Читать книгу Fromme Unschuld - Kate Sedley - Страница 7
Viertes Kapitel
ОглавлениеOliver brachte mich zu einem Haus, das dem Schlachthaus gegenüber auf der nördlichen Seite der High Street lag, die dort einen Bogen zum Westtor schlug. Er sperrte die Tür auf und ging vor mir hinein, wobei er vorsichtig über den mit einer dicken Staubschicht bedeckten Boden tappte und empfindlich die Nase rümpfte, weil es muffig roch.
«Am besten ist es wohl, ich führe Euch herum und zeige Euch, wo die einzelnen Räume liegen», sagte er ein wenig mürrisch, als wir in dem mit Steinplatten ausgelegten Flur standen. Er stieß eine Tür an seiner rechten Seite auf. «Das ist der untere Wohnraum, wo mein alter Freund und Klient, Sir Jasper Crouchback, die meisten seiner Geschäfte erledigte, und dahinter liegt das Kontor. Die Treppe in der Ecke führt in den oberen Wohnraum und die großen Schlafgemächer, um die Ihr Euch nicht kümmern müßt. Denn wenn die Banditen kommen, dringen sie bestimmt im Untergeschoß ein. Folgt mir, und ich zeige Euch auch die Küche und die Nebengebäude.»
Wir gingen durch den Flur bis zu einer festen Eichentür am anderen Ende, jetzt verriegelt und mit einem Querbalken gesichert. Dank meiner Körpergröße konnte ich Oliver helfen, die Riegel aus ihren Scharnieren zu ziehen; und indem ich mit all meiner Kraft an dem eisernen Griff des Schnappschlosses zog, gelang es mir schließlich, den hölzernen Türflügel zu öffnen, der sich nach dem Regenwetter der letzten Wochen verzogen hatte und am Rahmen klebte. Wir betraten einen gepflasterten Hof, der auf allen Seiten von einer hohen Steinmauer eingefriedet wurde. Vor uns lag ein anderer Gebäudeblock, dessen oberes Stockwerk mit dem des Hauses hinter uns durch eine überdachte hölzerne Galerie verbunden war, die, von Streben gestützt, die ganze Länge der rechten Mauer einnahm.
Die Küche, in die Oliver Cozin mich führte, glich allen anderen Küchen, in denen ich bisher gewesen war, mit einem Tisch in der Mitte, einem Wasserfaß, Borden mit Töpfen, Pfannen und allen Geräten, die man zum Kochen brauchte, und einer Feuerstelle, die in die wuchtige Backsteineinfassung des offenen Kamins eingebaut war. Über eine Leiter gelangte man in die Vorratsräume und zu den Schlafplätzen des Gesindes, während eine Tür in einer Ecke uns zu den Werkstätten, dem Hühnerstall, dem Schweinekoben und zum Stall brachte, in dem Platz für zwei Pferde war. Wie die anderen Nebengebäude wurden auch sie von einer hohen Mauer geschützt, und Zugang von außen fand man nur durch eine schmale Gasse zwischen dem Haus und seinem Nachbarn. Ein mit Eisennägeln beschlagenes Eichentor hielt Eindringlinge ab.
Nachdem ich alles gesehen hatte, gingen wir zurück.
«Ich schlage vor, daß Ihr im unteren Wohnraum schlaft», sagte der Anwalt, «und die ganze Nacht eine Kerze brennen laßt, so daß man das Licht durch die Ritzen in den Fensterläden sieht. Wie Ihr gemerkt habt, sind die Nebengebäude leer, und nachdem die Räuber das festgestellt haben, werden sie glauben, daß das Haus unbewohnt ist, und versuchen, von vorn einzudringen. Wenn sie jemanden im Haus vermuten, weil das Licht brennt, werden sie vielleicht davon Abstand nehmen, sich gewaltsam Eintritt zu verschaffen.»
«Und wenn sie trotzdem kommen?» fragte ich ironisch. «Was soll ich dann tun?»
Der Anwalt musterte mich von oben bis unten. «Ein großer Kerl wie Ihr muß imstande sein, sich zu verteidigen, und ist es wahrscheinlich auch gewohnt. Ihr habt einen festen, dicken Knüppel bei Euch, und ich nehme an, Ihr wißt ihn zu gebrauchen.»
