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ERSTER TEIL Mai 1471 Bristol 1
ОглавлениеHeute, im Jahr des Herrn 1522, bin ich ein alter Mann. Ich habe fünf Könige herrschen sehen – sechs, wenn man den jungen Eduard hinzurechnet. Meiner eigenen Schätzung nach bin ich jetzt siebzig Jahre alt, habe also das Alter erreicht, das den Menschen, wie uns die Bibel lehrt, auf Erden gegeben ist, und wenn meine Stunde kommt, werde ich nicht traurig sein. Die Dinge sind heute nicht mehr das, was sie einmal waren, sage ich stets zu meinen Kindern und Enkelkindern. Und genau das hat auch meine Mutter schon immer zu mir gesagt.
«Es ist eben alles nicht mehr so wie früher, als ich noch ein junges Mädchen war», schimpfte sie dann, wirbelte mit ihrem Besen den Staub und die alten Binsen auf und schob sie so schwungvoll über die Schwelle, als wollte sie alles neuartige Benehmen und Denken gleich mit zur Tür hinauskehren.
An unser kleines Haus in Wells erinnere ich mich noch so deutlich, als wäre ich gestern erst dort gewesen. An meinen Vater dagegen blieben mir nur verschwommene Erinnerungen. Aber das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn er starb, als ich knapp vier Jahre alt war. Er war Steinmetz von Beruf und, wie meine Mutter stets betonte, überall hoch angesehen – so hoch jedenfalls, daß der Bischof, als mein Vater während der Bauarbeiten an der Decke der Kathedrale vom Baugerüst fiel und kurz darauf an den Folgen des Sturzes starb, meiner Mutter aus dem eigenen Säckel eine kleine Rente aussetzte. Ich glaube, deshalb kam sie auf die Idee, daß ich lesen und schreiben lernen sollte. Und aus diesem Grund gab sie mich schließlich auch als Novize zu den Benediktinern in Glastonbury.
Die arme Frau konnte einfach nicht verstehen, daß ich für das Klosterleben nicht geschaffen war. Ich hielt mich am liebsten im Freien auf. Ich war gern mein eigener Herr. Und ich hatte nicht das geringste Gespür für Musik. Mein unmelodischer Gesang trieb die anderen Novizen bei den täglichen Gottesdiensten schier zur Verzweiflung und war nur einer der Gründe dafür, warum sie am Ende ganz froh waren, mich wieder loszuwerden. Meine gute Gesundheit, die ich mir bis in allerjüngste Zeit bewahren konnte, war ein weiterer Grund. Die anderen Mönche und Novizen gingen, besonders im Winter, auf der Krankenstation ein und aus. Ich aber kann mich nicht erinnern, während meiner gesamten Zeit in Glastonbury ein einziges Mal auf der Krankenstation gewesen zu sein. Ich hatte auch immer sehr gute Zähne, litt nie unter Zahnschmerzen oder anderen Beschwerden. Ein paar Zähne habe natürlich auch ich inzwischen einbüßen müssen, und die anderen bereiten mir manchmal Schwierigkeiten, besonders wenn der Wind aus Osten kommt – aber was kann man mit siebzig Jahren anderes erwarten?
Der wahre Grund dafür, warum ich Glastonbury nach dem Tod meiner Mutter wieder verließ, lag jedoch tiefer als der Groll, den die anderen Mönche gegen mich hegten. Er betraf eigentlich nur mich und Gott. Der Abt, ein weiser und großmütiger Mann, hatte Verständnis für mich. Nicht, daß ich die Existenz einer anderen Welt, eines Jenseits, jemals bezweifelt hätte. Ich hatte einfach das Gefühl, nie ganz sicher sein zu können, ob das Christentum auch wirklich auf alle Fragen eine Antwort hatte. Manchmal, vor allem in den Abendstunden, wenn ich durch die alten Wälder mit ihren großen Eichen und Birken schritt, spürte ich etwas von der Macht, welche die alten Baumgötter über das Denken unserer angelsächsischen Vorfahren ausgeübt hatten. Die knorrigen, verkrümmten Äste, die sich mir in der Dunkelheit entgegen reckten, riefen die Erinnerungen ganzer Geschlechter wach. Öfter, als ich es zugeben möchte, habe ich ängstlich über die Schulter gespäht und gegen jede Vernunft und jeden Glauben erwartet, plötzlich Robin Goodfellow, Hodekin oder irgendeine andere sagenhafte Gestalt zu sehen.
