Читать книгу Die doppelköpfige Nymphe - Kasimir Edschmid - Страница 6
3. Schnitzler und die Nerven-Zerfetzer oder der psychologische Roman
ОглавлениеWas dem deutschen Roman fehlte, war europäische Fülle. Kleine Kritiker und sentimentale Idioten wagten daraus ein besonderes Lob zu gestalten. Seien wir gerecht. Grimmelshausen war noch eine große Sache und die mitteldeutsche Epik hatte wundervollen Weltstoff. Er ging verloren, verhüllte sich in Autobiographisches, und die Schicksalsrinne persönlicher Lebenskurven riß nicht Welt und Dasein in sich hinein. Die Felder der Prosa wurden nicht durchpflügt, sondern schraffiert. Eine Tradition war es wahrlich nicht, lief der Individualwahnsinn von Meyer bis Stehr, sondern es war Impotenz und Entsagung, Nichtkönnen, das sich kühn mit dem Trotz des Nichtwollens frisierte. Außenseiterei proklamierte sich als Typus und Wächter der heiligen Seelenfeuer der Deutschen und höhnte die großen Einsamen, die es im Wesenlosen, wohin es irgendwie in seiner Vereinsamung geflüchtet, suchten. Ehrlicher und anständiger ist das Geständnis, gefehlt zu haben und unvermögend gewesen zu sein, in Jahrzehnten den Geboten des Geistes zu folgen. Die Gründe ergeben sich von selbst.
Denn Stil der Kunst und des Lebens folgert sich nicht aus Stil selbst, sondern aus drängenden harmonischen Kräften, die durchblutend dahinterstehen. Die sind in Europa sonst nicht selten, Frankreich und Rußland, Österreich besitzen sie ohne Zweifel. Vielleicht hat das militaristische Preußen damit sogar Fontane gemacht, jedoch als Korrektor nur der Unzulänglichkeit. Sonst war Deutschland dazu nicht mehr in der Lage. Die Tradition der Bayern, Badenser und Schwaben war doch nicht kosmisch genug, um Weltliteratur zu machen, und brachte nur eine epigonenhafte Lokaldichtergarde hervor, die Gewohnheiten, jene faule Mischung von Denkunvermögen und Bequemlichkeit, für Stil, für stürzende und gestaltende Kraft hielten. Auf Frau Supper, Herrn Finkh, Herrn von Bodmann braucht die deutsche Literatur nicht stolz zu sein. Aus dem Grabe des immerhin großen Gottfried Keller saugen sie noch etwas vermodernde Kraft. Was diskutabel ist in dieser Folge ist Hesse, der, wenn auch Nachfolger auf diesem Gebiet der Schreibweise, dennoch mit einer süddeutschen Idyllischkeit und einem Anstand seltener Gesinnung weit über Nur-Literarisches hinausreicht. Er ist einer jener Deutschen, die, wenn auch Formung von Welt und Schicksalsbreite und Tiefe ihnen fernliegt, eine fast klassische Schönheit erreichen, tauchen sie in die Jugendzeit zurück. Man muß das ganze Werk dann ansehn und das Leben einer schon langen künstlerischen Gesinnung. Ausmaß zu großen Schaffenskomplexen haben noch andere hinter Keller her. Carl Hauptmann zerlegt es in oft zart und süß, aber immer zerfahrene impressionistische Gefühle. Stehr, der tatsächlich manchmal wahrhaft Durchleuchtendes hat, ist einer der schlechtesten Könner, obwohl’s bei ihm aufs große Maß hinausgeht, und kann Naturalistisches und Visionäres nie zusammenbringen. Er hat stets zittrige Hände, es wird nie was draus. Schaffner zöge gern reflektierend den Gedankenkreis der Epoche ins Rollende der Handlung, allein er bleibt im Schatten, breit, langweilig, schwerblütig und Desperado seiner Impotenz. Der stärkste, männlichste unter ihnen ersteht in Wilhelm Schäfer. Hier staut sich das Kellerische noch einmal in einer dunklen maskulinen Glut und sucht Generation und Ewiges zu Architektur und jener Allgemeingültigkeit des Übernationalen zu formen. Dennoch steht es neben der Zeit, es ist zu unnatürlich beruhigt in einer Zeit der ekstatischen Suche. Es ist gute Tradition, jedoch nicht die des suchenden Geistes, sondern einer Lebensform, die heute vom satanischen Brodeln des Entwickelns nicht durchleuchtet ist, und später, wenn Klassisches, das heißt Klar-Gewordenes, wieder die Allgemeinschicht der Kultur sein wird, auch nicht typisch sein wird. Denn ruhig kann nur werden, was bewegt war. Und das andere wird kalkig sein, weil es stets besänftigt war, und nur in alten Venen ein feuriges Atmen noch einmal aufging. Das alles sind Künstler von manchen, manche von hohen Rängen des Könnens, aber nicht in jenen mystischen Konnexen vereinigt mit Weltgewissen und Weltdrehung, die irgendwie erst das Repräsentative schaffen.
