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Zweites Kapitel
ОглавлениеHastig beendete ich meine Rasur und folgte Grizelda dann zum Hühnerstall, wo ich niederkniete, um alles genau zu untersuchen. Sie hatte recht gehabt, das hölzerne Schloß war aufgebrochen worden, und in der Nähe lagen Büschel weißer Federn. Ich sah zu der Kuh auf, die zufrieden weidete, und musterte dann das Schwein, das in seinem Koben prustete und in der Erde wühlte.
«Ihr dürft Euch sehr glücklich schätzen, Mistress Harbourne, daß sie nur die Henne gestohlen haben», sagte ich. «Sie müssen auf dem Rückweg zufällig bei Euch vorbeigekommen sein, als sie nicht mehr viel Zeit und schon zuviel zu tragen hatten. Sonst hättet Ihr Eure anderen Tiere auch eingebüßt.»
«Sie?» Grizelda runzelte die Stirn. «Wer sind ‹sie›, Master Chapman?»
«Nun, die Banditen, die, soviel ich verstanden habe, den Bezirk seit ein paar Monaten terrorisieren. Da Ihr in dieser Gegend wohnt, können Euch ihre Raubzüge doch nicht entgangen sein.»
Sie wurde sehr blaß und preßte eine Hand aufs Herz, als wollte sie es beruhigen. Ihre Augen weiteten sich.
«Die Raubgesellen, meint Ihr? Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Ich habe an einen hiesigen Dieb gedacht – vor allem deshalb, nehme ich an, weil nur Félice gestohlen wurde und sonst nichts passiert ist. Ich weiß natürlich von diesen Männern, aber sie schlachten Vieh und verwüsten ganze Pflanzungen.» Sie holte tief und zitternd Atem. «Sie morden sogar. Aber nichts davon ist hier geschehen. Nur meine arme kleine Henne wurde gestohlen. Warum glaubt Ihr, daß sie es gewesen sind?»
Kurz berichtete ich ihr von meiner Begegnung mit den Räubern am frühen Morgen. «Und einer trug eine Henne unter dem Arm. Den Schnabel hatte er ihr zugebunden, um zu verhindern, daß sie gackerte.»
Grizelda blinzelte ihre Tränen fort. «Werden sie sie umbringen?»
Ich richtete mich auf, streckte meine verkrampften Beine und lächelte tröstend. «Ich glaube nicht. Hätten sie das beabsichtigt, hätten sie ihr den Hals umgedreht, bevor sie sie mitnahmen. Sie hätten sich nie die Mühe gemacht, sie zu knebeln. Sie brauchen wohl eine Legehenne. Banditen, nehme ich an, mögen Eier genauso gern wie ihre gesetzestreueren Mitbrüder.» Ich sah mich noch einmal auf der kleinen Lichtung um, auf der frisches Frühlingsgrün sproß und die von schattigen Bäumen gesäumt wurde. «Ich wiederhole, Ihr habt unwahrscheinliches Glück gehabt. Sie müssen an Eurem Cottage vorbeigekommen sein, nachdem sie schon schwer Beute gemacht hatten. Vermutlich haben sie die Henne gackern gehört und sich entschlossen, sie zu stehlen, ohne lange zu überlegen. Es tut mir leid. Ihr werdet sie vermissen.»
Grizelda nickte langsam. «Félice war nicht nur eine Gefährtin, sondern auch eine Einnahmequelle für mich. Ich konnte ihre Eier auf dem Markt in Totnes verkaufen und den Kot aus ihrem Stall als Bleiche an die Waschfrauen der Stadt. Aus Vogeldung gewinnt man eine hervorragende Lauge, wie Ihr vermutlich wißt.» Ihr besorgter Blick traf mich, und sie schüttelte sich. «Ich kann nicht glauben, daß diese Teufel hier waren und, während ich drinnen ahnungslos geschlafen habe, um mein Cottage herumgeschlichen sind. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.»
Ich zögerte, weil ich mich nicht festlegen wollte, andererseits aber von Schuldbewußtsein gepeinigt wurde bei dem Gedanken, daß sie hier allein schlief. Nachdem die Räuber gewissermaßen über Grizeldas Besitz gestolpert waren, würden sie wahrscheinlich wiederkommen, um die Kuh und das Schwein zu stehlen, die sie gezwungenermaßen zurückgelassen hatten. Widerstrebend sagte ich: «Ich habe die Absicht, meine Waren heute in Totnes feilzubieten, kann aber bei Sonnenuntergang wiederkommen, wenn Ihr es wünscht. Wenn Ihr mir ein paar Farnwedel als Unterlage und eine Decke zur Verfugung stellen könnt, kann ich es mir auf dem Fußboden bequem machen. Das bin ich gewohnt.»