Ich sah ihn sehr direkt an. «Diese Männer sind Mörder, hat man mir gesagt. Ich glaube nicht, daß ein Knüppel mir da viel nützen würde.»
Es folgte ein Augenblick des Schweigens, dann verzog Oliver Cozin das Gesicht.
«Chapman, Ihr seid, vermute ich, ein vernünftiger Mann und von größerer Intelligenz, als man aus Eurem Gewerbe schließen könnte. Ihr glaubt ebensowenig wie ich, daß die Banditen die Befestigungen umgehen und sich in die Stadt wagen werden. Männer wie sie mögen keine Mauern um sich. Da ist ihnen jeder Fluchtweg versperrt. Aber mein Klient, Master Colet, der kein kluger Mann ist» – in der Stimme des Anwalts schwang ein leicht verächtlicher Unterton mit – «und sich von der allgemeinen Hysterie anstecken läßt, fürchtet um seinen Besitz, und deshalb tue ich, was ich kann, selbst wenn es nur für eine Nacht ist.»
Ich runzelte die Stirn. «Habt Ihr nicht gesagt, das Haus gehöre Eurem alten Freund Sir Jasper Crouchback?»
Oliver nickte. «Das war auch der Fall, früher einmal. Aber er ist vor fünf Jahren gestorben, und jetzt gehört es seinem Schwiegersohn Master Eudo Colet.»
In seinem Ton und seinem Verhalten war eine Zurückhaltung zu spüren, die mich daran hinderte, zu viele Fragen zu stellen. Trotzdem hielt ich es nicht aus und bohrte ein bißchen tiefer.
«Aber selbst wenn dieser Master Colet und seine Lady, Sir Jaspers Tochter, nicht in diesem Haus bleiben wollen, während sie sich nach einem anderen Besitz umsehen, muß es doch eine Menge Leute geben, die nur allzu bereit wären, hier einzuziehen. Mieter würden ihnen sogar Geld einbringen. Warum also sind sie gezwungen, sich auf den guten Willen eines fahrenden Handelsmannes zu verlassen?»
Wieder trat ein wachsamer Ausdruck in die grauen Augen des Anwalts, während er sich erfolglos bemühte, offen und ehrlich zu erscheinen.
«Mein Klient ist verwitwet und will das Haus nicht vermieten. Er will verkaufen. Er hat nur wegen der Bedrohung durch diese Banditen ein ungutes Gefühl, wenn es leersteht.»
Ich schüttelte den Kopf. «Das ist keine Antwort auf meinen Einwand. Wenn Master Colet aus mir unbekannten Gründen nicht bereit ist, selbst hier zu wohnen, warum verkauft er dann nicht sofort?»
«Weil er noch keinen Käufer gefunden hat. Nun genug davon. Ihr stellt zu viele Fragen nach Dingen, die nicht Eure Sache sind. Ihr habt hier eine freie Unterkunft für die Nacht. Seid zufrieden.» Ich neigte respektvoll den Kopf, und der Anwalt schien erleichtert. «Ich verlasse Euch jetzt. Hier ist der Schlüssel. Er paßt in alle Schlösser, falls Ihr vor der Sperrstunde noch ausgehen wollt. Ihr werdet gewiß etwas zu essen brauchen. Aber ich habe auf einem Bord in der Küche einen Vorrat an Kerzen gesehen, also müßt Ihr wenigstens die nicht kaufen.»
Ich dankte ihm und begleitete ihn wie ein guter Gastgeber zur Haustür, aber als er über die Schwelle treten wollte, zögerte er und drehte sich um.
«Master Colet ist – ein wertvoller Klient», sagte er leicht verlegen. «Einer, dem ich gern zu Gefallen bin. Ich frage mich daher.. .» Er bemühte sich ganz offensichtlich um ein Lächeln, um seine Bitte so natürlich klingen zu lassen wie möglich. «Wärt Ihr bereit, bis zum nächsten Samstag zu bleiben? Dann reise ich nach Exeter ab, und was Ihr hinterher tut, ist Eure Sache. Aber ich hätte bewiesen, daß ich, solange ich hier war, Master Colets Wünschen bereitwillig nachgekommen bin, so daß er mir keine Vorwürfe machen kann.»