Dazu gehört eine tiefere, saftvollere Verwurzelung. Nicht eine Fortzeugung der Form, sondern ein Wurzel-Haben im Wesenhaften, im Völkischen, im Bodenwasser, im Ideensaft der Volksschicht. Dazu gehört eine Kultur, nicht nur Tragfähigkeit und gummihafte Dehnung einer Schreib- und Anschauungsweise.
Mit der wachsenden Skepsis und inneren Hohlheit, mit dem Bewußtsein der negativen Gehalte der vergangenen Epoche begannen Zerstörungen an dem sinnigen Erzählungsaufbau der süddeutschen Klassiker. Die Skandinaven beeinflußten. Hamsuns Größe verstand man nicht, und wie van Gogh die Maler, hielten die Literaten ihn für einen Impressionisten, genau wie die fadenfeinen Dänen Bang und Jacobsen. Aus all dem gab es ein impressionistisches Gemisch mit Klugheit wie Bahr, mit Virtuosität wie Kellermann, mit Aperçus wie Altenberg. Mit den überraschend und überschätzt aufgenommenen Naturwissenschaften wurden die Seelen zu Präparaten geschlagen. Die Dichtung ging in Dienst, hatte chemische Aufgaben der Auflösung, medizinische der Diagnose. Krankheitsfälle wurden tatsächlich Thema der Darstellung. Von Ibsen zu Hans Heinz Ewers ist der Weg nicht weit. Wassermann rettete sein sehr großes Talent, das auch aus solcher geistigen Niederung vogelhaft hervorbrach.
Schnitzler rettete Wien, machte ihn repräsentativ.
Man hat im preußischen Deutschland gute Witze gehabt, Österreich zu unterschätzen. War die politische Kombination auch unmöglich, hatte es dennoch eine weit überlegene Kultur. Sagt man Rokoko, meint man die Harmonie der Dinge vom Bidet bis zur Tragödie. Sagt einer Wien, ergibt sich das Gleiche. Hier ist, ohne daß der Wert kalkuliert werden soll, Kultur, wovon die Deutschen keine Spur haben. Da und im bayrischen Gebirg’, in England, in Stockholm hat das Germanische sich Achsen seines Weltausdrucks geschaffen. Überall da ist Züchtung, ein erlesenes Prinzip am Werk, Leidenschaft, Landschaft, Gewohnheit und Geist und Menschen zu einer Einheit zu bringen, sie hautwarm durch die wechselnden Epochen zu tragen. Das Wienerische ist das Schwächlichste darunter, aber es ist eine ausgesprochene Sache. Theater, Speise, Mädchendessous und Mentalität und Gesellschaftsform haben denselben einenden Rhythmus. Reden die Preußen von ihren Kurfürsten, von friderizianischen Gesten, von Pflicht und Kaste und Geist, so ist das diese oder jene Attitüde, Schutzwehr, Kokettieren und Gepflogenheit einer Herrscherkaste, die manchmal sich in ihrer Einseitigkeit zu gewissen auffallenden Formen verdichtet hat, aber keine Breite hat, keine Lebensbasis, keine Volkssaftigkeit, eine vielleicht sehr bewundernswerte, aber schlechthin abscheuliche Sache ist. Was zwischen den Bergstämmen Bayerns, wo mystischer Saft des Bodens die Menschen groß in die Landschaft hineinformt, und Schweden liegt, ist Chaos, Unkultur. Es ist bewundernswert in seinem irren Laufen, seinen großen Heldentaten, seinen Opfern und Märtyrern, um deutschen Stil zu formen. Aber es ist noch nichts. Was die heutige Generation von früheren und von der ganzen Kellerschule scheidet, ist wesentlich die Idee, als breite Generation diesem Ziel dienend und neu zu leben.