Diese Ketzerei habe ich allerdings für mich behalten. Ich bin nicht so dumm, so etwas laut herauszuposaunen. Schon gar nicht jetzt, wo Papst Leo gerade König Heinrich VIII. für seine schriftliche Antwort auf den deutschen Mönch Martin Luther den Titel ‹Fidei Defensor› verliehen hat. Und ich greife auch nur deshalb zur Feder, weil ich das Gefühl habe, daß mir nicht mehr sehr viel Zeit bleibt. Woher dieses Gefühl kommt? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich könnte keinen eindeutigen Grund benennen. Es ist nur so ein allgemeines Gefühl des Unbehagens. Es fällt mir schwer, morgens aufzustehen. Ich bin gereizt gegen meine Tochter, meine Söhne und deren Kinder. Ich bin der vorwärtsstürmenden Jugend mit ihren neuartigen Sitten müde, kann ihr ständiges Gerede, Heinrich von Tudor und sein Sohn, unser jetziger König, hätten das Land aus den Klauen eines Ungeheuers befreit, nicht mehr hören. Ich hatte die Ehre, unseren verstorbenen König Richard persönlich gekannt zu haben und ihm einmal sogar zu Diensten gewesen zu sein – Gott sei seiner Seele gnädig!
Aber heutzutage gilt auch diese Ansicht schon als Ketzerei, und vermutlich wiegt sie schwerer als die erste. Der Richard, über den sich die Menschen heute das Maul zerreißen, ist eine bucklige Mißgestalt, durch und durch blutrünstig und böse. Das ist nicht der Mann, den ich in Erinnerung habe, aber ich will hier keine politische Abhandlung abfassen – nur einen Bericht über mein Leben, das in vielerlei Hinsicht bemerkenswert war.
Meine Mutter starb, ehe ich mein Mönchsgelübde abgelegt hatte. Ich beschloß, mich über ihren Wunsch hinwegzusetzen, das Kloster zu verlassen und als Hausierer über Land zu ziehen. Für einen Jungen, der lesen und schreiben konnte, mag es höchst ungewöhnlich gewesen sein, Seidenstoffe, Schnürsenkel und sonstigen Krimskrams feilzubieten. Aber nach all den Jahren, in denen mich die vielen Regeln und Vorschriften des Mönchslebens eingeengt hatten, sehnte ich mich nach der Freiheit der Straße. Ich wollte endlich mein eigener Herr sein, wollte die verschiedensten Landschaften kennenlernen, die ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Und vor allem wollte ich London sehen.
Wenn ich heute im Herzen Somersets über die schattigen Täler und dichtbewaldeten Hügel blicke und mir der Geruch der warmen Erde in die Nase steigt, kommt mir dieser Wunsch befremdlich vor. Aber damals war London mein Ziel, die Stadt, in der ich mein Glück versuchen wollte. Zu Reichtum und Wohlstand gelangte ich natürlich nie. Ich war einfach nicht aus dem Holz eines zweiten John Pulteney oder Dick Whittington geschnitzt. Doch auch wenn ich nicht das große Geld machte, zeigte sich bei mir bald ein anderes Talent: Ich konnte Rätsel lösen und Geheimnisse aufklären, die anderen Menschen verborgen blieben. Und darum soll es auch in diesen Erinnerungen gehen; ich hoffe, eines Tages, wenn ich tot bin, werden meine Kinder neugierig genug sein, um sie zu lesen.