Und du verdienst dir damit sogar ein noch dickeres Honorar, als du ohnehin bekommst, dachte ich. Laut sagte ich: «Bevor ich Euch das beantworten kann, muß ich gründlich darüber nachdenken. Ich habe nicht beabsichtigt, länger als eine Nacht in Totnes zu bleiben.»
«Wenn – wenn es Euch um Geld zu tun ist, könnte ich vielleicht dafür sorgen, daß Ihre eine – eine kleine Summe bekommt.»
Ich schüttelte den Kopf. «Meine Börse ist im Moment so gut gefüllt, daß bestimmt nichts mehr hineingeht, Master Cozin. Aber es ist Frühling, und ich muß hinaus auf die Straße. In vier Wänden eingesperrt zu sein ist im Winter gut und schön, wenn der Wind aus dem Norden bläst und der Boden mit Schnee und Eis bedeckt ist, doch sobald das Tauwetter einsetzt und die Bäume Knospen schlagen, bin ich gern auf der Straße unterwegs. Ich verspreche jedoch, daß ich mir Euren Vorschlag überlegen will. Morgen früh bekommt Ihr meine Antwort.»
Damit mußte der Anwalt zufrieden sein. Nach einer kurzen Pause sagte er: «Ihr seid ein ehrlicher Mann. Ich tue recht daran, Euch zu vertrauen. Sehr gut, ich erwarte morgen Eure Entscheidung. Wie Ihr wißt, findet Ihr mich im Haus meines Bruders. Und ich werde Euren Entschluß respektieren, wie er auch lauten mag. Ich werde nicht versuchen, Euch umzustimmen.»
Selbst wenn mein Verdacht noch nicht geweckt gewesen wäre, hätte dieses letzte Gespräch mit dem Anwalt mich wachsam gemacht und mir verraten, daß etwas nicht stimmte. Weder ein Hauswirt noch sein Beauftragter bietet einem Mieter an, ihn dafür zu bezahlen, daß er in einem bestimmten Haus wohnt; ein solcher Vorschlag hieße die Welt von Handel und Wandel auf den Kopf stellen. Abgesehen davon gab es jedoch auch noch andere Dinge, die mich neugierig machten. Warum wollte der verwitwete Eudo Colet nicht hier wohnen, selbst wenn er einen möglichen Überfall der Banditen fürchtete? Warum war der dienstbeflissene Master Cozin nicht imstande, einen Einheimischen zu finden, der ihm den Gefallen tat? War kein Nachbar bereit, einen Sohn oder einen seiner Männer zur Verfügung zu stellen, der vorübergehend die Rolle des Hausmeisters übernahm? Und warum schien niemand, wirklich niemand willens, ein so hübsches Haus zu kaufen, wenn vielleicht auch nur, um es an Dritte weiterzuvermieten?
Aus all diesen Fragen konnte man als Antwort nur einen Schluß ziehen. Etwas war in diesem Haus geschehen; etwas, das allen, den Besitzer inbegriffen, Widerwillen oder Furcht einflößte. Anders konnte ich mir, was ich erlebt hatte, nicht erklären. Ich kam daher zu dem Schluß, daß ich es mir noch bei Tageslicht gründlich ansehen sollte, je früher, desto besser. Ich stand auf und holte mir meinen Knüppel, der neben meinem Packen unmittelbar hinter der Haustür lag.
Den unteren Wohnraum, den der verstorbene Sir Jasper Crouchback zu seinen Lebzeiten auch benutzt hatte, um Geschäfte zu machen – was immer das für Geschäfte gewesen sein mochten –, kannte ich schon: die getäfelten Wände, die beiden schön geschnitzten Lehnsessel, den großen Tisch, den hübschen Kamin mit der dekorativen Einfassung und den mit Steinplatten ausgelegten Fußboden. In den Schrankfächern hatte sich früher vermutlich Silber- und Zinngeschirr gestapelt, jetzt jedoch standen die Schranktüren weit offen, und die Fächer enthielten nichts als Staub. Die Wendeltreppe in der Ecke, die in das obere Stockwerk führte, hatte ein kunstvoll geschnitztes Geländer, auf das man sich stützen konnte. Alles in allem war dies ein Raum, dazu bestimmt, mit seiner Einrichtung zu beeindrucken.