Ein Lächeln hob ihre Mundwinkel, und sie berührte flüchtig meinen Arm.
«Ihr seid sehr gütig, Master Chapman, aber ich brauche Euch nicht zu behelligen. Ich habe in Ashprington eine Freundin. Sie und ihr Ehemann werden mich und meine Tiere bei sich aufnehmen, wenn ich sie darum bitte.»
Vor Erleichterung seufzte ich heimlich auf und erhaschte dann einen spöttisch-verständnisvollen Blick ihrer braunen Augen. Ich wurde rot. «Dann bitte ich Euch, das zu tun, wenn Eure Freunde Euch Zuflucht bieten können, wenigstens für heute nacht und für ein paar weitere Nächte.»
«Ich werde meine Freundin aufsuchen, sobald Ihr gegangen seid. Und jetzt will ich Euch Euer Frühstück machen. Wir haben noch die letzten Eier, die Félice gelegt hat, bevor sie gestohlen wurde.» Ihre Stimme bebte, sie drehte sich abrupt auf dem Absatz um und ging auf das Cottage zu.
Schon wollte ich ihr folgen, blieb jedoch plötzlich wie festgewurzelt stehen. Wäre ich ein Hund gewesen, hätte sich mir das Fell gesträubt. Grizelda, die ebenfalls stehenblieb und über die Schulter zurückblickte, rief: «Was ist los?» Als ich nicht antwortete, kam sie ein paar Schritte zurück. «Was ist denn?» wiederholte sie.
Als Antwort schüttelte ich den Kopf, winkte ihr, sie solle still sein, und spähte zu den umstehenden Bäumen hinüber, aber nur das ferne Hämmern eines Spechtes war zu hören, nichts sonst. Vorsichtig näherte ich mich dem von Bäumen wie von Säulen gesäumten Waldrand und der Dunkelheit dahinter und tappte zwischen den efeuumrankten Stämmen dahin, von denen einige gähnende Löcher hatten, groß genug, um Eulen als Nistplatz zu dienen… Dann entdeckte ich aus dem Augenwinkel eine blitzartige Bewegung und fuhr herum, um mich ihr zu stellen, fluchend, daß ich meinen Knüppel nicht mitgenommen hatte. Er war im Cottage, wo ich ihn liegengelassen hatte, als Grizelda und ich hinausgegangen waren, um den Hühnerstall zu inspizieren.
Der vogelscheuchenähnliche Mensch, der sich auf mich stürzte, hatte ein Messer. Die Klinge blitzte hell, als er sie hob, um zuzustechen. Grizelda, die herbeistürmte, schrie auf und lenkte zum Glück die Aufmerksamkeit meines Angreifers lange genug ab, daß ich sein Handgelenk packen und ihm mit einem zermalmenden Griff den Arm auf den Rücken drehen konnte. Der Mann heulte auf vor Schmerz, und das Messer fiel ihm aus den Fingern, in denen er plötzlich kein Gefühl mehr hatte. Ich ließ ihn los und bückte mich schnell nach der Waffe, bevor er sie aufheben konnte. Während er sich noch immer das verletzte Handgelenk rieb, legte ich ihm von hinten einen Arm um den Hals, umschlang mit dem anderen seinen Körper und machte ihn praktisch bewegungsunfähig.
«Lauft zurück ins Cottage und holt etwas, womit man ihn fesseln kann!» befahl ich Grizelda.
Sie rührte sich jedoch nicht. «Ich kenne den Mann», sagte sie. «Er ist kein Bandit, falls Ihr das denkt. Sein Name ist Innés Woodsman, und er schläft schon seit ein paar Jahren in den umliegenden Wäldern. Als mein Vater noch lebte, hat er ihm gelegentlich auf dem Hof geholfen und dafür sein Essen und im Winter eine Schlafstatt bekommen. Laßt ihn los, Chapman. Er ist harmlos.»
«Kein Mann ist harmlos, der ein solches Messer bei sich hat.» Mit einem Nicken wies ich auf die bösartig aussehende Klinge, die ich mir in den Gürtel gesteckt hatte.
