur Christmette in die Hammer Kirche. Während dieser Zeit baute der Familienbruder den Gabentisch auf. Die Gaben stammten meistens von den Eltern. Wo Eltern nichts schicken konnten, stiftete das Rauhe Haus Geschenke aus Spenden, so dass sich kein Junge zurückgesetzt zu fühlen brauchte. Frau Wichern sorgte als gute Hausmutter dafür, dass für jeden Jungen das Fest zu einem Freudentag wurde. Nach dem Festessen kam die Bescherung der Brüder. Die Knaben, etwa 300 an der Zahl, wurden derweil für eine Stunde in der Turnhalle versammelt. Ein Bruder las ihnen eine weihnachtliche Geschichte vor und sang mit ihnen. Das war keine ganz leichte Aufgabe, die ich auch einmal zu erfüllen hatte. Die Bescherung der Brüder nahm Frau Wichern selber vor. Wir bekamen praktische Dinge, wie Bücher, Wäsche und dergleichen. Wer bei dieser Gelegenheit einen Reisekoffer bekam, konnte annehmen, dass seine Entsendung in naher Zeit bevorstand. Der erste Feiertag verlief still. Am zweiten Feiertag wurde ein Rundgang durch die Anstalt gemacht und die Krippen in den Familien besichtigt. Die Familie mit der schönsten Krippe bekam ein Geschenk als Prämie.

Ich war nun 29 Jahre alt und seit 5 ½ Jahren im Rauhen Haus. Es bestand die Vorschrift, dass sich kein Bruder verloben durfte, bis seine Entsendung in Aussicht stand. Als ich eintrat und von Wichern gefragt wurde, wie es damit bei mir stünde, sagte ich ganz offen: „Verlobt bin ich nicht, aber ich weiß bereits, mit wem ich mich einmal verloben werde, wenn es soweit ist.“ 1893 war ich ins Rauhe Haus eingetreten. Nach vier Jahren, 1897, erhielt ich die Genehmigung, mich zu verloben. Ich fuhr dafür nach Wiesbaden zu meiner Braut. Wir kannten uns nun schon über 7 Jahre. Jetzt, nach 5 ½ Jahren, sollte ich ins Syrische Waisenhaus nach Jerusalem berufen werden. Dazu war jedoch Bedingung, dass ich noch einige Jahre unverheiratet bleiben sollte. Mit Rücksicht darauf, dass wir nun schon so lange aufeinander gewartet hatten, musste ich dieses Angebot jedoch ablehnen, und Wichern verstand es und sandte einen anderen Bruder in diese Stelle. Nach einiger Zeit wurde aus Bremen ein Stadtmissionar verlangt.

Stadtmissionar in Bremen – ab 1.05.1899

Ich hatte an alles andere eher gedacht, als Stadtmissionar in einer Großstadt zu werden. Wegen meiner praktischen Begabung hatte ich mit einer Heimleitung gerechnet, auch schon im Hinblick auf meine Verlobte, die ja in diakonischen Anstalten gearbeitet hatte. Aber es half alles nichts. Wichern sagte: „Sie fahren nach Bremen und stellen sich vor, und es wird schon gehen.“ So fuhr ich im Februar 1899 nach Bremen und suchte den dortigen Vorstand auf. Einen Inspektor der Inneren Mission gab es damals noch nicht. Pastor Cuntz von St. Pauli (Neustadt) vertrat die Sektion Stadtmission. Ihn besuchte ich zuerst. Als er hörte, dass ich aus Nassau sei, sagte er: „Da komme ich auch her.“ Und damit war die Sache eigentlich in Ordnung. Weiter sagte er zu mir: „Setzen Sie sich auf Ihr Sofa.“ Als ich ihn fragend ansah, erwiderte er: „Dieses Sofa schenke ich Ihnen für Ihren künftigen Haushalt.“ Damit hatte ich nicht nur eine Anstellung gefunden, sondern auch ein Sofa. Es war ein altes Stück mit einem defekten Überzug, aber mit einem wundervollen Gestell, um welches ich später oft beneidet wurde.