Im Gegensatz dazu war das Kontor dahinter nüchtern und zweckmäßig ausgestattet. Es wirkte so vernachlässigt, als sei es sehr lange nicht mehr benutzt worden. Ein Tisch, eine Bank, zwei Hocker und ein stabiler Schrank, mit einem rostigen Schloß und einer ebenso rostigen Kette gesichert, war alles, was es enthielt; auf dem gestampften Lehmboden lagen weder Überreste modernder Binsen, noch gab es irgendein anderes Anzeichen dafür, daß sich vor kurzem hier jemand aufgehalten hatte. Die Wände hatten eine grüngraue Farbe, aber auf den ersten Blick war es unmöglich zu erraten, ob sie einfach schmutzig oder mit Pottasche und Schwefel, mit Kalk vermischt, getüncht worden waren. Hier gab es nichts Interessantes, und ich kehrte auf den Flur zurück.
Ich betrat den Hof, der mit den blaßgoldenen Strahlen der untergehenden Sonne Übergossen war. Die überdachte Galerie zu meiner Rechten warf lange, schräge Schatten auf das Steinpflaster, wo sich weiche Moospolster, hohe Disteln und haarige Winterkresse durch die gesprungenen Platten zwängten. Der Brunnen und die Pumpe waren in der Nähe der Küchentür, die ich mit meinem Schlüssel aufsperrte. Da ich nichts entdeckte, was ich nicht schon in Begleitung von Master Cozin gesehen hätte, stieg ich die Leiter zum Vorratsraum und den Gesindezimmern hinauf. Hier roch es genauso muffig, feucht und unbewohnt wie im ganzen Haus, und die gähnend leeren Borde unterstrichen nur die Tatsache, daß es gewiß Monate her war, seit hier jemand geschlafen hatte. Auch hier waren die Wände gekalkt, doch diesmal bestand kein Zweifel daran, daß man dem Kalk rotes Oxyd beigemischt hatte, um ihm eine rötliche Farbe zu geben.
Eine Tür in der Wand gegenüber führte in den Vorratsraum, in dem es noch nach Äpfeln duftete, was die weniger angenehmen Gerüche ein wenig versüßte. Aber bis auf einen Sack mit Körnern in der Ecke war auch dieser Raum leer. Scharfe Zähne hatten ein Loch in den Sack genagt, und die Körner waren herausgerieselt. Eine flinkäugige Maus drehte sich zu mir um und verschwand dann mit zuckendem Schwänzchen und dem Kratzen winziger Krallen in einem Loch. In der Ecke mir direkt gegenüber war eine zweite Tür, die sich, als ich sie aufschloß, auf die Galerie öffnete, die die beiden Gebäude miteinander verband, aus denen das Ganze bestand.
Ich stieg in die Küche hinunter, sperrte die Tür von innen zu, kehrte in den Vorratsraum zurück, trat hinaus auf den überdachten Durchgang und schloß wieder sorgfältig hinter mir ab. Die Bodenplanken bebten und ächzten ein wenig unter meinem Gewicht, als ich die Hofmauer in ihrer ganzen Länge abschritt, und ich war froh, daß ich mich am Geländer festhalten konnte. Dennoch schien der Boden unter meinen Füßen sicher genug und nicht in Gefahr durchzubrechen. Eine weitere Tür am anderen Ende führte, nachdem ich aufgesperrt hatte, in die Schlafzimmer und das obere Wohnzimmer des Haupthauses.
Der Raum, in dem ich mich wiederfand, war, nach dem Himmelbett mit den blauen Seidenvorhängen zu schließen, offensichtlich das Schlafzimmer des Hausherrn und seiner Frau. Auf einer, wie ich bei näherer Untersuchung feststellte, Gänsefedermatratze lag eine grüne Tagesdecke, und die Wände zeigten ein kunstvolles Muster in Rot und Weiß, das, gewiß für einen beträchtlichen Preis, nur von einem sehr geschickten Handwerker geschaffen worden sein konnte. Es gab zwei wunderschön geschnitzte Kleidertruhen, und auf einer stand ein sechsarmiger Zinnleuchter mit den Stummeln echter Wachskerzen; über den Boden verstreut waren noch Binsenreste und Reste von getrockneten Kräutern, jetzt zerbröckelt und altersbraun. Ein Vorhang, über eine Ecke des Raumes gezogen, verbarg zwei Nachttöpfe und eine Badewanne.
