Читать книгу Die letzte Rast - Kate Sedley - Страница 5
2
ОглавлениеMir fällt ein, daß ich bisher für die politischen Ereignisse, die sich an jenem warmen Maimorgen in Bristol abspielten, noch keine Erklärung gegeben habe. Nun... Politik ist langweilig, und ebenso langweilig sind Daten und Fakten. Doch die erwähnten Ereignisse und ihre Folgen blieben auf meine Geschichte und die Lösung meines ersten Rätsels nicht ohne Auswirkungen, weshalb ich mich verpflichtet fühle, zumindest ein grobes Bild von der Lage zu geben. Ich verspreche gern, mich kurz zu fassen. Denn von den Grünschnäbeln der jetzigen Generation, die so fieberhaft mit ihren neuartigen Lehren beschäftigt sind, kann ich wohl kaum erwarten, daß sie genug Geduld aufbringen, sich mit all den Wirren zu befassen, denen unser Land im vorigen Jahrhundert ausgesetzt war. Ich selbst wußte, als ich noch so jung war wie sie, herzlich wenig darüber, und mein jetziges Wissen rührt vom Alter, vom Hörensagen und vom Lesen und jahrelangen Zusammentragen einzelner Mosaikstücke her.
Im Jahre 1399 wurde König Richard II. entthront und schließlich ermordet. Hinter dieser Verschwörung steckte sein Vetter, Heinrich von Bolingbroke, der sich als König Heinrich IV. der Krone bemächtigte.
Thronerbe des kinderlosen Richard war jedoch eigentlich sein Vetter Roger Mortimer, der Enkel Lionels, des dritten Sohns Eduard III. Heinrich dagegen war der Sohn des John von Gaunt, einem jüngeren Sohn Eduards III., und aus diesem Streit entstand ein halbes Jahrhundert später ein blutiger Erbfolgekrieg.
Richard Plantagenet, Herzog von York und direkter Nachfolger von Roger Mortimer, wollte seinem Vetter, König Heinrich IV., dem Enkel Heinrichs von Bolingbroke, die Krone abspenstig machen. Die unbarmherzige Feindschaft der Königin, Margarete von Anjou, bestärkte ihn in diesem Plan. Sein Schwager, der Graf von Salisbury, und dessen ältester Sohn, der Graf von Warwick, unterstützten ihn.
Der Krieg begann am 22. Mai 1455. Fünf Jahre später ließen sowohl der Herzog von York als auch der Graf von Salisbury bei der Schlacht von Wakefield ihr Leben. Sechs Monate nach dem Tod seines Vaters wurde der älteste Sohn des Herzogs von York als König Eduard IV. in der Westminsterabtei zum König gekrönt.
Anfangs verlief alles gut, und der scheinbar sehr umgängliche achtzehnjährige junge Mann zollte den Drahtziehern seines Sieges Dankbarkeit und Respekt. Dazu gehörte vor allem die Familie Neville, deren Oberhaupt sein Vetter, der mächtige Graf von Warwick, war.
Im Jahre 1464 jedoch, als der Graf von Warwick noch an einer Allianz mit Frankreich schmiedete, die er durch die Verehelichung von Eduard mit Bona von Savoy zu besiegeln trachtete, heiratete Eduard heimlich Elisabeth Woodville, die Witwe des Lord Grey von Lancaster. Sie war fünf Jahre älter als Eduard und hatte bereits zwei Söhne.
Diese Heirat befremdete nicht nur den Grafen von Warwick, sondern auch Eduards Bruder Georg, den Herzog von Clarence. Richard von Gloucester, des Königs jüngster Bruder, hielt ihm jedoch die Treue, auch wenn ihm die Familie Woodville gründlich verhaßt war.
1469 setzte die Familie Neville den jungen König gefangen und schickte sich an, die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand zu nehmen, indem sie den Gefangenen als Strohmann benutzte. Als dies scheiterte, erklärte der Graf von Warwick, Eduard sei in Wahrheit kein eheliches Kind, und rief seinen Schwiegersohn, den Herzog von Clarence, zum König aus. Als auch dieser Plan mißlang, flohen Warwick und Clarence mit ihren Frauen nach Frankreich. Dort schloß der Graf unter völliger Mißachtung seiner bisherigen Allianzen Frieden mit Margarete von Anjou und erklärte sich bereit, den gefangenen Heinrich VI. wieder als König einzusetzen.