Aber es hatte noch der Vorsitzende der Inneren Mission in Bremen, Landgerichtsdirektor Carstens, sein Ja-Wort zu geben. Ich suchte ihn auf. Er war der typische vornehme, gütige Bremer Richter, der schon durch seine ganze Persönlichkeit Ehrerbietung erheischte. Er ließ mich in einen Schaukelstuhl neben seinem Schreibtisch setzen. Das Biest wollte gar nicht stillstehen und irritierte mich, während ich aus meinem Leben erzählen sollte. Ich wurde dann freundlich mit dem Bescheid entlassen, dass ich bald wieder von ihm hören werde. So erfolgte dann auch meine Berufung zum 1. Mai 1899 als Stadtmissionar in Bremen, wo ich den Bezirk Gastfeldstraße übernehmen sollte.

Diesen Bezirk hatte bisher Bruder Konrad Drojewski betreut, aber nun einen neuen Bezirk in der Bahnhofsvorstadt übernommen. Da er aber zunächst noch die zu meinem neuen Bereich gehörige Wohnung in der Kinderbewahranstalt inne hatte, nahm ich vorläufig meine Wohnung in der Herberge 2 an der Schlachte. Hier hatte ich ein kleines Zimmer mit einem Bett und dazu meinen Schließkorb, was mir völlig genügte. Bald zog ich aber zu Bruder Palm in die Süderstraße, bei dem ich Wohnung und Verpflegung hatte, auch dann noch, als Drojewski die Wohnung frei gemacht hatte. Das erste Halbjahr wurde als Probezeit angesehen, und bis dahin musste ich unverheiratet bleiben. Bruder Palm hatte ich bei meinem Eintritt ins Rauhe Haus kennen gelernt. Er war Gehilfe in der Arbeiterkolonie Lühlerheim und dann später als Stadtmissionar nach Bremen berufen worden. Ich hätte damals nicht gedacht, dass wir uns hier in Bremen wieder treffen würden.

Bruder Drojewski sollte noch 14 Tage mit mir zusammen sein und mich einführen. Er redete den ganzen Tag so auf mich ein, dass mir abends der Kopf weh tat. Er meinte es gut und war überzeugt, dass er mir damit einen großen Dienst tun würde. Wir besuchten viele Leute, auf die es in der Arbeit besonders ankam. Dazu gehörten die zwei Pastoren der St. Pauli- und der Jacobi-Gemeinde, sowie auch andere Pastoren, die mit uns zusammen arbeiteten. Er erklärte mir auch den Unterschied zwischen den lutherischen und den reformierten Gemeinden. Ich sollte mir alles notieren und möglichst auswendig lernen. Dies hielt ich jedoch für höchst überflüssig, aber es musste zunächst geschluckt werden. Beim Besuch eines Bauern, der sehr wortkarg war, sagte Drojewski zu mir: „Wenn du aus dem fünf Worte herausbekommst, kannst du etwas.“ Wir kamen hin, bekamen ein Glas Wein vorgesetzt, und Drojewski führte das Wort. Der Bauer nickte nur und schwieg still vor sich hin. Beim Hinausgehen fragte ich den Bauern, ob er mir nicht einmal seinen Viehstall zeigen wolle, ich sei vom Lande und hätte Tiere gern. So kam ich mit dem wortkargen Bauern in ein anregendes Gespräch über das Vieh.

Ich hatte die Aufgabe, in Gemeinschaft mit den Pastoren Cuntz und Leipold von St. Pauli die Vereine, Gemeindekreise und Kindergottesdienstarbeit zu übernehmen. So hatte ich einen Jünglingsverein, einen Bläser- und einen Männerchor. Der Anfang war nicht leicht. Ich hatte wohl ein Gefühl für Musik, aber mir fehlte die Ausbildung. So musste ich jede freie Stunde einsetzen, das Fehlende nachzuholen. Im Kindergottesdienst hatte ich den alten Auswanderermissionar Krone zur Hilfe. Gleichzeitig mit der Arbeit in der Gastfeldstraße hatte ich auch meinen Dienst an der St. Jacobi-Gemeinde. Während ich in der Gastfeldstraße mit Pastor Müller zu tun hatte, war ich hier mit Pastor Valkmann zusammen. Wir wechselten uns mit den Bibelstunden ab, und zwar einmal im Gemeindehaus der Jacobi-Gemeinde, zum anderen in der Schule Kattenturm.

