Читать книгу Die letzte Rast - Kate Sedley - Страница 6
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ОглавлениеIn der Küche herrschte plötzlich eine unangenehme Stille. Ich konnte beobachten, wie Marjorie Dyer fieberhaft darüber nachdachte, ob sie ihrer Herrin die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Ich griff verlegen nach meinem Alekrug, versuchte, durch einen großen Schluck Zeit zu gewinnen. Marjorie räusperte sich, aber ihre Herrin kam ihr zuvor: «Ihr habt über Clement gesprochen, stimmt’s? Du weißt, Vater mag es nicht, wenn du mit fremden Leuten über Familienangelegenheiten sprichst! Du bist eine Klatschbase, Marjorie, und du weißt, was mit Klatschbasen geschieht. Sie müssen im Dorfteich tauchen gehen.»
Der scharfe Tonfall schien dem Mädchen sofort leid zu tun, doch an Marjories Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, daß sie sich über die Zurechtweisung, zumal in meiner Gegenwart, furchtbar ärgerte. Wieder einmal fragte ich mich, wie es sich in Wirklichkeit mit ihr und der Familie Weaver verhielt. Einerseits schien Marjorie als altes, vertrauenswürdiges Mitglied des Haushalts eine bevorzugte Stellung zu genießen, andererseits mußte sie offenbar auch eine Menge Prügel einstecken. «Na ja, vermutlich kann es nicht schaden», sagte Alison Weaver in deutlich versöhnlicherem Ton. «Was hast du ihm alles erzählt?»
«Nur, daß Master Clement im letzten Winter in London verschwunden ist.»
«Und daß man seitdem nie wieder etwas von ihm gehört hat», fügte ich hinzu. «Sonst weiß ich nichts, und Ihr braucht auch keine Angst zu haben, daß ich über Eure Familie irgendwelche Gerüchte in Umlauf setzen werde. Außerdem wollte ich sowieso gerade gehen.»
Ich stand auf, aber das Mädchen machte durch eine Handbewegung klar, daß ich sitzen bleiben sollte. Alison Weaver schien es gewohnt zu sein, daß ihre Befehle befolgt wurden, und damals wußte ich noch nicht, wie man sich erfolgreich zur Wehr setzen kann. Sie sah mich neugierig an.
«Du sprichst anders als die Hausierer, die ich bisher kennengelernt habe. Wer bist du?» fragte sie. Also erzählte ich meine Lebensgeschichte noch einmal von vorn und stellte mit Befriedigung fest, daß Alison Weaver mich als menschliches Wesen wahrzunehmen begann. Mir entging auch nicht, daß sie Gefallen an mir fand. Ich war damals ein gutaussehender Bursche, auch wenn das nach eitlem Selbstlob klingen mag. Als ich mit meiner Geschichte zu Ende war, stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände; sie hatte kleine Hände, die unruhig hin- und herflatterten, wie eingesperrte Vögel.
«Willst du die ganze Geschichte hören?» fragte sie mich. «Ich meine, wie mein Bruder verschwunden ist?»
«Wenn Ihr sie mir erzählen wollt», erwiderte ich ernst.
«Was meinst du, Marjorie? Ob Vater etwas dagegen hätte?»
Marjorie zuckte mit den rundlichen Schultern. «Vielleicht, aber er ist ja nicht zu Hause. Und er wird auch nicht vor ein, zwei Stunden wieder zurück sein. Er ist zum Gildetreffen gegangen und wollte anschließend noch zu einem Gottesdienst in der Katharinenkapelle.» Und an mich gewandt, fügte sie hinzu: «Katharina ist die Schutzheilige der Weber, mußt du wissen.»
Alison zuckte daraufhin ebenfalls mit den Schultern und sagte: «Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.»
Ich habe mein ganzes Leben lang immer wieder über die praktische Einstellung der Frauen gestaunt; ich glaube, sie kennen keine angeborenen Skrupel. Allerdings war ich für diese Tatsache auch häufig dankbar, zum Beispiel jetzt, denn meine Neugier war geweckt, und sie unbefriedigt zu lassen, wäre ungefähr so grausam gewesen, wie einem Verdurstenden einen Schluck Wasser zu verwehren.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fragte Marjorie: «Soll ich uns allen etwas Ale einschenken?»
Ihre Herrin nickte. «Und mach die Tür ruhig noch ein Stückchen weiter auf. Es ist stickig hier drinnen beim Feuer.»