Im Herbst 1470, ein Jahr, bevor meine Geschichte beginnt, drei Monate, bevor meine Mutter starb, und acht Monate, bevor ich von Wells nach Bristol wanderte, kehrten Warwick und Clarence, von König Ludwig von Frankreich mit Geld und Soldaten ausgerüstet, nach England zurück. Eduard wurde überlistet und in eine Falle gelockt. Mit dem Herzog von Gloucester und einer Handvoll treuer Freunde floh er nach Burgund, wo er sich seinem Schwager, Herzog Charles, auf Gnade oder Ungnade auslieferte. Elisabeth Woodville suchte mit ihren Kindern Zuflucht in der Westminsterabtei. Die einstige Königin brachte dort einen Sohn zur Welt, den sie nach seinem Vater Eduard nannte.
Im März des folgenden Jahres kehrte Eduard aus Burgund zurück, um seine Krone zurückzufordern. Er und sein jüngster Bruder landeten in Ravenspur. Ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen, marschierten sie in Richtung Süden. In Banbury stieß der Herzog von Clarence zu ihnen, und Anfang April traf Eduard in London ein.
Der Graf von Warwick zog von Coventry aus gegen ihn ins Feld, wurde aber am Ostersonntag bei Barnet geschlagen und getötet. Am nächsten Tag landete Margarete von Anjou mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Weymouth, wo sie von der schrecklichen Nachricht erfuhren. Anstatt London anzugreifen, marschierte die Armee der Königin nach Nordwesten, um sich mit Heinrichs Halbbruder, Jasper Tudor, in Wales zu vereinigen. Ende April erreichte sie Bristol. Einige Tage später erfuhr Margarete, daß Eduard schon in Malmesbury war und auf Bristol zumarschierte, um ihr den Weg abzuschneiden. Am 2. Mai, jenem warmen, sonnigen Donnerstag, an dem mir zum ersten Mal Clement Weavers Name zu Ohren kam, verließ sie in dem verzweifelten Versuch, Eduard zuvorzukommen, mit ihren Truppen in größter Eile die Stadt.
Wir erreichten das Haus des Ratsherrn Weaver, das in der Broad Street lag, von der Rückseite her durch die enge Tower Lane. Hinter dem Haus lag, wie ich mich deutlich erinnere, ein kleiner, ummauerter Garten mit einem Birnbaum und einem Apfelbaum, die beide in voller Blüte standen, einem Kräuterbeet, einer Blumenrabatte, die sich an der Mauer entlangzog, und einem überdachten Abtritt. Marjorie Dyer wählte einen Schlüssel aus dem großen Bund, der an ihrem Gürtel baumelte, und schloß eine Tür auf, die in die Küche führte.
Die Küche war mit Steinplatten gepflastert und mit Binsen ausgestreut. Der Eintopf in dem großen Eisentopf, der über dem Feuer hing, war für das Abendessen der Familie bestimmt. Eine eiserne Pfanne, mehrere Schöpfkellen und Löffel, Schüsseln und Kannen standen auf Holztischen verteilt. Große Hammel- und Rindfleischstücke hingen an Metallhaken von der Decke. Es erinnerte mich sehr an die Küche meiner Mutter, nur daß diese Küche hier sehr viel größer war. Nun gut... ich will ehrlich sein. Im Haus meiner Mutter hatten wir nur ein einziges Zimmer. Den Luxus einer abgetrennten Küche hatte ich bis dahin nicht kennengelernt.
Das mehrstöckige Haus, in dem ich mich jetzt befand, hatte jedoch nicht nur eine Küche, sondern ganz bestimmt auch eine Speisekammer, ein Eßzimmer, eine große Halle und mehrere Schlafzimmer. Auch über Schlafzimmer wußte ich damals nicht viel. Bei meiner Mutter hatte ich auf einem niedrigen Rollbett in einer Ecke der Küche geschlafen, im Kloster in einem großen Schlafsaal mit den anderen Novizen. Es war das erste Mal, daß ich im Hause eines reichen Bürgers war.