Da man in Bremen mit meiner Arbeit zufrieden war, stand unserer Verheiratung jetzt nichts mehr im Wege. Meine Braut, die eine verantwortliche Stelle in einem Haushalt in Wiesbaden hatte, war im Sommer 1899 nach Hause gegangen, um ihre Aussteuer fertig zu machen und alles für die Übersiedlung nach Bremen vorzubereiten. Die Hochzeit sollte in der zweiten Septemberhälfte stattfinden. Da erhielt ich plötzlich die Nachricht, dass die Mutter meiner Braut an Herzschlag verstorben war. Unglücklicherweise lag ich mit einer Magen-Darm-Erkrankung im Bett, machte mich aber trotzdem auf die Reise nach Koblenz, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Nach der Beerdigung berieten wir, wie wir es mit der Hochzeit halten wollten. Wir fanden es richtig, uns dort in Koblenz ganz still trauen zu lassen und anschließend nach Bremen zu fahren. Unsere Papiere waren bereits in Ordnung, so dass dem nichts mehr im Wege stand. So wurden wir also am 12. September 1899 in aller Stille getraut. Die standesamtliche Trauung war wenig feierlich. Der Standesbeamte saß mit seiner Pfeife in seinem Amtszimmer und die Formalitäten waren ein reiner Aktenvorgang. Er zog noch einmal kräftig an seiner Pfeife, dann traute er uns und freute sich, dass die Pfeife danach noch brannte. Um so angenehmer war für uns die kirchliche Trauung, zumal ja dieser Pfarrer wenige Tage vorher unsere Mutter beerdigt hatte. Wir besuchten noch einmal alle Verwandten und Bekannten in der Umgebung und fuhren dann über Elberfeld nach Bremen. Hier wurden wir durch einen großen Empfang überrascht. Der Bläserchor brachte uns ein Ständchen, und die Frauengruppe unter Leitung von Frau Baronin Uexküll hatte unsere Küche mit allen Lebensmitteln versehen, die für einen Anfang notwendig waren. Schon nach kurzer Zeit hatte man festgestellt, dass Lina die richtige Frau für einen Stadtmissionar sei. Meine Frau besuchte die Armen des Bezirkes. Es war ein schöner Anfang unserer gemeinsamen Arbeit. So wohnten wir nun zusammen bis zum 1. April 1901 im Hause der Kinderbewahranstalt in der Gastfeldstraße, auch noch, als unser erstes Kind schon geboren war. Dann siedelten wir in das Vereinshaus der Inneren Mission, Süderstraße 30a, um. Hier haben wir 43 Jahre lang unseren Dienst getan und Freud und Leid in Familie und Beruf gemeinsam durchlebt, bis unser Haus am 6. Dezember 1944 vernichtet wurde. Im Parterre war unsere Wohnung, bestehend aus vier Zimmern. In der ersten Etage befand sich der Saal für Versammlungen. Daneben gab es noch einige Abstellräume und zwei kleine Zimmer im Dachgeschoss, die von unseren Kindern bewohnt wurden. Das Haus, in dem sich einmal eine sogenannte Klippschule befunden hatte, war 1856 in einem verwahrlosten Zustand von der Inneren Mission gekauft worden, um es als Vereinshaus zu nutzen.