Marjorie nahm meinen leeren Krug, zog zwei weitere aus einem Regal und füllte alle drei Krüge am Alefaß auf. Dann schob sie die Tür zum Garten auf, so daß die frische, würzige Luft in die Küche zog. Es war draußen sehr heiß geworden. Die Luft flimmerte und blitzte wie blankgeputztes Metall, und einen kurzen Augenblick lang war nur der ferne Schrei eines Vogels zu hören. Doch allmählich sickerte der Lärm der Stadt wieder zu uns durch, nahm stetig zu wie eine langsam steigende Flut.
Alison Weaver nippte an ihrem Ale und spielte mit den Perlen an ihrem Rosenkranz. «Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll», sagte sie.
«Beginnt doch mit Eurer Reise nach London. Aus der Zeit davor gibt es nicht viel zu erzählen.»
Marjorie schien mir mit unnötiger Schärfe zu sprechen. Ein kurzer Seitenblick sagte mir, daß sie sehr aufgeregt war. Clement Weaver war vermutlich ihr Liebling gewesen; vielleicht hatte er sich weniger herrisch aufgeführt als seine spitzzüngige Schwester. Ich stellte mir Clement als einen sanften, zurückhaltenden Jungen vor, den der frühe Tod der Mutter tief getroffen hatte.
Alison nickte, trank etwas von ihrem Ale, stützte wieder die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. «Es war noch vor Weihnachten, im letzten Jahr», begann sie, «etwa um Allerheiligen...»
Alison hatte sich damals gerade mit William Burnett verlobt, dem Sohn eines angesehenen Bürgers und Mitglieds der Webergilde. Die Burnetts schienen noch wohlhabender zu sein als die Weavers, denn in Redcliffe arbeiteten fast hundert Weber für sie, und sie nahmen für sich in Anspruch, mit dem Adelshaus derer von Burnett, einem Dorf nur wenige Meilen außerhalb Bristols, verwandt zu sein. Es handelte sich also um eine Verbindung, aus der die eine Familie größeren Nutzen ziehen würde als die andere, und Ratsherr Weaver war entschlossen, bei der Ausrichtung der Hochzeit seiner Tochter keine Kosten zu scheuen. Vor allem ihre Brautgewänder sollten die schönsten und wertvollsten sein, die für Geld zu bekommen waren, und die Kaufleute in Bristol wurden für unwürdig erachtet, die notwendigen Stoffe zu beschaffen. Alison wurde daher – in Begleitung ihres Bruders Clement – in aller Eile nach London geschickt, wo sie bei ihrem Onkel, dem Bruder des Ratsherrn, und dessen Frau wohnen sollte. John Weaver, der ebenfalls im Tuchhandel tätig war, hatte anläßlich seiner eigenen Heirat vor etlichen Jahren beschlossen, sein Glück in der Hauptstadt zu versuchen, und war inzwischen fast so reich wie sein älterer Bruder. Er und seine Frau lebten im Bezirk Farringdon, der, wie Alison mir angesichts meiner Unkenntnis Londons und seiner Umgebung erklärte, den Viehmarkt von Smithfield, die Priorei von St. Bartholomäus und den Temple mit seinen Parks bis hinunter zum River Fleet umfaßte. Außerdem war er leicht vom Bezirk Port-soken aus zu erreichen, wo die Weber ihre Werkstätten hatten.
«Ihr solltet beide bei Eurem Onkel und Eurer Tante wohnen?» fragte ich, als Alison einen Augenblick lang innehielt. «Ihr und Euer Bruder?»
Es schienen jedoch andere Pläne bestanden zu haben. John Weaver und seine Frau Alice hatten zwei erwachsene Söhne, von denen der eine zwar bereits verheiratet war, aber noch keinen eigenen Hausstand gegründet hatte. Man konnte daher nur Alison ein Bett anbieten, für Clement gab es in der Wohnung keinen Platz. Er sollte, genau wie sein Vater, der Ratsherr, wenn er in der Hauptstadt war, im Baptist’s Head übernachten, das in der Crooked Lane, in einer Seitengasse der Thames Street lag. Das Gasthaus wurde von einem alten Freund der Weavers aus Bristol, Thomas Prynne, betrieben.
«Erinnerst du dich?» fragte Marjorie und stieß mich leicht in die Rippen. «Ich habe dir erzählt, daß er der Wirt des Running Man war, ehe er nach London ging.»
Ich nickte. «Du wolltest mir das Gasthaus jetzt, wo es einen anderen Wirt hat, nur ungern empfehlen.»
«Prynne ist ein guter Mensch», sagte Marjorie. «Er war in Bristol beliebt, und wir vermissen ihn sehr. Er und der Ratsherr waren enge Freunde. Sie sind zusammen in Bedminster aufgewachsen.»