Alles begann mit dem rätselhaften Verschwinden von Clement Weaver – einem jungen Mann, von dem ich bis zu jenem Maimorgen im Jahre des Herrn 1471 noch nie etwas gehört hatte. Ich war damals noch nicht lange auf der Wanderschaft. Meine Mutter, die zu Weihnachten gestorben war, hatte mir dank ihrer eisernen Sparsamkeit eine kleine Summe hinterlassen. Damit kaufte ich einem alten Hausierer, der des Umherziehens müde war und seine letzten Lebensjahre bei den Mönchen in Glastonbury verbringen wollte, seine Ausrüstung ab. Nur seinen Esel konnte ich mir nicht leisten. Doch ich war jung und stark und hatte breite Schultern, warum sollte ich mein Bündel da nicht selbst über Land tragen? So brach ich voller Zuversicht von Wells in Richtung Bristol auf und machte überall in den Dörfern Rast, um meine Waren feilzubieten. In Whitchurch half ich den Dörflern, um den Maibaum zu tanzen. Anschließend ging ich in die Kirche, um das Fest des Heiligen Philippus und des Heiligen Jakobus zu begehen – eine gelungene Mischung aus der alten Naturverehrung unserer angelsächsischen Ahnen und den Geboten der Heiligen Kirche, wie ich fand. Am zweiten Mai kam ich vor den Stadtmauern von Bristol an.
Schon als ich noch mehrere hundert Meter vom Redcliffe-Tor entfernt war, bemerkte ich, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war. Es herrschte eine merkwürdige Betriebsamkeit, bewaffnete Männer liefen hin und her, und durch die Stadtmauern drangen immer lauter werdende Stimmen, wie Wasser, das durch einen Damm sickert. In der Nähe der Marienkirche sah ich Zelte und das umtriebige Durcheinander eines Heerlagers, das gerade abgebrochen wird. Die Männer liefen umher wie Ameisen, als hätten sie es ganz besonders eilig fortzukommen. Ein plötzlicher Befehl weiterzuziehen? fragte ich mich. Alles deutete auf einen überstürzten Aufbruch hin.
Als ich mich dem Wachtposten am Stadttor näherte, kroch ein schmutziger, zum Himmel stinkender Eremit aus seinem Loch hervor, um mich in Augenschein zu nehmen und mir erwartungsvoll die Bettelschale entgegenzustrecken. Als er meine Jugend und meine zerschlissenen Kleider sah, verzog er enttäuscht das wettergegerbte Gesicht, murmelte etwas in seinen verfilzten Bart und trollte sich wieder. Bristol war damals – und ist bis heute – eine reiche Stadt, die in ihrer Bedeutung nur noch von London übertroffen wird. Der alte Mann hatte es nicht nötig, seine Zeit auf arme Wanderer wie mich zu verschwenden.
Während ich mich zum Wachtposten vorkämpfte, wurde der Lärm immer größer. Es hörte sich an, als ob eine ganze Armee auf dem Vormarsch sei. Der diensthabende Wachmann war ein mürrischer, pockennarbiger Mann, dessen ohnehin schon rosiges Gesicht von der Anstrengung, das Gewimmel am Stadttor unter Kontrolle zu halten, ein grimmiges, bedrohliches Rot angenommen hatte. Außer den Bauern und Händlern, die ihrem Gewerbe nachgingen, verstopften immer mehr Pilger, die auf dem Weg nach Canterbury, Holywell oder Walsingham die Sehenswürdigkeiten Bristols in Augenschein nehmen wollten, die Straßen der Stadt. Und zu alledem marschierten Soldaten zwischen der Burg und dem Lager vor der Stadtmauer hin und her.
«Was ist denn hier los?» fragte ich den Wachmann.
Ich hätte für meine Frage keinen ungeeigneteren Augenblick wählen können. Der Wachmann lieferte sich gerade ein erhitztes Wortgefecht mit einem großen, grobknochigen Bauern, der seine Schafe zum Markt trieb. Es ging um den Zoll, den er dafür bezahlen sollte und mit dem er nicht einverstanden war. Wütend drehte sich der Wachmann zu mir um.
«Soldaten!» fauchte er verächtlich. «Das ist hier los! Die verdammten Soldaten fressen unsere Vorräte auf, saufen unseren Wein, und wer soll die Zeche bezahlen? Natürlich wir!» Damit wandte er sich wieder seinem Bauern zu, der die Atempause dazu genutzt hatte, eine zweite Wortattacke vorzubereiten. Mehr denn je war er davon überzeugt, daß der Wachmann ihn übers Ohr hauen wollte.