Grizelda hob eigensinnig das Kinn. «Dennoch, ich bin ihm etwas schuldig. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr ihn loslassen und niemandem von diesem Zwischenfall erzählen würdet.» Mit einem Anflug von Trotz fügte sie hinzu: «Mir zuliebe.»
Ich gab meinen Gefangenen nur widerwillig frei. «Nun gut, Euch zuliebe», fügte ich mich. «Aber das Messer behalte ich. Er ist viel zu schnell bereit, es gegen Fremde zu benutzen.»
«Es ist mein Jagdmesser.» Innes Woodsman sprach abgehackt, mit boshaft klingender, heiserer Stimme. «Ich brauche es, um Kaninchen und so ‘n Zeug umzubringen.»
Ich musterte ihn voller Abscheu. Das starke Gefühl des Bösen, das mir vorhin seine Anwesenheit verraten hatte, war geblieben und ließ sich nicht abschütteln.
«Warum hast du versucht, mich damit zu töten, wenn es ein Jagdmesser ist?»
Innes Woodsmans schmales, wettergegerbtes Gesicht nahm einen unsteten Ausdruck an, und er antwortete nicht. Grizelda sagte ruhig: «Wahrscheinlich hat er gedacht, daß ich es bin. Oh, er hätte mir nichts getan», erklärte sie hastig. «Er wollte mich nur erschrecken. Er grollt mir nämlich.»
Ich war entsetzt. «Und Ihr wollt ihn gehen lassen? Man sollte den Halunken dem Sheriff übergeben, damit er ihn in den Kerker wirft.»
«Nein», antwortete sie fest. «Er grollt mir nicht ohne Grund. Es wäre ungerecht, ihn einzusperren.» Sie sah dem Waldmenschen ins Gesicht. «Das ist deine letzte Chance, das letzte Mal, daß ich Nachsicht übe, Innes. Meine Geduld geht zu Ende. Wenn du nicht von hier verschwindest und mich in Ruhe läßt, werde ich Master Chapmans Rat beherzigen und dich verklagen.» Sie legte den Kopf zur Seite, und als ein Sonnenstrahl durch die Zweige der Bäume stach, sah ich etwas, das mir erstaunlicherweise bisher entgangen war: eine schwache, weiße, runzlige, schon lange verheilte Narbe, die sich von ihrer rechten Braue bis in die halbe Wange zog. Sie fuhr fort: «Ich hoffe, du warst es nicht, der mir meine Henne Félice gestohlen hat.»
Innes Woodsman spuckte verächtlich aus. «Ich würde den dürren Vogel nicht anfassen, und wenn Ihr mich dafür bezahlen tätet.»
Grizelda nickte. «Gut, ich glaube dir. Aber denk an das, was ich dir gesagt habe, und verschwinde von hier, oder ich mache meine Drohung wahr. Ich meine es ernst.»
«Ich gehe nicht ohne mein Messer», antwortete er mürrisch.
Sie wandte sich an mich. «Gebt es ihm bitte, Chapman. Er braucht es, um zu überleben.» Ich gab nach, wenn auch mit den schlimmsten Befürchtungen. Sie lächelte dankbar, und nachdem der Mann zwischen den Bäumen verschwunden und außer Sicht war, nahm sie meinen Arm und drückte ihn. «Und jetzt gehen wir ins Haus, und ich brate Euch die Eier.»
Ich leerte meinen Teller und tunkte die Reste mit einem trockenen Stück Schwarzbrot auf. Die Eier, geschlagen und in zerlassenem Speck über dem Feuer gebraten, hatten köstlich geschmeckt. Grizelda saß neben mir auf einer Bank, die ich an den Tisch gezogen hatte, und schob einen Teller mit Weizenkuchen und einen Topf mit Honig zu mir herüber.
«Nachdem ich Euren schlimmsten Hunger gestillt habe, möchte ich Euch etwas fragen. Woher habt Ihr gewußt, daß Innes im Wald war? Ich bin sicher, daß Ihr ihn von dem Platz beim Hühnerstall, wo Ihr gestanden habt, weder gehört noch gesehen haben könnt.»
Ich träufelte Honig, dick und golden, auf einen Weizenkuchen und biß hinein, ehe ich antwortete. «Ich – ich hatte das Gefühl von etwas Bösem, irgendwo ganz in der Nähe.»