Dieser Raum öffnete sich zu einem kurzen, schmalen, dunklen und luftlosen Flur, in dem ich die Wahl zwischen zwei Türen hatte. Ich öffnete die, welche in den vorderen Teil des Hauses führte, und stand im oberen Wohnraum, wo sich in einer Ecke die Treppe ins untere Stockwerk schlängelte. An drei Wänden hingen Gobelins; jetzt abgewetzt und ausgeblichen, mußten sie früher in kräftigen Farben geleuchtet haben wie Juwelen. Das Material war jedoch noch gut, und ich vermutete, auf die Kenntnisse bauend, die ich auf meinen Reisen erworben hatte, daß sie ursprünglich aus Frankreich stammten. Auf einem war Tobias dargestellt, den der Engel Azarias begrüßte; auf einem zweiten Judith, die das blutende Haupt des Holofernes in die Höhe hielt; der dritte erzählte die Geschichte von Gideon, wie er die Midianiter bezwang. Die Deckenbalken waren scharlachrot, blau und grün getüncht und an den Enden zu Heiligenfiguren gestaltet.
Der breite steinerne Kamin stand direkt über dem im Untergeschoß, und die Einfassung war sogar noch kunstvoller gemeißelt und farbiger als die untere. Tatsächlich waren hier Tisch, Sessel, Hocker und Schränke erlesenstes Handwerk und ebenfalls viel prächtiger als im anderen Wohnraum. Zwei Teppiche auf dem Boden und das Glas in den oberen Fensterhälften zeugten ebenfalls, wenn auch stumm, von Wohlstand und Luxus.
Nachdem ich mir alles gründlich angesehen hatte, ging ich in den Flur zurück, wo ich nur den Arm auszustrecken brauchte, um die andere Tür zu öffnen und das zweite Schlafzimmer zu betreten. Es war ähnlich eingerichtet wie das erste, nur waren die Bettvorhänge und die Tagesdecke aus ungebleichtem Leinen und die Matratze, wie ich feststellte, mit Stoffabfällen ausgestopft. Auf einer Kleidertruhe standen ein Wasserkrug und eine Waschschüssel, und der Kerzenleuchter enthielt nur ein Binsenlicht. Neben dem Himmelbett hatte ein niedriges Rollbett mit einem Strohsack, einem groben Bettlaken und zwei derben Wolldecken seinen Platz, Beweis dafür, daß eine zweite oder dritte Person in diesem Raum geschlafen hatte, vermutlich eine Magd oder ein Hausdiener. Die Fensterscheiben waren aus geöltem Pergament und in den Holzrahmen genagelt, und ein Fensterladen hing nur noch halb in den Angeln; kein Zimmer, an das Sorgfalt oder Zeit verschwendet worden war.
Als ich mich umwandte, um zu gehen, knarrte ein Dielenbrett unter meinen Füßen, und ich zuckte zusammen. Zum erstenmal wurde mir bewußt, welche Verlassenheit das Haus ausstrahlte, wie unheimlich still es war. Prickelnde Furcht rieselte mir das Rückgrat hinunter, ich spürte die Gegenwart von etwas Bösem, Unheilvollem. Es war hier, in diesem Raum, überall um mich herum. Die Haare sträubten sich mir im Nacken, mir war eiskalt und in ein und demselben Augenblick sengend heiß. Die Beine gaben unter mir nach, ich war nicht fähig zu atmen und gefährlich nahe daran, den Verstand zu verlieren…
Die wahnwitzige Angst verging. An die Tür gelehnt, die Hände feucht von Schweiß, atmete ich wieder ganz natürlich, und meine Umgebung kam mir völlig normal vor. Außer mir selbst war nichts und niemand hier, und ich war über diesen Anfall von Panik tief beschämt. Ich brauchte etwas zu essen; es war schon ein paar Stunden her, seit ich beim St. Peter’s Quay meine Pasteten verzehrt hatte, und mein Magen schrie nach Nahrung. Ich riß mich zusammen, ging in den Wohnraum zurück und stieg die Treppe hinunter ins Untergeschoß. Ich hatte von meiner zeitweiligen Unterkunft alles gesehen, was es zu sehen gab, und wenn man den höchst unwahrscheinlichen Überfall durch die Banditen außer acht ließ, war hier nichts, wovor man sich fürchten mußte. Ich sagte mir energisch, daß das, was ich in dem zweiten Schlafraum erlebt hatte, nur eine von Hunger hervorgerufene körperliche Schwäche gewesen war.