Weil Schnitzler nur aus diesen Komplexen heraus begriffen werden kann, ist es schwer, ganz an ihn und seine Bedeutung zu kommen. Wie Männer nicht nach einmaliger Tat, Weiber nicht nach einer Umarmung, darf man ihn nicht nach dieser oder jener Äußerung betrachten, Die Einstellung würde läppisch und kindisch. Wie für den Mann Kriterium und Abschluß erst ein ganzes Leben ist, bei der Frau erst: sie ganz bis an die letzten Seelen- und Körperrände ausgenossen haben . . . . . so bei diesem Dichter erst das klingende, runde, massive, in die Hand genommene und gewogene Werk. Bedeutsam ist nicht ein Glied, sondern die ganze Anspannung. Tastet man so weiter, kommt aus vielem Verhüllten erst die Ahnung, später der Umriß, dann die glatte Form. Seine Tradition, sein Halt, seine Stadt, seine Kraft, das ist seine Atmosphäre, die er atmet, die ihn politisch umschnaubt, wehmütig verdunkelt, zärtlich verführt, Anregung und Erfüllung. Das ist Wien. Das ist seine Kunst. Milieu wie Figur. Außen und Durchdringung. Hingegebene und Geliebter. Gestaltung und Liebe. Also: sein Weltgefühl.
Natürlich macht der Wiener Körper sich die Welt entsprechend seinem Wuchs, es wird keine große Welt. Aber indem Schnitzler ihr Produkt ist, wird sie ausgeprägt, genau wie Paris sich Musset formt, und hinter Tschechows zarter, Schnitzler so naher graziöser und leichtfarbiger Welt die große Seelentraurigkeit des slavischen Ostens steht. Die Deutschen glauben oft großer Kultur nah zu sein, indem sie fremde imitieren, und die Männer sind stolz, tragen die Taillen ihrer Weiber den Rock, der nur den französischen Hüften angepaßt liegt. Man ist bei uns noch im großen Durchschnitt bei der Nachahmung, noch nicht einmal bei der Schulung. Die Österreicher und die Schwedinnen haben ihren eigenen Rock, irgendwie wohl westlich orientiert, aber irgendwie auch der Form des Lebens, des Charakters und der Schenkel organisch angepaßt. Und selbst die grauenhafte Verirrung der Wiener Werkstätten war immerhin in erschreckender Zeit der Formlosigkeit noch ein Stil.
So ist die Schnitzlersche Leistung unterschiedlich, kommt einmal heftig vom Arom erfaßt, quillt einmal dünn, ist wohl nie zu abgeschlossener und ganzer Leistung gekommen. Man kann jede einzelne Sache von ihm völlig zerreißen. Aber von Buch zu Buch geht Ton auf Ton, in immer neuer Fülle, in drängender Gestalt, der Aufbau zu einer Grundmelodie. Diese und jene Seite der Stadt, der Herzschlag der Menschen, in Höhe und Tiefe die Luftschicht, die Erregung, vom Lächeln bis zum Schmerz nur eine sekundliche Bewegung und dazwischen doch alles gestapelt . . . so ergibt sich seine Zeit. Die Skepsis seiner Epoche läßt ihm, obwohl alle ihre Elemente ihn zu einem wundervollen Exemplar aller ihrer Eigenschaften machen, etwas Distanz zu dem, was er schafft. So leitet er seine Figuren, nicht ohne sein Blut mit ihrer Erregung zu mischen, ein wenig Sentimentalität mit ihren Abstürzen fühlend, ihre Lust und Höhe mit dem tragischen Gestus des Zweifels im Handgelenk zittrig machend, etwas Spott um die Lippen. In dieser dunklen Heiterkeit schwanken die Schicksalsevolutionen. Es verdichtet sich der Raum aus der städtischen zur menschlichen, zur Daseinsschicht. Ohne Wollen. Ohne Absicht. Die Leistung bekommt plötzlich die allgemeingültige Bedeutung ausgeprägter hoher Kunst. Man wird in hundert Jahren den Gradmesser der Zeit an den Schnitzlerschen Büchern nehmen, sagen: das war Österreich.
Das ist nicht wenig.
Das ist unbestreitbar in Aufbau und Höhe und Herausschälung aus der Flut der anderen. Hier einigt sich fast allein (außer Keyserling) Werk und Zeit und Volk. Es entbindet aber nicht, das Urteil über den Wert dieser Lebens- und Zeitepoche zu fällen. Sie ist das morbide Schlußglied eines Auseinanderfalls, der schöne Moment vor einem Schlußstrich, das Zeitgefühl, das auch bis vor die Guillotine gepudert, lebhaft und bei guter Gesundheit ist. Der Gipfel Schnitzlerscher Kunst ist eine Erhebung, ohne Zweifel, aber eine sehr kleine neben Lessing, Laotse, Cervantes, Ekkehard, Notker, Balzac. Aber es ist einer, das ist sein Stolz. Es ist seine Zeit, die ihn selbst, die er wieder geschaffen und gestaltet. Die Frage nach Schnitzlers Wert ist nicht auf künstlerischer Ebene allein zu fällen, sie fällt parallel mit der nach dem seiner Zeit.