Halb und halb erwartete ich, daß sie mir einen schiefen Blick zuwerfen würde, aber er blieb aus. «Habt Ihr das Zweite Gesicht?» fragte sie.
Ich biß noch einmal in meinen Weizenkuchen, wischte mir mit dem Handrücken Honig vom Kinn und blickte verstohlen zur offenen Tür, als fürchtete ich, jemand könnte draußen stehen und lauschen. Ich senkte die Stimme.
«Nicht richtig, nein, aber ab und zu habe ich Träume und manchmal, wie heute morgen, ein Gefühl der Bedrohung. Findet Ihr das – ketzerisch?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich selbst habe nicht die Gabe, doch meine Mutter hatte sie, ein bißchen. Sie hielt es vor allen geheim aus Angst, man könnte sie als Hexe brandmarken.»
Eine Weile blieb es still zwischen uns, während ich mich durch einen zweiten Weizenkuchen futterte. Als ich den letzten Krümel geschluckt hatte, sagte ich: «Jetzt ist die Reihe an mir, eine Frage zu stellen. Was für einen Grund hat dieser Halunke, Euch zu grollen?»
Einen Augenblick dachte ich, sie werde sich vielleicht weigern, mir zu antworten, oder mir sagen, daß mich das nichts angehe; daß mir, weil ich das Brot mit ihr brach, noch lange nicht das Recht zustehe, mich in ihre persönlichen Angelegenheiten zu mischen. Ich glaube, sie zog eine solche Antwort tatsächlich in Erwägung, denn sie preßte die Lippen fest zusammen und warf mir unter halbgeschlossenen Lidern einen forschenden Blick zu. Aber dann gab sie beinahe sofort nach, öffnete die Augen und lächelte.
«Als mein Vater vor fünf Jahren starb, erlaubte ich Innes Woodsman, eigentlich wider besseres Wissen, weiterhin hier zu wohnen, als Gegenleistung für seine Arbeit auf dem Hof. Wie ich Euch erzählt habe, hatte er meinem Vater geholfen, als er in die Jahre kam, und war mit der Arbeit hier vertraut. Ich selbst hatte seit meinem neunten Geburtstag, kurz nach dem Tod meiner Mutter, nicht mehr hier gelebt. Ich nehme an, es ist begreiflich, daß Innes glaubte, er sei für den Rest seiner Tage versorgt, und wahrscheinlich hätte ich ihn auch ungestört hierlassen sollen, und sei es nur, weil ich zu bequem war, den Besitz loszuschlagen.» Sie nahm einen Weizenkuchen von der Platte und begann zerstreut daran herumzuknabbern. Ihre Miene verfinsterte sich. «Wenigstens … Vielleicht traf das eine Zeitlang zu, aber in den letzten Jahren…»
Sie verstummte und schaute gedankenverloren an mir vorbei.
«Aber in den letzten Jahren?» drängte ich, als ich meine Neugier nicht länger unterdrücken konnte.
Grizelda zuckte zusammen. «Entschuldigt, Chapman, ich war nicht bei der Sache. Was hatte ich gesagt?»
«Daß Innes Woodsman hier zur Miete wohnen durfte, weil Ihr zuerst zu bequem wart, den Besitz loszuschlagen, daß jedoch später…»
«Ach ja. Später», fügte sie in bewußt leichterem Ton hinzu, «muß mich, wie ich glaube, eine Eurer Vorahnungen oder etwas Ähnliches überkommen haben. Es war fast so, als wüßte ich, daß ich eines Tages hierher zurückkehren müßte.»
«Was Ihr getan habt.»
«Ja. Vor ungefähr drei Monaten hat es sich ergeben, daß ich hierher zurück mußte.» Das Lächeln, mit dem sie mich ansah, war erkennbar gekünstelt, und das leichte Zittern in ihrer Stimme verriet unterdrückte Erregung. «Daher mußte ich Innes Woodsman wegschicken, und ich furchte, ich habe es nicht sehr freundlich getan. Mir war damals nicht gerade – nach Freundlichkeit zumute. Er sah sich gezwungen, wieder im Freien zu schlafen, der Zuflucht beraubt, die für ihn schon zu etwas Selbstverständlichem geworden war.»
