Читать книгу Die doppelköpfige Nymphe - Kasimir Edschmid - Страница 5
2. Marginalien zur Kritik
ОглавлениеKritik heißt nie: über eine Sache reden, sondern über ihr stehn. Nicht sie zerfasern, sondern ihr gütig nahen. Kritik heißt nicht wahlloses Urteil, sondern sie verlangt große Politik. Die Kritik unserer Zeit ist noch nicht erfunden. Ihr Niveau ist eine Unerträglichkeit. Auf keinem Gebiet der geistigen Disziplinen würde gewagt werden, mit solcher Verantwortungslosigkeit vorzugehen. Zur Kanarienvogelzucht, zu Petroleumtrusts würde nie ein Laie delegiert. Über Bücher schreibt jeder Dilettant. Doch selbst Fähigkeiten genügten nicht. Es bedarf des Menschen. Denn Kritik heißt Aufbau. Nicht Zerstörung. Heißt Liebe haben und nicht Haß. Dies ist das Zentrum. Nur eine große Persönlichkeit kann die ungemeine Verantwortung tragen, Kritik ist nichts Artistisches. Es ist eine humane Angelegenheit. Es ist der sicherste und direkteste Weg zur Kultur. Denn ihr Sinn ist, Niveau zu schaffen. Aus Liebe das Ungenügende zu zerstören, aus Liebe das Große immer wieder zu betonen. Das Wichtige zu plakatieren. Immer Diener sein der eigenen Verantwortung. Durch keinen Zweck der Person, durch keinen Gewinn, keine Frau, keinen Ehrgeiz gestört, getrübt zu werden. Nicht im Zeitlichen stehen bleiben, nicht dem Augenblicksreiz unterliegen, sondern immer das Momentane messen an der Verantwortung. Aber den Geist der Zeit fördern. Zeigen, daß Pazifismus nötig ist, aber noch lange nicht Rechtfertigung eines mißlungenen Gedichts. Aber kühn behaupten, daß Hölderlins Hymnen ein ungeheures Ethos tragen ohne einen zeitlichen Gehalt. Immer die Idee der Qualität als das Letzte nehmen. Den expressionistischen Nachläufer stäupen, den besseren Impressionisten unseres Tages bedauern, aber loben. Immer den Weg finden aus Zeit und Unzeit zur ewigen Prägung des Fürstworts. Feurig sein gegen das Gesinnungslose, kühl gegen Anmaßung. Fehler bekennen. Immer Linie halten. Nie den großen Dichter um Kleinigkeiten tadeln, während den Nebbich man laufen läßt als das, was er ist. Vielmehr auf das Wichtige sehen. In jahrelanger Arbeit nie den Lesenden verwirren, sondern ihn erziehen. Kritik ist im allerletzten und bedeutendsten Sinne Aufbau, Architektur, Arbeit am Leib des Volkes. Es bedarf nur neuer Rasse, das Werk zu machen. Radikal zu sein im Dienst am Geist. Klug wiederum mit Bescheidenheit auf vieles Wissen, da es nichts ist als Voraussetzung. Göttlich streitbar für Junges, ohne es innerlich zu überschätzen. Ohne literarische Geste, ohne Kunst zu wichtig zu nehmen, aber wissen, das alles groß Erlebte in sie zurückströmt. Vieles gesehen haben, das Meiste kennen und Menschliches verstehen in seinen Wurzeln, Fehlern und Güte — und dann zu richten . . . eine Aufgabe von solcher Humanität ausüben, ja allein auf diesem Boden der Gesinnung zu stehen, dazu bedarf es so ungewöhnlicher Menschlichkeit, daß es nicht erstaunt, heute keine Urteilenden gerecht am Werke zu sehen. Ist der neue Mensch geschaffen mit Einkehr, Lust an der kämpfenden Liebe und Hingabe am Werk, wird eine Generation von Kritikern aufstehn. Keine Eitelkeit wird mehr Triebfeder sein, kein geistiger Imperialismus Ziel, Diktatur nicht der Zweck, sondern ameisenhafte Arbeit an der Größe und Aufgabe. Und so Kultur und eine Tradition guten Sinnes. Und eine nicht zerstörerische und idiotische Kritik, sondern eine schöpferische, helfende, keine Analyse, sondern eine dauernde Tat.