«Setz dich.» Marjorie Dyer deutete mit dem Kopf auf einen Stuhl, der in der Nähe des Herdes stand und mit rot-grünem Stoff bezogen war. «Laß dein Bündel an der Tür stehen, das schaue ich mir später an. Nadeln und Garn könnte ich gut gebrauchen. Mir ist beides knapp geworden.»
Ich versicherte ihr, daß ich mit beidem dienen könne, und ließ die schwere Last dankbar von den Schultern gleiten. Seit Sonnenaufgang war ich auf den Beinen gewesen und wurde langsam müde. Erschöpft ließ ich mich auf den Stuhl fallen, den sie mir zugedacht hatte, rückte aber ein gutes Stück vom Feuer ab. Die Hitze war einfach zu groß, und der Rauch ließ meine Augen tränen. Marjorie hantierte in der Küche herum und musterte mich mit ihren klugen, braunen Augen.
«Du bist ein großer Kerl. Fast so groß wie König Eduard. Und der mißt mehr als sechs Fuß.»
«Hast du ihn denn schon einmal gesehen?» fragte ich, matt von der Wärme des Feuers. Marjorie reichte mir einen Krug mit Ale, und der köstliche Geschmack der kalten, bitteren Flüssigkeit trug einiges zu meiner Wiederbelebung bei.
«Nur kurz. Vor zehn Jahren kam er mal nach Bristol. Er ist sehr groß und stattlich, hat helles Haar und blaue Augen, genau wie du. Die Frauen waren verrückt nach ihm.» Sie grinste. «Während seines Besuchs gab es jede Menge gehörnte Ehemänner. Es heißt, er sei ein großer Frauenheld.»
Sie schien auf ein ganz bestimmtes Thema zusteuern zu wollen und sah mich fragend an, aber ich schüttelte den Kopf. «Ich bin in diesen Dingen völlig unerfahren», sagte ich. «Im Kloster hatte ich wenig Gelegenheit, meine Unschuld zu verlieren.» Ich hatte ihr unterwegs in kurzen Worten meine Lebensgeschichte erzählt.
Ihr Kichern verwandelte sich in lautes Gelächter: «Da habe ich über das Klosterleben aber ganz andere Dinge gehört.»
«Ich weiß, ich weiß», antwortete ich. «Es werden viele Geschichten erzählt, und ich bezweifle nicht, daß es in manchen Klöstern ziemlich lax zugeht. Aber die Novizen in Glastonbury hatten einen sehr strengen Vorsteher.»
Marjorie zuckte mit den Schultern. «Du bist jung. Es gibt keinen Grund zu Eile.» Über ihr Gesicht huschte ein Schatten. Sie machte am Tisch einen Platz für mich frei. «Aber das soll nichts heißen. Jugendliches Alter allein bürgt nicht für Langlebigkeit.» Mit einem großen Schöpflöffel füllte sie mir von dem Eintopf auf.
Ich stand auf. In der einen Hand den halbleeren Alekrug, in der anderen meinen Stuhl, durchquerte ich die Küche und nahm am Eßtisch Platz. «Im Sommer wird uns wohl wieder die Pest ereilen.»
Zu dem Teller mit dem dampfenden Fleisch und Gemüse tischte mir Marjorie Schwarzbrot, in Ampferblätter eingewickelten Ziegenkäse und einen Teller mit rohen, jungen Lauchzwiebeln auf. «Ich habe dabei nicht unbedingt an irgendwelche Krankheiten gedacht», sagte sie dann. «Es... gibt auch Unfälle und... Morde.» In der plötzlichen Stille, die ihren Worten folgte, war nur das Knistern des Feuers zu hören.
Ich schluckte den ersten Bissen Eintopf herunter und wiederholte: «Morde?» Aus der Art, wie sie es gesagt und mich dabei angesehen hatte, konnte ich schließen, daß es keine beiläufige Bemerkung gewesen war. Das Wort hatte eine ganz besondere Bedeutung für sie.