So gingen zwei Jahre dahin. Da sollte Bruder Palm, der die Stadtmissionsarbeit in der Süderstraße betrieb, als Vorsteher das hiesige Altenheim übernehmen und musste ersetzt werden. Pastor Cuntz, der mich gerne in der Süderstraße haben wollte, setzte es durch, dass ich die dortige Arbeit übernahm und Felix Hoffmann in die Gastfeldstraße versetzt wurde. Mein Hauptarbeitsgebiet war nicht in der Süderstraße, sondern zog sich mehr zum Hohentor hin, einem aufblühenden Vorort. Dort wurde unter Leitung von Pastor Cuntz, dem Ehepaar Uexküll und mir als Stadtmissionar, der Aufbau einer eigenen Kirchengemeinde vorangetrieben. 1907 kam es zum Bau des Pfarrhauses, später auch der Kirche.

Unser Familienleben

Nach unserer Hochzeit am 12. September 1899 wohnten wir die ersten zwei Jahre unserer Ehe in der Gastfeldstraße, wo auch am 10. August 1900 unser Sohn Gustav geboren wurde. Am 1. April 1901 zogen wir in die Süderstraße. Pastor Cuntz half uns kräftig beim Umzug. Unser kleiner Gustav blieb den Tag über bei Pastor Müller. Das neue Haus befand sich in einem sehr schlechten baulichen Zustand. Als Beleuchtung hatten wir Gaslicht mit zwei offenen Gasflämmchen, die in der Mitte des Zimmers aus zwei Röhren von der Decke hingen. Nach wenigen Wochen sah unsere Wohnung aber schon anders aus. Die Fenster bekamen Gardinen und an Stelle der offenen Gasflämmchen schafften wir uns Gasglühlicht an, damals ein Fortschritt.

Die Näherinnen der Inneren Mission waren mit in unserer Wohnstube untergebracht, so dass unsere Familie noch sehr eingeengt war. Damals gab es in der Neustadt noch keine Spülklosetts, sondern nur das Tonnensystem. In einem kleinen Anbau hinter der Waschküche war der Standort der Tonne. Dahin musste alles, was in unserem Hause ein und aus ging, zur Toilette – durch unsere Küche. Wenn wir abends größere Kreise hatten, reichte die Tonne natürlich nicht aus, denn sie wurde nur alle drei bis vier Tage abgefahren. Das war für ein Vereinshaus natürlich eine Unmöglichkeit. Wenn die Tonne vor der Abfahrt voll war, musste der Inhalt manchmal im Garten eingegraben werden. Eine reichlich gefüllte Tonne führte zu Auseinandersetzungen mit den Abfuhrleuten. Wir mussten dann mit Zigarren und Trinkgeldern nachhelfen. Als im Jahre 1904 das Haus renoviert wurde, bekamen wir zwei Spülklosetts, eins unten, eins oben. Durch einen kleinen Umbau wurde auch eine Teeküche für die Bewirtung der Heimbesucher eingerichtet. Der Nähverein konnte in dem großen Saal untergebracht werden, so dass wir unsere Wohnung endlich für uns hatten.

Am 3. November 1901 wurde unsere Elisabeth geboren. Es war an einem Sonntag. Am Vormittag hatte ich noch mit dem Chor der St. Pauli-Kirche geübt, und am Nachmittag veranstalteten wir einen Musiknachmittag im Altenheim. Als ich den Chormitgliedern sagte, dass ich inzwischen Vater eines zweiten Kindes geworden sei, wollten sie es nicht glauben. Niemand hatte bemerkt, dass bei uns ein solches Ereignis bevorstand, nicht einmal die Damen vom Nähverein, die sonst alles sehr schnell spitz bekamen, was bei uns im Hause passierte.

Meine Frau war jetzt mit beiden Kindern reichlich überfordert, zumal sie abends auch noch in den Vereinen tätig war. Der Vorstand hatte ein Einsehen und stellte uns die Mittel für die Anstellung einer Reinigungskraft zur Verfügung. So vergingen 10 schöne Jahre.

Wir hatten einen wundervollen Garten hinter dem Hause, und so blieb es unseren Kindern erspart, die Straße als Spielplatz benutzen zu müssen. Schwer war es allerdings für unsere Kinder, mit ansehen zu müssen, wie andere Eltern sonntags mit ihren Kindern spielten, während ich immer dienstlich gebunden war. Zum Ausgleich habe ich mich immer bemüht, den Montag als „Pastorensonntag“ für meine Familie frei zu halten, den wir vielfach zusammen mit anderen Berufskollegen und deren Familien verlebten.