Ratsherr Weaver hatte seinen Jugendfreund überflügelt und war aus eigener Kraft zu Ansehen und Reichtum gelangt, nicht etwa durch Erbschaft wie später seine Kinder. Oder nur noch ein Kind? Ich schaute Alison an, die daraufhin ihren Faden wieder aufnahm.
«Wie ich schon sagte...» Sie warf ihrer Haushälterin einen mißbilligenden Blick zu, als hätte die Unterbrechung sie ärgerlich gemacht. «Clement sollte im Baptist’s Head übernachten. Was Thomas Prynne betrifft, hat Marjorie recht», räumte sie ein. «Mein Vater kennt ihn von Kindesbeinen an. Als Clement und ich noch klein waren, nannten wir ihn immer Onkel Thomas, obwohl meine Mutter davon nicht so angetan war. Sie war eine de Courcy, mußt du wissen.» Sie sagte das so, als würde es alles erklären, und in gewisser Hinsicht tat es das auch. Der Name klang nach altem normannischem Adel, und der Ratsherr, der weiter aufsteigen wollte, hatte die Heirat mit einem Sproß dieser Familie zweifellos für sein Fortkommen als förderlich erachtet. Ich fragte mich, wieviel Mitgift Alisons Mutter ihm wohl gebracht hatte. Eher wenig, nahm ich an. Ich stellte mir eine glücklose, verarmte Adelsfamilie mit anmaßenden Ansprüchen vor, die gezwungen war, sich mit dem neureichen Bürgertum zu verbinden. Wie glücklich eine solche Verbindung wohl gewesen sein mochte? fragte ich mich. Aber Alison erzählte munter weiter und hielt mich davon ab, meine Gedanken weiter schweifen zu lassen: «Vater hätte Clement nirgendwo sonst in London wohnen lassen. Und schon gar nicht auf dieser Reise. Es war absolut notwendig, daß mein Bruder in die Obhut eines Menschen kam, dem mein Vater voll und ganz vertrauen konnte.»
Ich nahm einen Schluck von meinem Ale. «Warum?» fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte.
Alison Weaver drehte den schwarz-goldenen Ring an ihrem Finger. «Er trug eine Menge Geld bei sich. Geld, das für den Kauf meiner Brautgewänder bestimmt war.»
«Wieviel Geld?» fragte ich, denn in meinem Eifer hatte ich völlig vergessen, daß ich bloß ein kleiner Hausierer war und sie die Tochter eines Ratsherrn. Ich spürte, wie mir Marjorie unter dem Tisch gegen das Schienbein trat.
Alison war jedoch viel zu sehr in ihrer Geschichte gefangen, um meine Ungehörigkeit zu bemerken oder sich, falls sie sie doch bemerkt hatte, darum zu scheren. Die Geschehnisse müssen ihr in den letzten Monaten immer wieder durch den Kopf gegangen sein.
«Einhundert Pfund», sagte sie in ehrfürchtigem Ton. «Ein Teil davon war natürlich für die Hansekaufleute im Stalhof gedacht. Vater erzählte mir später, er habe ihnen, ohne es zu wollen, für eine Tuchlieferung zuviel berechnet und daher Clement angewiesen, ihnen den überschüssigen Betrag auszuzahlen.»
«Ziemlich viel Geld, um einfach so damit herumzuspazieren.»
«Es konnte nicht gutgehen», seufzte Marjorie.
«Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt!» wies ihre Herrin sie zurecht. «Außerdem wußte niemand, wieviel Geld Clement bei sich trug. Nicht einmal ich wußte Bescheid. Niemand hätte ahnen können, daß er eine so große Summe bei sich hatte.»
«Wegelagerer und Diebe», erinnerte ich sie sanft, «lassen keine Gelegenheit aus, sich zu bereichern. Sie haben für jede Summe Verwendung. Ein paar Kupfermünzen sind ihnen einen Überfall ebenso wert wie zwanzig Goldstücke. Und wenn ihnen durch Zufall ein größerer Fisch ins Netz geht, schätzen sie sich um so glücklicher.»
«Genau das habe ich auch gesagt!» warf Marjorie mit ernster Miene ein. «Ich wünschte bloß, ich hätte gewußt, wieviel Geld der Ratsherr seinem Sohn mitgeben wollte. Ich hätte versucht, es ihm auszureden oder ihn davon zu überzeugen, daß er selbst nach London reist. Ein junger Mann, ganz auf sich allein gestellt, die Börse voller Gold – das beschwört das Unheil geradezu herauf! Erst recht in einer so verderbten Stadt wie London!»
Alison sprang auf. Ihre braunen Augen sprühten wütende Funken. «Sei endlich still, Marjorie! Halt deinen Mund! Hinterher ist man immer schlauer als vorher.»