Sie nahm meinen Krug, ging damit zu dem großen Faß, das bei der Tür stand, füllte ihn und zog sich einen Stuhl heran. «Vergiß, was ich gesagt habe. Es ist nicht recht, mit einem Fremden über die Sorgen der Familie zu sprechen.»
Ich wischte mir den Mund an meinem Ärmel ab. Meine Tischmanieren waren damals noch recht ungehobelt. «Das ist ungerecht», beklagte ich mich. «Erst machst du mich neugierig, und dann willst du mir nicht erzählen, worum es geht. Du kennst also jemanden, der ermordet wurde?»
Marjorie nahm eine Lauchzwiebel vom Tisch und begann, darauf herumzuknabbern. «Das war nur so ein ganz allgemeiner Satz. Ich hab nie behauptet, jemanden zu kennen, der ermordet wurde.»
Offenbar sah sie den Zweifel in meinem Gesicht, denn nach einer Weile sagte sie: «Schon gut. Obwohl ich eigentlich nicht mit dir darüber sprechen sollte. Außerdem weiß ja niemand so richtig, ob es überhaupt ein Mord war. Bisher handelt es sich genaugenommen nur um so eine Art... rätselhaftes Verschwinden.»
«Und wer ist verschwunden?» Die Sache begann mich zu interessieren, zumal mein ärgster Hunger fürs erste gestillt war. Durch die offene Küchentür drang warme Frühlingsluft zu uns herein, und in der Ferne war der Lärm der Stadt zu hören.
«Der Sohn des Ratsherrn», sagte Marjorie so zögerlich, als bereue sie es schon, überhaupt davon gesprochen zu haben. Trotzdem fuhr sie fort: «Er ist im letzten Winter in London verschwunden.»
Ich brach mir ein Stück Brot ab. «Du meinst, man hat keine Leiche gefunden? Wie kommst du dann dazu, einen Mord zu vermuten?»
«Weil die Umstände seines Verschwindens so rätselhaft waren.» Sie beugte sich vor und legte die rundlichen Arme auf den Tisch. «Clement hatte keinen Grund, von zu Hause wegzulaufen – falls du so etwas denken solltest.»
Ja, der Gedanke war mir tatsächlich durch den Kopf gegangen, das gab ich zu, und ich wollte ihn auch so schnell nicht wieder aufgeben. «Wie alt war Master Clement?»
«Ungefähr so alt wie du. Vielleicht ein bißchen älter.»
Ich dachte nach. «Meine Mutter hat immer gesagt, ich sei im selben Jahr geboren wie der Herzog von Gloucester. Demnach zähle ich jetzt neunzehn Lenze.»
Marjorie nickte. «Das könnte stimmen. Clement wird so ungefähr neun Jahre alt gewesen sein, als König Eduard in Bristol war.»
«Und zehn Jahre später war er vielleicht genau im richtigen Alter, um sich mit seinem Vater zu streiten und zu beschließen, von nun an sein eigener Herr zu sein.»
Marjorie schüttelte den Kopf. «Nein!» sagte sie mit großem Nachdruck. «Clement hat sich mit seinem Vater sehr gut verstanden, genau wie seine Schwester. Der Ratsherr war immer ein sehr nachsichtiger Vater, hat seine Kinder viel zu sehr verwöhnt, wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst. Seitdem seine Frau gestorben ist, zu Michaelis war das ein Jahr her, waren Alison und ihr Bruder alles für ihn. Wenn Alison demnächst heiratet, wird er sehr einsam sein. Trotzdem würde er nie versuchen, ihrer Zukunft im Wege zu stehen, würde die Hochzeit niemals verschieben, nur um sie noch länger bei sich zu behalten. Ich kenne genug Männer, die selbstsüchtig genug wären, ihre Töchter an sich zu ketten, und es ist mir ganz egal, was du jetzt zur Verteidigung deines Geschlechts vorbringen wirst.»
«Ich werde mich hüten, irgend jemanden zu verteidigen», entgegnete ich. «Ich mache mir keine falschen Vorstellungen über die Unzulänglichkeiten der Menschen, ob sie nun männlich oder weiblich sind. Alle Menschen haben Schwächen.»