Bedrückend war für uns, dass unsere Tochter eine Gehbehinderung hatte, die nur von einem „berühmten Arzt“ in Hannover kuriert werden konnte. Die Trennung fiel unserem Kind sehr schwer. Auch die Kosten für die Heilung waren sehr erheblich, aber die Innere Mission hat uns eine großzügige Unterstützung gewährt, zumal ich ja nur ein geringes Gehalt bekam. Unsere Tochter konnte anschließend mühelos größere Wanderungen mit uns unternehmen.

Unser Sohn kam mit 6 Jahren in die St. Pauli-Kirchspielschule. Sein erster Lehrer hieß Wilhelm Hax, der Sohn des ersten Stadtmissionars in der Süderstraße. Auch von der Lehrerin war er so begeistert, dass er sie vom Fleck weg heiraten wollte. Später besuchte er eine private Vorschule zur Vorbereitung auf die höheren Schulen in der Brautstraße. 1920 kam er in die neu eröffnete Realschule der Neustadt, und da er gute Anlagen zeigte, später auf das Realgymnasium in der Kaiser-Friedrich-Straße. Mit unserer Tochter ging mir der Schulunterricht nicht schnell genug und ich wurde oftmals sehr ungeduldig. Meine Frau sagte dann immer: „Geh du man an deine Arbeit, und lass mich das machen.“ Ich merkte dann, dass ich für diese Aufgabe zu ungeduldig war. Mit vereinten Kräften schafften wir es dann doch, dass sie in die Vietor-Schule aufgenommen wurde, in welcher sie sich bald zu einer der besten Schülerinnen empor arbeitete. Später kam sie auf das Oberlyzeum und wollte gern Lehrerin werden. Das war die erste Serie unserer Kinder.

1911 und 1915 kam die zweite Serie hinzu. Die Großen waren über die Neulinge sehr erstaunt, aber bald nahmen sie sich unserer Kleinen mit Liebe an. Sie haben uns bei der Erziehung fleißig unterstützt und hingen mit großer Liebe an ihren Geschwistern. Wir Eltern, die wir ja unsere Arbeit in der Gemeinde hatten, sind ihnen dafür zu großem Dank verpflichtet.

Sorgen machten uns oft die Kinderkrankheiten, zumal es damals noch nicht, wie heute, die geeigneten wirksamen Medikamente gab. Ich selbst konnte die Sorge nicht los werden, wie weit ich unsere Kleinen noch ins Leben hineinführen könnte, zumal ich damals ja bereits 46 Jahre alt war und meine Gesundheit auch nachließ. Vermehrt wurden unsere Sorgen dadurch, dass ihre Jugend gerade in die Kriegszeit 1914-1918 fiel. 1916 war ein Hungerjahr, und ich fuhr oft mit meinen Kindern mit einem Handwagen auf die Parzelle, um etwas Gemüse zu ernten. Meine Frau musste bei vier Kindern das Brot sehr genau einteilen.

Mit meiner Gesundheit stand es nicht zum Besten. Ich litt an einer Magen- und Darmstörung. Der Arzt schickte mich zu einer Kur nach Bad Meinberg, aber hier verschlimmerte sich mein Leiden durch die schwefelhaltige Quelle noch mehr. Professor Dr. Stoevesandt stellte mir dann ein geeignetes Diätrezept zusammen, so dass ich dadurch viele Jahre ohne Beschwerden war.

1939 holte ich mir einen Beckenbruch, als ich beim Anbringen der angeordneten Verdunkelung von der Leiter fiel. In den vielen kalten Nächten im Luftschutzkeller holte ich mir 1944 eine Lungenentzündung. Seltsamerweise blieb ich dann in meinen späteren Lebensjahren bis ins hohe Alter hinein völlig gesund.

Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses

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