Blieb das ungelöste Problem, warum niemand in dem Haus wohnen wollte. Es bestand eine allgemeine Abneigung dagegen, und bisher hatte ich noch nicht entdeckt, worauf sie sich zurückführen ließ. Vielleicht konnte ich im hiesigen Gasthof etwas erfahren. Also schloß ich alle Fensterläden und versperrte alle Türen, bevor ich auf die Straße trat und mich auf den Weg in das am nächsten gelegene Wirtshaus machte.
Ich fand es im Schutz der Burgmauer – ein schmalbrüstiges, wenig gastfreundlich aussehendes Gebäude mit einem grünen Busch auf einer Stange über dem Eingang, der anzeigte, daß hier Ale und Speisen verkauft wurden. Ich ging hinein, und nachdem sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah ich in der Mitte des Raumes einen langen Tisch, Bänke, die sich an den Wänden hinzogen, und eine hochlehnige Ruhebank dicht bei einer Feuerstelle, in der ein paar Scheite vor sich hin brannten. Außer mir waren, da die Sperrstunde unmittelbar bevorstand, nur noch ein oder zwei Gäste da; zweifellos machten es sich die Bewohner der Stadt schon am häuslichen Herd bequem, verbarrikadierten Türen und Fenster gegen einen möglichen Überfall der Banditen. Ich zog mir einen Hocker an den Tisch und rief nach dem Wirt.
Wie so oft in ländlichen Gegenden wurde der Gasthof von einer Frau betrieben. Sie kam von irgendwo aus den hinteren Regionen in den Schankraum; nach dem Geruch zu schließen, der von ihr ausging, wahrscheinlich aus dem Brauhaus. Auf den ersten Blick schien sie eine breite, mütterlich aussehende Person zu sein, ein Eindruck, der sofort verschwand, wenn man sie von nahem sah. Kleine dunkle Augen, tief in bleichen Hautfalten liegend, schätzten mich als jemanden ein, der großzügig mit Geld umging und dringend reichlicher Nahrung bedurfte. Sie war daher ganz leutselige Freundlichkeit, aber zwei muskulöse Arme und eine Faust, so groß und rötlich wie ein Schinken, waren eine deutliche Warnung, daß sie sich keinerlei Unfug gefallen lassen würde.
«Ale», sagte ich, «und Brot und Käse. Und von beidem ein ordentliches Stück.»
Sie nickte und musterte mich wohlgefällig.
«Für einen Kerl, so groß und breit wie Ihr, wäre kalter gebratener Speck auch nicht übel, meine ich. Und ein bißchen Knoblauch, frisch und saftig, der erste der Saison?»
«Warum nicht?» Ich grinste. «In meinem einsamen Bett wird niemand an meinem Atem Anstoß nehmen.»
Die Wirtin hob eine Braue und schnaubte. «Einsames Bett, tatsächlich? Dann aber nur, weil Ihr es so wollt. Es gibt hier herum genug Mädchen, die Euch allzugern wärmen würden, wenn Ihr nur mit dem kleinen Finger winkt. Ich täte es selber gern, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre.» Sie fügte einen unflätigen Scherz hinzu und entfernte sich gackernd.
Als sie wiederkam, war ich der einzige Gast. Das Ale-Haus war zu klein, um auch Herberge zu sein, und es schien keine Bewohner zu geben außer einem pferdegesichtigen Schankkellner, der mein Ale zapfte und sich dann lautlos zurückzog.