«Ein ganz schön altkluges Kerlchen, das ich da auf der Straße aufgelesen habe», spottete sie.
Ich tat, als hätte ich es nicht gehört. «Clement Weaver ist also nicht freiwillig verschwunden. Hat der Ratsherr keine Erkundigungen eingezogen?»
«Natürlich hat er das, du Dummkopf! Er ist höchstpersönlich mit seinem Bruder und zwei seiner Neffen nach London gereist. Sie haben dort mehrere Monate lang die ganze Stadt durchkämmt. Sie konnten sogar Lord Stanleys Hilfe gewinnen, doch auch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Clement wurde nie gefunden. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.»
Ich hatte mittlerweile meinen Eintopf aufgegessen und schaute bedeutungsvoll auf meinen leeren Teller. Marjorie verstand meinen Wink und ging zum Herd, um mir einen Nachschlag zu holen.
«Um dich braucht man sich wohl keine Sorgen zu machen, du kommst überall durch», bemerkte sie trocken.
Ich brauche wohl nicht erst zu erwähnen, daß ich dazu kein Wort verlor. Widerspruchslos beugte ich mich über den vollen Teller, den sie mir hingestellt hatte, und verzehrte genüßlich meine zweite Portion.
Nach einer Weile sagte ich: «Du hast mich wirklich neugierig gemacht, Marjorie. Warum erzählst du mir nicht die ganze Geschichte? Das heißt, natürlich nur, wenn du genug Zeit hast, denn ich sehe wohl, daß du sehr beschäftigt bist.»
«Hmm... und ich sehe, daß du sehr schmeichelhaft reden kannst, wenn es dir paßt. Jemand, der mit seinem Gezwitscher die Vögel von den Bäumen locken kann, wie mein Vater stets zu sagen pflegte. Ich sollte meine Zeit nicht damit vergeuden, hier mit dir in der Küche zu hocken und zu schwatzen. Ich muß fürs Abendessen noch einen Nachtisch zubereiten. Soviel zu erzählen gibt es allerdings auch wieder nicht, die zehn Minuten mehr oder weniger machen wohl nicht viel aus – jedenfalls nicht, wenn man an einer Sache wirklich Interesse hat.»
Da ich gerade einen vollen Mund hatte, nickte ich nur. Doch ehe sie noch beginnen konnte, wurden wir auch schon unterbrochen. Die Tür, die zur Diele führte, öffnete sich, und ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter oder ein bißchen jünger, trat in die Küche.
Alison Weaver, die Tochter des Hauses, war nicht wirklich hübsch zu nennen. Ihre Nase war zu groß, und der breite Mund wirkte ein wenig zu streng. Aber sie hatte wunderbare Augen, haselnußbraun mit grünen Flecken, von herrlich langen, dicken Wimpern eingerahmt. Ihre Haut hatte die Farbe süßen Honigs und war, entgegen der neuesten Mode, nicht künstlich gebleicht. Alison war dünn, aber sehnig und besaß eine Kraft, die den anfänglichen Eindruck von Sanftheit und Verletzlichkeit recht bald verdrängte.
«Marjorie...», begann sie, dann hielt sie abrupt inne. «Wer ist das?» Sie starrte mich und meinen Teller mit Eintopf an.
Marjorie wurde unruhig – ein wenig zu unruhig, wenn man bedachte, daß sie das Mädchen von Kindheit an kannte. Die beiden schienen nicht gerade die besten Freundinnen zu sein.
«Er ist Hausierer. Er hat mir nach Hause geholfen, als meine Beine mal wieder nicht so richtig mitspielen wollten.» Das klang, als müßte sie sich verteidigen, und sie warf mir einen versteckten Blick zu, der mich anzuflehen schien, ihr in Alisons Gegenwart nicht zu widersprechen. Aber was sie gesagt hatte, entsprach ja durchaus der Wahrheit. «Ich fühlte mich sehr schwach, da hat er mich nach Hause gebracht. Um ihm zu danken, habe ich ihm etwas zu essen angeboten.»
Alison starrte mich unverwandt an, dann nickte sie kurz.