Ich ließ die beiden zurück und betrat auf der anderen Seite des Tores die Redcliffe Street. Doch je mehr ich mich der Stadtmitte näherte, desto schwieriger wurde es, auf den Straßen voranzukommen. Die vielen Fußsoldaten und berittenen Truppen aus der Burg brachten den übrigen Verkehr fast völlig zum Erliegen. Ich überlegte gerade, ob ich damit beginnen sollte, an die Türen der Häuser zu klopfen und meine Waren feilzubieten, oder ob ich mich zuallererst in einem der Gasthäuser um eine Mahlzeit kümmern sollte – mein großer, starker Körper wollte stets ausreichend gefüttert werden, ein anderer Grund dafür, warum ich für das Klosterleben schlichtweg ungeeignet war –, als ich plötzlich unsanft zur Seite geschubst wurde. Eine Gruppe von Reitern machte eine Gasse für zwei berittene Damen frei. Gemeinsam mit den anderen unfreiwilligen Zuschauern dieses Spektakels starrte ich die beiden neugierig an. Die ältere Dame sah sehr gebieterisch aus, blickte starr geradeaus und schien das gewöhnliche Leben, das um sie herumbrandete, gar nicht zu bemerken. Das schmale, verbitterte, von Falten zerfurchte Gesicht zeigte deutliche Spuren des Leids, und als eine Stimme hinter mir murmelte: «Das ist Königin Margarete», wurde mir schlagartig klar, daß ich Margarete von Anjou, die Frau König Heinrichs VI., vor mir hatte. Warum war sie hier in Bristol?
Mein Blick wanderte weiter zu ihrer Begleiterin, einem dünnen, schmächtigen Mädchen, das für den stämmigen Braunen, auf dem es ritt, viel zu zerbrechlich wirkte. Das Mädchen war ganz in Schwarz gekleidet, trug offenbar Trauer. Eine plötzliche Brise, die über die High Street wirbelte, hob für einen Augenblick seinen Schleier und enthüllte ein totenblasses, knochiges Gesicht, in dem die Augen wie zwei dunkle Flecken wirkten. Mit der freien Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte, griff das Mädchen nach dem Schleier und hüllte sich wieder fest in seine Gewänder ein. Dann ritt es mit der restlichen Kavalkade die Corn Street hinunter auf die Brücke über den Frome River zu. Einen Augenblick lang starrte die Menge noch den Reitern nach, dann besann sie sich, murrte über die Verzögerung und widmete sich wieder ihren Tagesgeschäften. Ich kehrte zu dem inneren Zwiegespräch zurück, das mich vor dieser Unterbrechung beschäftigt hatte, und kam zu dem Schluß, daß mein knurrender Magen unverzügliche Aufmerksamkeit verdiente. Ich fragte die Frau, die neben mir stand, nach dem nächsten Wirtshaus, in dem man auf eine ordentliche Mahlzeit hoffen konnte und wo auch das Ale nicht zu knapp bemessen wurde.
Die Frau war rundlich und hausbacken, doch nicht so alt, wie das feine Netz kleiner Fältchen rund um ihre Augen vermuten ließ. Die Augen selbst waren dunkelbraun und wirkten irgendwie geheimnisvoll. Doch als sie mich von Kopf bis Fuß gründlich musterte und schließlich lächelte, hellte sich ihre Miene auf und ließ ihr Gesicht sehr viel freundlicher erscheinen. Ihr einfaches Kleid aus selbstgesponnener, selbstgefärbter Wolle deutete auf einen niedrigen Stand hin. Die Haarsträhne, die unter ihrer grünen Wollmütze hervorschaute, war hellbraun, doch von einigen silbrigen Fäden durchzogen.