«Mein Sohn», sagte sie achselzuckend und mit einem Nicken in die Richtung, in die er verschwunden war. «Ein jämmerlicher Mistkerl, wenn’s je einen gegeben hat, aber ich brauche ihn. Ich kann die Fässer nicht allein schleppen. Jetzt eßt!» Sie stellte einen üppig beladenen Teller vor mich hin und zog sich selbst einen Hocker an den Tisch. «Und während Ihr eßt, könnt Ihr mir berichten, woher Ihr kommt. Es ist immer ein Vergnügen, einen Fremden kennenzulernen.»
Also erzählte ich ihr zwischen jeweils einem Mundvoll Brot und Schinken, Käse und Knoblauch, die ich mit gutem, starkem Ale hinunterspülte, meine bisherige Lebensgeschichte; ich war darin bestens geübt, denn ich schien immer die Neugier der Leute zu wecken. Zum dritten- oder viertenmal heute berichtete ich auch, daß König Edward eine Invasion Frankreichs anstrebte; worauf sie in das Sägemehl spuckte, das den Fußboden bedeckte, und erklärte, Männer seien geborene Narren, die unglücklicherweise nie klüger wurden.
«Müssen sich immer bekämpfen, wie Kinder. Bringen sich gegenseitig um für nichts und wieder nichts. Man müßte die Frauen mehr mitreden lassen, Master Chapman, dann würden wir erleben, daß auch Vernunft siegen kann.» Als sie sah, daß ich darauf nicht einging, lächelte sie mich zahnlückig an und wechselte das Thema. «Und wo schlaft Ihr heute nacht? Im Kloster?»
Ich schluckte den Bissen hinunter, den ich im Mund hatte. «Ich hab was Besseres, ein Haus ganz für mich allein», sagte ich und erzählte ihr dann, wie ich dazu gekommen war.
Nachdem ich die letzten Krümel auf meinem Teller zusammengekratzt hatte, blickte ich auf und stellte fest, daß sie mich merkwürdig ansah.
«So! Master Eudo Colet kommt also nicht wieder, eh? Nicht einmal, um sein Eigentum zu schützen.» Wieder spuckte sie verächtlich aus, diesmal fand sie ihr Ziel auf einem der schwelenden Scheite in der Feuerstelle. Der Speichel zischte und dampfte. «Ist aber kaum verwunderlich, nehme ich an. Mord ist immer und unter allen Umständen etwas Schreckliches. Doch der Tod von Kindern ist besonders abscheulich. Und wenn noch der Verdacht der Hexerei hinzukommt …» Sie brach ab und hob ihre breiten Schultern.
Ich starrte sie entsetzt an.
«Niemand hat mir gesagt … Ich habe gehört, daß die Banditen zwei Kinder umgebracht haben, aber das, nehme ich an, sind nicht diejenigen, von denen Ihr sprecht?»
«O ja, dieselben. Bruder und Schwester, Rosamund Crouchbacks Kinder aus erster Ehe. Den ersten Mann hab ich nie gesehen. Stammte aus dem Norden, und nach der Heirat haben sie in London gelebt. Aber nach seinem Tod ist sie zu ihrem Vater nach Hause gekommen und hat ihre beiden Kinder mitgebracht. Sie war schon immer wild und eigenwillig, und als Sir Jasper starb und ihr alles hinterließ, hat sie gesagt, sie hätte ihren ersten Mann nur ihm zuliebe geheiratet und würde jetzt heiraten, wen sie wollte. Und genau das hat sie getan. Ging wieder nach London – am 24. August, dem Bartholomäustag, vor drei Jahren muß es gewesen sein –, blieb einen ganzen Monat oder noch länger weg und ließ die beiden Kleinen bei den Dienstboten zurück. Als sie wieder nach Hause kam, war sie zum zweitenmal verheiratet, mit Master Eudo Colet. Einem Abenteurer mit einem fixen Auge dafür, wie man schnell zu einem Vermögen kommt. Ich kenn mich aus mit solchen Kerlen. Und ich war nicht die einzige, die so dachte. Keiner mochte ihn, alle waren der Meinung, daß er nichts taugt. Doch am meisten gehaßt und am meisten mißtraut hat ihm Rosamunds Cousine, das Kindermädchen Grizelda Harbourne.»