Ich merkte, daß sie ein schlechtes Gewissen hatte, und beeilte mich, sie nach Kräften zu trösten. Die Ellenbogen auf den Tisch aufstützend, sagte ich: «Aber das Gehöft gehört Euch, wie es Eurem Vater gehört hat? Es ist kein Lehen, nicht im Besitz eines Lehnsherrn?»
Diesmal war ihr Lächeln aufrichtig. «Soll ich darauf ja oder nein sagen? Ja auf Eure erste Frage, nein auf Eure zweite.»
«Nun, dann wart Ihr im Recht», ermutigte ich sie. «Ihr braucht Euch nicht schuldig zu fühlen.»
Noch immer lächelnd, schüttelte sie den Kopf. «Wie ich schon sagte, hätte ich Innes freundlicher behandeln, mehr Rücksicht auf seine mißliche Lage nehmen können.» Sie stand auf und holte mir in einem großen Trinkgefäß aus Maserholz Ale aus dem Faß, das in einer Ecke stand.
«Ihr seid zu streng mit Euch», antwortete ich. «Nichts, was Ihr gesagt oder getan hättet, hätte seinen Groll gemindert. Alles in allem war es wahrscheinlich besser, es ihm ohne Umschweife zu sagen, als ihm das Unerfreuliche versüßen zu wollen.»
Sie lachte, kam an den Tisch zurück und stellte den bis zum Rand gefüllten Krug vor mich hin. Doch dann setzte sie sich nicht wieder, sondern blieb am Tischende stehen und sah mir zu, während ich trank.
Ich war durstiger, als mir bewußt gewesen war, leerte den Krug in einem Zug und wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab. «Das ist ein gutes Ale», sagte ich.
Grizelda nahm den Krug, um ihn noch einmal zu füllen. «Oh, hier bekommt Ihr kein minderwertiges, schlabbriges Gebräu, wie Ihr es offenbar gewohnt seid.» Sie sah sich geringschätzig um. «Das Haus mag genau nach dem aussehen, was es ist – eine Bruchbude, Chapman, aber ich habe bessere Verhältnisse gekannt.» Ihr Ton war spöttisch, doch auch ein wenig bitter.
Ich antwortete sanft: «Das ist keine Bruchbude, glaubt mir. Ich kann es beurteilen. Auf meinen Reisen habe ich viele gesehen.»
Sie antwortete nicht, ging zur Tür und blickte hinaus, während ich den zweiten Krug Ale leerte. Im Profil wirkte sie ein bißchen älter als Auge in Auge; aber alles in allem war sie eine schöne Frau. Ich spürte die vertraute Anziehungskraft, unterdrückte das Gefühl jedoch hastig. Ich war erst viel zu kurz verwitwet, um schon mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen, und war überzeugt, es hieße die Erinnerung an Lillis verraten, wenn ich es zu früh täte. Selbstauferlegte Enthaltsamkeit beschwichtigte zwar mein Gewissen, bewahrte mich jedoch nicht davor, Grizelda Harbourne zu begehren.
Sie fühlte meinen forschenden Blick und wandte halb den Kopf, um mich anzusehen. Einen Moment später kam sie leicht lächelnd an den Tisch zurück, als habe sie meine Gedanken erraten.
«Ich muß Euch danken, Chapman», sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe nichts getan», protestierte ich. «Hättet Ihr es zugelassen, hätte ich gern härter durchgegriffen. Wenn es nach mir gegangen wäre, säße Innes Woodsman inzwischen im Burgverlies.»
«Das habe ich nicht gemeint.» Sie spielte mit den gefransten Enden des Ledergürtels, den sie um die Taille trug. «Ich weiß, daß ich Dinge gesagt haben muß, die Eure Neugier wecken mußten, aber Ihr habt Euch beherrscht und keine Fragen gestellt, dafür bin ich Euch dankbar. Mein Leben war nicht leicht. Es hat Ereignisse gegeben …» Erregung erstickte ihr die Stimme, und es dauerte eine Weile, ehe sie imstande war, fortzufahren. Doch endlich hatte sie ihre Fassung soweit zurückgewonnen, daß sie weitersprechen konnte: «Es hat Ereignisse gegeben, die für mich zu schmerzlich sind, um darüber sprechen zu können. Und die letzten Monate waren die schwärzesten von allen.»