«Du suchst etwas, wo du essen kannst?» fragte sie und schürzte die Lippen. Ich hatte den Eindruck, sie wollte Zeit gewinnen, während in Wirklichkeit etwas ganz anderes in ihrem Kopf vorging. «Dann laß mich mal überlegen... Hinter der Allerheiligenkirche, in einer Seitenstraße der Corn Street, liegt das Abyngdon. Früher wurde es mal Green Lattis genannt, aber das tut ja jetzt nichts zur Sache... Dann gibt’s da noch das Full Moon, aber das ist mittags immer ziemlich voll... Das White Heart am Ende der Broad Street... Oder der Running Man... Aber wenn ich’s mir recht überlege, würde ich dir den lieber nicht empfehlen... Früher, als Thomas Prynne noch der Wirt vom Running Man war – er war ein guter Freund meines Herrn und ist es noch heute –, konnte man es ein ordentliches Wirtshaus nennen. Aber Thomas Prynne ist nach London gezogen, um dort sein Glück zu versuchen. Ihm gehört jetzt das Baptist’s Head in der Crooked Lane, ganz in der Nähe der Thames Street...» Ihre Stimme verlor sich, und sie starrte ausdruckslos in die Ferne. Mit merklicher Anstrengung riß sie sich zusammen und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. «Du bist Hausierer?»
«Ja.»
«Und woher kommst du? Wenn man dich hört, sollte man meinen, du kämst aus unserer Gegend.»
«Ich bin in Wells geboren.» Ich sah keinen Grund, unser Gespräch weiter zu vertiefen. «Vielen Dank für die Auskunft. Da es am nächsten liegt, werde ich es im Abyngdon versuchen.»
«Warte.» Die Frau legte ihre Hand auf meinen Arm. Ich erinnere mich noch, daß ihr Griff überraschend fest war. «Du bist spät dran mit dem Essen. Wer weiß, ob du im Wirtshaus noch etwas Warmes bekommst. Aber wenn du mich bei meinen Besorgungen begleiten willst, kannst du mit mir nach Hause kommen, und ich sorge dafür, daß du eine ordentliche Mahlzeit erhältst. Unser Haus in der Broad Street ist für seine gute Küche bekannt. Für einen Ratsherrn der Stadt Bristol ist das Beste gerade gut genug.»
Ich zögerte, wußte plötzlich nicht mehr, woran ich war. Sie sprach mit solcher Selbstsicherheit, daß ich mich fragte, ob ich mich vielleicht doch in ihrem Stand verschätzt hatte. «Der Ratsherr ist dein Ehemann?» wagte ich zu fragen.
Sie gab ein tiefes Glucksen von sich. «Sehe ich wie die Frau eines Ratsherrn aus? Nein, natürlich nicht! Er ist mein Herr. Ich bin seine Haushälterin und kümmere mich auch um seine Kinder.» Sie zögerte, als gebe es noch etwas hinzuzufügen; dann besann sie sich, nahm meinen Arm und hakte sich bei mir unter. «Wenn du mich ein bißchen stützt, kommen wir allemal schneller voran. Meine Beine sind leider nicht mehr die jüngsten.»
Gemeinsam gingen wir die Corn Street hinunter und mußten dabei höllisch aufpassen, um den Dreckhaufen vor den Haustüren und den Bergen von Innereien vor einem Fleischerladen auszuweichen. Auch die vielen Schweine und Ziegen auf der Straße hinderten uns am Fortkommen. Eigentlich war es nicht rechtens, innerhalb der Stadtmauern Tiere zu halten, aber die guten Bürger Bristols setzten sich über diese Vorschrift ebenso großzügig hinweg wie die Einwohner vieler anderer englischer Städte. Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann die unverbrüchliche Tatsache, daß die Engländer in jedem neu erlassenen Gesetz sogleich die Herausforderung sehen, es heimlich zu umgehen oder ganz offen zu brechen.
Von unserem gemeinsamen Spaziergang am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir der Lärm der Glocken. Wir hatten natürlich in Glastonbury die Glocken gehört, die zu den verschiedenen Gottesdiensten des Tages riefen, aber jetzt war ich zum ersten Mal in einer richtigen Stadt, und ich hatte noch nie so viele Glocken auf einmal läuten hören. Sie zeigten die Stunde an, luden die Bürger zu Versammlungen ein, verkündeten eine Sitzung des Stadtgerichts oder riefen die Gläubigen zum Gebet in eine der vielen Kirchen.