Sie decken sich ganz. Man kann sich nicht täuschen: der Atem dieser Kunst ist oft schwach, dünn gehaucht, Gefühle aus zweiter Hand, Heroisches überschrien, in fremden Stoffen Dargebotenes doch nur Wiener Geschnaas. Der Lebensrhythmus dieser Arbeiten stößt nicht heiß, rasch und tief ins Herz. In diesen Romanen und Novellen ist zarte und bezaubernde Oberfläche gegeben und der Hin- und Hergang entzündeter Herzen, und oft ist eins wie das andere. Und schließlich ist keines der Bücher ganz ein Ja und keines ein Nein. Sondern alles zwischendurch empfunden und beurteilt. So liegt der Fall und die Frage.
Aber sowie sie sich erhebt, wendet sie das Gesicht weg, dreht es nicht steinern vor den Mann, den Schaffenden, Abhängigen, sondern weiter hinaus gegen die Fülle seiner Zeit. Denn daher kommt er. Dahin wendet sich Anerkennung und Anklage, beides. Was auf ihn allein zu fallen hat, ist Beurteilung seiner Menschlichkeit. Da er zweifellos Liebe hat für die von ihm gezeichnete und vorgewiesene Kreatur, war demokratischer Atem in seinem Werk schon in noch sehr absolutistischer Zeit. Dies ist nun nicht mehr wichtig, aber es gibt die Linie des Anstandes zurückwandelnd wieder. Dabei ist er kein ekstatischer Bekenner, kein Täter, kein Konsequenzen-Zieher. Sondern auch in der Opposition voll Reserve. Untadelig wie wenige, wie fast kaum einer seines Ranges, seines europäischen Ansehens während des Kriegs. Die Haßschreie und der nationalistische Wahnsinn fanden in ihm keinen Trabanten. Auch im Künstlerischen war er nie nach Konjunktur aus, nie voll Wechsel wie Gerhart Hauptmann. Tadellos, ein vornehmer Repräsentant nicht nur seiner Zeit und Stadt, sondern des künstlerischen Gewissens geht er in die neue Zeit, deren Vorkämpfer und Führer wenig gemein haben mit seinem Werk, seiner Atmosphäre, deren große Wertschätzung und Verehrung, deren Gruß und Achtung ihm, wie jedem echten Menschlichen, gerne und eifrig zukommt.
Die Technik seiner Schreibweise, die den Menschen zerfaserte und an seinen Nerven hinaufschleichend ihn erriet, statt ihn zu bestimmen, die ihn festnagelte, statt ihn ins uferlos Göttliche und Menschliche hinaufzutreiben, war die gepflegte und modernste vor der expressionistischen Zeit. Wien züchtete champignonhaft Legion dieser Dichter kleineren Ranges.
Schnitzler scheint nunmehr, wo Zeit sich zwischen die Werke schon stellt, als bester und gesündester Vertreter. Die Geltung der Kunstform, die er vertritt, die Grenze der ganzen psychologischen Prosa bestimmt sich durch ihre Begrenzung schon selbst. Sie ist Kunst wie jede, beschränkt wie jede. Doch weniger in Stoffgebiet und Breite, als in der Höhe. Tragisches, Elementares, also Aufrüttelndes und Menschen allein Tragendes kann aus ihr nicht kommen. Nur liebevolles Nachgehen und Erklärenwollen bestenfalls, wo vor Schicksal, Tod und Ewigkeit im Grunde nichts zu erklären ist. Diese Kunst hat nicht Rausch, nicht unvermittelte Hingabe an große Gestirne, die unser Leben leiten. Sie rätselt, sie klagt nicht an. Sie jubiliert nicht vogelhaft, sie ist geistreich vielmehr. Sie kennt nicht den unbeweglichen, alles bestimmenden Geist, denn sie umschreibt. Sie ist endlich nicht einfach. Sie will das auch nicht. Sie hat ihr Maß, streckt sich in ihre Proportion. Im klugen Wissen um die Grenzen des ihr Möglichen gerät sie nicht auf falschen Ehrgeiz. Als Ganzes beschaut, füllt Schnitzlersches Werk seinen Platz mit Haltung und meisterlich aus. Letzte Größe ist ihm versagt, doch kümmert das nicht. Es ist darauf gerichtet, sich selbst zu genügen, Träger zu sein, nicht Aufwerfer und Neugestalter. Es will Gerechtigkeit vor seiner Zeit. Die Zeit ist in ihm wie in einem Spiegel.
Das ist sehr viel.