Sie war sehr blaß geworden, und einen Moment lang fürchtete ich, sie werde ohnmächtig. Ich sprang auf, bereit, sie aufzufangen, wenn sie stürzte, doch sie bedurfte meiner Hilfe nicht. Sie erholte sich fast sofort und errötete ob ihrer Schwäche. Als die Röte ihr wie eine Welle ins Gesicht stieg, fiel mir wieder die Narbe auf der rechten Seite auf, die dünne weiße Linie, die sich von der Braue bis zur Wange zog. Als sie merkte, worauf mein Blick gerichtet war, hob sie die Hand und berührte die Narbe.
«Ich bin als Kind vom Baum gefallen und habe mir an einem Ast die Wange aufgerissen. Ein belangloser Unfall, der mir ein lebenslanges Andenken hinterlassen hat.»
«Ihr hättet Euch den Hals brechen können», sagte ich. «Das würde ich nicht belanglos nennen.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich war noch jung, nicht älter als dreizehn Jahre, und in diesem Alter fällt man leicht. Die Knochen sind geschmeidiger. Aber Ihr habt recht. Ich hätte mich viel schlimmer verletzen können. Doch alles, was von meiner Unvorsichtigkeit übrig ist, ist die Narbe, und sie, schmeichle ich mir, fällt nicht allzusehr auf.»
«Nein, wirklich nicht.» Ich musterte sie bewundernd. «Ihr seid eine schöne Frau. Das brauche ich Euch nicht zu sagen. Aber verzeiht, wenn ich das frage, warum habt Ihr nie geheiratet? Die Männer können doch nicht so mit Blindheit geschlagen sein, daß noch keiner Euch gefragt hat.»
Sie lachte tief und kehlig auf, über meine Kühnheit nicht ungehalten. Aber ihr Ton war hart, als sie sagte: «Was für eine Mitgift habe ich denn, Master Chapman? Wer sollte mich nehmen?»
«Ihr habt das Gehöft, das ein Anreiz wäre für viele Männer, hätte ich gedacht.»
Ich merkte sofort, daß ich sie beleidigt hatte, und mir fiel ein, wie sehr sie alles hier verachtete, daß sie das Cottage eine Bruchbude genannt und erklärt hatte, sie habe «bessere Verhältnisse» gekannt. Ich begriff, daß sie genauso hochgesteckte Erwartungen an eine Ehe stellen würde und nicht bereit wäre, sich mit einem Kleinbauern oder Waldarbeiter zufriedenzugeben; vielleicht nicht einmal mit einem respektablen Handelsmann. Und da die Anträge von Höhergestellten ausblieben, zog sie eine würdige Jungfernschaft vor.
Es gab noch vieles, das ich über Grizelda Harbourne nicht wußte, und viele Fragen, die ich ihr gern gestellt hätte, doch ich hatte weder die Zeit noch das Recht zu fragen. Ich drehte mich um und griff nach Packen und Knüppel.
«Ich muß weiter», sagte ich. «Habe schon zuviel von Eurer Zeit beansprucht und möchte lange vor dem Abendessen in Totnes sein. Doch bevor ich aufbreche, müßt Ihr mir versprechen, daß Ihr zu Euren Freunden in Ashprington geht und für die nächsten Nächte um ein Bett bittet. Nach all dem, was geschehen ist, solltet Ihr hier nicht allein bleiben.»
«Ihr glaubt wirklich, ich sei in Gefahr, noch einmal beraubt zu werden?» Als ich nickte, lächelte sie resigniert. «Also gut. Und um Euch meine Dankbarkeit für Eure Fürsorge zu beweisen, begleite ich Euch ein Stück auf dem Weg in die Stadt. Es könnten sich noch immer ein paar Frauenzimmer in der Gegend herumtreiben, die es auf ein Pfand von einem wie Euch abgesehen haben. Wahrscheinlich würdet Ihr wieder erwischt.»
Ich lachte. «Und Ihr denkt nicht, daß ein großer Kerl wie ich fähig ist, sich zu wehren?»
«Vor einer Stunde habt Ihr Euch aber nicht so besonders gewehrt», erwiderte Grizelda trocken. «Habt sogar ziemlich hilflos dreingeschaut, als Ihr dort auf dem Boden gelegen habt.» Nachdenklich fügte sie hinzu: «Große Männer wie Ihr haben oft eine Scheu vor Frauen, wenn sie in größeren Gruppen auftreten. Ich habe am Hock-Montag schon so manchem Mann ein Pfand abgenommen, und es sind meist die kleinen Kerle, die ganz ungezwungen sind, sich nichts gefallen lassen, nicht nur einstecken, sondern auch ordentlich herausgeben und jeden Augenblick des Pfänderspiels genießen. Denkt an meine Worte: wenn Ihr morgen an der Reihe seid, es den Frauenzimmern heimzuzahlen, werden die Kleinen Eure Trupps anfuhren.»