Die Marsh Street war voller Matrosen, die entweder gerade an Land gekommen waren und nach dem nächsten Bordell suchten oder auf einem der vielen Schiffe anheuern wollten, die mit Wein, Seife oder irgendeiner anderen, für fremde Länder bestimmten Fracht vor Anker lagen. Vor einem der Lagerhäuser an den betriebsamen Docks war ein Fuhrmann damit beschäftigt, Tuchballen auf seinen Wagen zu laden. Später erfuhr ich, daß dieses Tuch von den Webern hergestellt wurde, die auf der anderen Seite des Avon, in Redcliffe, wohnten und arbeiteten.
Der Fuhrmann hob den Kopf, und als wir näher kamen, streckte er uns zum Gruß die Hand entgegen.
«Du bist spät dran, Marjorie», sagte er vorwurfsvoll. «Ich bin schon fast zur Abfahrt bereit. Wie lautet diesmal mein Auftrag?»
«So wie immer. Wenn du nach London kommst, fährst du unverzüglich zum Stalhof. Du belieferst nur die Hansekaufleute, sonst niemanden.» Sie drehte sich zu mir um und fügte erklärend hinzu: «Die Kaufleute der Hanse bezahlen stets in barer Münze, ein Vorzug, den sich unser Herr nicht entgehen lassen will. Die Londoner Kaufleute verlangen Kredit und versuchen, ihre Schulden mit allerlei Krimskrams abzuzahlen, mit Tennisbällen, Spielkarten, Quasten oder Troddeln.» Sie kicherte vergnügt. «Woanders mögen sie damit durchkommen, aber wir aus Bristol lassen uns das nicht bieten.» Dann zog sie einen mit rotem Wachs versiegelten Brief aus der Tasche und reichte ihn dem Fuhrmann. «Und wenn du das für mich abliefern könntest, wäre ich dir sehr dankbar.» Eine Münze wechselte den Besitzer.
Der Mann nickte fröhlich und stopfte den Brief in seine abgewetzte, fleckige Jacke. «An deine Base, nicht wahr? Keine Angst! Ich bürge dafür, daß sie den Brief persönlich bekommt. Und was ist mit Seiner Durchlaucht? Die übliche Bezahlung, nachdem die Arbeit getan ist, nehme ich an?»
Marjorie lächelte. «Hast du etwas anderes erwartet? Du weißt doch genausogut wie ich, wie es der Ratsherr mit seinen Geschäften hält.»
«Ich wollte sicherheitshalber bloß fragen, es hätte ja sein können, daß sich inzwischen doch noch ein Wunder ereignet hat. Also gut. Ich mache mich auf den Weg. Du kannst Ratsherrn Weaver sagen, daß ich in einer Woche, wenn ich wieder in der Stadt bin, bei ihm vorspreche.» Er nickte mir kurz zu und verschwand im Lagerhaus. Ein Stückchen weiter machten ein paar Matrosen Radau, lehnten sich weit über die Kaimauer und grölten ein Trinklied: «He ho, spielt auf zum Tanz, der Prior von Prickhingham hat’n dicken...»
Meine Begleiterin stieß einen nicht ganz überzeugenden Empörungsschrei aus und hielt sich die Ohren zu.
«Kein Grund zur Sorge», sagte ich beschwichtigend. «Sie singen: ‹... hat ‘nen dicken Wanst›.»
«Ich weiß.» Sie nickte. «Das singen sie. Aber woran denken sie dabei?» Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: «Diese Narren werden gleich ins Wasser fallen und sich als begossene Pudel vor der Wache wiederfinden. Aber damit müssen die sich herumschlagen, nicht wir. Wenn du mir deinen Arm gibst, können wir jetzt in die Broad Street gehen, und du bekommst endlich das Essen, das ich dir versprochen habe. Übrigens, wie heißt du eigentlich?»
«Roger.»
«Und ich heiße Marjorie Dyer. Mein Vater war Färber. Aber er ist schon lange tot – Gott sei seiner Seele gnädig!» Sie drückte meinen Arm und schlurfte neben mir her. «Tut mir leid, daß ich so langsam gehe, aber je wärmer es ist, desto mehr schmerzen meine Beine. Kopf hoch, Roger! Es ist nicht mehr weit.»
«Gut», sagte ich. «Ich habe seit Stunden nichts mehr gegessen. Mir ist schon ganz schlecht vor Hunger!»