«Ist schon recht», sagte sie. «Solange keine Gewohnheit daraus wird. Du kennst Vaters Ansichten über Gesinde, das Fremde bewirtet.» Ich schaute Marjorie an, sah die leicht geröteten Wangen, ein Zeichen ihres inneren Grolls, und fragte mich, warum sie so lange in diesem Haus geblieben war. Doch ehe ich mir noch darüber Gedanken machen konnte, richtete Alison Weaver direkt das Wort an mich. «Was für Waren hast du anzubieten?»
Ich legte den Löffel hin und wischte mir rasch den Mund ab, diesmal allerdings mit dem Handrücken. «Ich... ich habe... feine Spitze», brachte ich mühsam heraus. «Und schöne bunte Schleifen, Nadeln, Garn, Spielzeug... das Übliche.»
An ihrem dunkelgrünen Kleid aus feinem, mit Zobel besetztem Wolltuch konnte ich erkennen, daß Geld bei der Auswahl ihrer Kleidung keine Rolle spielte. Ein Rosenkranz aus rötlichen Korallen umschloß ihr linkes Handgelenk, ein schwarz emaillierter Goldring schmückte den Ringfinger. An der anderen Hand trug sie Ringe mit Edelsteinen, mehrere Goldketten baumelten an ihrem Hals. Es war nicht zu übersehen, daß ihr Vater ein wohlhabender Mann war, und ich bezweifelte, daß sie an den Dingen, die ich in meinem Bündel bei mir trug, Gefallen finden könnte.
Doch wie ich bereits sagte, ich war damals sehr jung und hatte mehrere Jahre lang abseits der Welt gelebt. Ich wußte noch nicht, daß Frauen der Aussicht auf einen günstigen Kauf niemals widerstehen können, besonders wenn er der eigenen Zierde dient.
«Zeig mir, was du hast», befahl sie.
Ich stand hastig auf und schleppte mein Bündel herbei, während Marjorie auf dem Tisch Platz für mich schuf, so daß ich meine Ware auslegen konnte. Ich war mit dieser Ware sehr zufrieden gewesen, als ich sie dem alten Hausierer abgekauft hatte, doch jetzt, in der Küche dieses wohlhabenden Hauses, nahm sie sich recht kümmerlich aus. Vielleicht lag es auch nur daran, daß ich sie jetzt mit den Augen Alison Weavers sah und sie abschätzig mit all den Dingen verglich, die sie in Bristol oder in London kaufen konnte. Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Ohne die anderen Sachen auch nur anzuschauen, streckte sie ihre Hand unwillkürlich nach dem Besten aus, was ich zu bieten hatte: einem schönen Stück gemusterter, elfenbeinfarbener Bordüre. Sie hielt sie gegen das Licht und ließ sie wie einen schimmernden Wasserfall durch die Finger auf den Boden gleiten. Zum ersten Mal sah ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
«Wunderschön, diese Bordüre. Schau doch nur, Marjorie! Damit säume ich den Kragen meines Hochzeitskleids. Ich nehme sie. Das ganze Stück.» Sie fragte nicht einmal nach dem Preis. «Zahl den Mann aus, Marjorie. Ich habe kein Geld bei mir. Vater wird es dir zurückgeben, wenn er nach Hause kommt.»
Marjorie war, wie sich unschwer erkennen ließ, nicht allzu begeistert von der Sache. Sie schlurfte davon, um ihre Börse zu holen, während Alison auf meinen Teller zeigte. «Du kannst deine Mahlzeit ruhig zu Ende essen.» Ich bedankte mich höflich bei ihr, verstaute die restlichen Waren wieder in mein Bündel, nannte Marjorie den Preis für die Bordüre und steckte das Geld ein, ehe ich mich wieder an meinen Eintopf setzte, der mittlerweile kalt geworden war. Er sah grau und unappetitlich aus, und ich hatte wenig Lust, ihn aufzuessen. Ich schob den Teller beiseite und nahm einen letzten Schluck Ale. Gerade wollte ich aufstehen und mich verabschieden, als Alison Weaver einen Stuhl heranzog und sich neben mir niederließ.
«Als ich vorhin hereingekommen bin», sagte sie vorwurfsvoll, «wovon habt ihr beide da gerade gesprochen?»