Ich war verblüfft darüber, wie gut sie mich durchschaute. Es traf zu, ich neigte in Gegenwart jüngerer Frauen zu Schüchternheit, hatte jedoch gehofft, diese Tatsache verbergen zu können. Dann tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß nur wenige Leute so scharfsichtig waren wie Grizelda Harbourne und daß die Umstände, unter denen wir uns kennengelernt hatten, für mich sehr peinlich gewesen waren.
Ein letztes Mal versuchte ich noch, sie davon abzubringen, daß sie mich begleitete, meinte besorgt, sie müsse müde sein, da sie so früh aufgestanden war. Doch sie lachte nur und wischte meine Befürchtungen beiseite.
«Ich bin wie mein Vater», sagte sie, «habe eine kräftige Konstitution. Mehr noch, ich wandere gern, daher ist es für mich keine Strafe, ein Stückchen mit Euch zu gehen.»
Als ich sie so entschlossen fand, fügte ich mich, und gemeinsam brachen wir in Richtung Totnes auf. «Wie werdet Ihr ohne Eure Henne zurechtkommen?» fragte ich.
«Eier von meinen Nachbarn kaufen oder ein paar Silbermünzen von meinem sauer erarbeiteten Ersparten nehmen und mir eine neue kaufen. Aber kein Vogel wird mir je meine liebe Félice ersetzen können.»
Wir begegneten keinen Pfändersammlerinnen mehr, wenn wir auch einmal von ferne fröhliches Gelächter und vor Übermut laut kreischende Frauenzimmer hörten, denen wieder ein ahnungsloser Mann ins Netz gegangen war. Da, wo wir waren, hörte man als einziges Geräusch das Laub in einer leichten Brise rascheln, die in den Bäumen flüsterte. Grizelda schien die entlegeneren Waldwege zu kennen, wo sich unter unseren Füßen ein dicker goldener Teppich aus Bucheckern ausbreitete und der grüne Dunst sich entfaltender Buchenblätter Schatten warf, die außer uns niemand störte.
Plötzlich traten wir auf das hochgelegene, offene Plateau oberhalb von Totnes hinaus, und vor uns lag die Stadt, zog sich kunterbunt den Abhang hinunter und reichte über ihre Mauern hinaus zu den Gezeitenmarschen und den belebten Schiffahrtskais auf dem Fluß Dart tief unter uns. Rechts von uns erhob sich die Burg auf ihrem Hügel, dahinter fand man die wichtigsten Gebäude der Stadt – das Benediktinerkloster Saint Mary, das Zunfthaus und die Häuser der bedeutendsten Bürger, alle von Mauern eingefriedet, von Gräben und Wällen umgeben, die einst vielleicht auch noch von Palisaden überragt worden waren. Und dahinter lagen noch mehr Häuser, die Mühlen, Wiesen und Obstgärten des Klosters. Die Straßen wimmelten vor Leben, und meine Stimmung hob sich. Ich konnte hier gute Geschäfte machen, auf dem Marktplatz und wenn ich an Türen klopfte. Eine blühende Gemeinde nach allem, was man sah.
Grizelda sagte: «Ich verlasse Euch hier. Geht den Hügel hinunter und zum Westtor hinein. Es ist in der Nähe des Viehmarktes, den sie den Rotherfold nennen. Ihr könntet auch über die South Street gehen, sie bringt Euch südlich des Osttores in den nicht von Mauern umgebenen Teil der Stadt.» Sie reckte sich und küßte mich ganz unerwartet auf die Wange. «Viel Glück, Chapman.»
Bevor ich mich von meiner Überraschung erholte, hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war gegangen. Als sie in dem Waldgürtel verschwand, aus dem wir eben gekommen waren, rief ich: «Gott sei mit Euch!» Aber wenn sie mich gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken, nicht einmal durch einen Blick über die Schulter. Ich schaute ihr nach, bis ich das Blau ihres Rockes zwischen den Bäumen nicht mehr sehen konnte, hievte dann meinen Packen ein bißchen höher auf die Schultern und begann den Hügel hinunterzusteigen.