Dieser Schluß schien mir nicht ganz gerechtfertigt zu sein. Wäre Marjorie in die Pläne des Ratsherrn eingeweiht gewesen, wäre sie sicherlich auch schon vorher schlauer gewesen und hätte versucht, das drohende Unheil von Master Clement abzuwenden. Der Ratsherr hatte sich töricht verhalten. In diesem Punkt stimmte ich mit Marjorie überein, und ich fühlte mich verpflichtet, für sie Partei zu ergreifen.
«Ich habe auch gehört», begann ich vorsichtig, «daß die Straßen Londons ein sehr gefährliches Pflaster sind.»
Mir fiel auf, daß sich das Licht seit dem Beginn unseres Gesprächs verändert hatte. Durch die offene Küchentür waren die Bäume und, über der Gartenmauer, die Dächer der Nachbarhäuser zu sehen. Ihre Farben hatten vor dem plötzlich verdunkelten Himmel ein neues, tieferes Leuchten angenommen. Der Tag, der so schön begonnen hatte, würde mit Regen enden. Wie zur Bestätigung meines Eindrucks war in der Ferne ein leichtes Donnergrollen zu hören. Ich dachte wieder an Aufbruch. «Ich muß jetzt wirklich gehen. Ich muß meinen Lebensunterhalt verdienen und eine Herberge finden, ehe das Gewitter losbricht.»
Alison wandte ihren hübschen kleinen Kopf zu mir um. «Setz dich», befahl sie. «Du hast das Ende der Geschichte noch nicht gehört.» Verärgert fügte sie hinzu: «Oder interessiert sie dich nicht?»
«Doch, natürlich interessiert sie mich.» Es war die Wahrheit. «Ich habe bloß heute außer dem Stück Bordüre, für das Ihr Euch entschieden habt, noch nichts verkauft. Und ich brauche Geld, wenn ich heute nacht im Trockenen und nicht unter irgendeiner Hecke schlafen will.»
Ich wollte aufstehen, doch allein durch ihre Willenskraft zwang sie mich, wider besseres Wissen sitzenzubleiben.
«Du kannst heute nacht hier schlafen», sagte sie dann, worüber nicht nur ich, sondern auch Marjorie überrascht war. «Hier neben dem Feuer in der Küche ist genug Platz für dich. Ich werde es Vater sagen, wenn er nach Hause kommt.»
Als ich später an diesen Tag zurückdachte, wurde mir klar, daß das rätselhafte Verschwinden ihres Bruders Alison Weavers Gedanken völlig beherrschte. In diesem Haus wurde über nichts anderes gesprochen, aber die Gespräche drehten sich letztendlich im Kreis, so daß es bald nichts Neues mehr hinzuzufügen gab, denn jeder führte nur noch seine alten, oft wiederholten Meinungen an. Alison brauchte einen frischen Geist, brauchte frische Gedanken, wollte einfach nicht hinnehmen, daß es für dieses Rätsel keine Lösung geben und sie ihren Bruder nicht lebend wiedersehen sollte, obwohl ich dies nach allem, was ich bis dahin gehört hatte, für das weitaus wahrscheinlichste Ergebnis sämtlicher Erörterungen hielt. Ein wohlhabender junger Mann, der überfallen und ausgeraubt, anschließend ermordet und in den nächsten Fluß geworfen wurde – war das denn wirklich etwas so Außergewöhnliches? Es gehörte zu den üblichen Gefahren des täglichen Lebens. Lehrte uns außerdem nicht die Heilige Schrift, daß dem Menschen auf Erden nur eine kurze Spanne zugemessen ist? Mord, Plünderung, Hungersnot, Pest – all das waren doch nur Werkzeuge Gottes.
Nicht ohne Schrecken bemerkte ich, daß ich genauso dachte, wie es mir die Mönche, meine Lehrmeister, immer hatten eintrichtern wollen. Dabei hatte ich doch gerade ihrer bedingungslosen Unterwerfung unter den Göttlichen Willen entfliehen wollen und mich auch aus diesem Grund gegen das Mönchsgelübde entschieden. «Euer Vater wird niemals zulassen, daß der Hausierer hier schläft», wandte Marjorie ein. «Er sollte lieber verschwunden sein, wenn der Ratsherr zurückkommt.»
«Ich habe dir doch gesagt, ich werde mit Vater sprechen», setzte Alison sich über die Bedenken ihrer Haushälterin hinweg. Dann wandte sie sich wieder an mich. «Nun, was sagst du? Wirst du bleiben? Der Preis, den ich dir für die Bordüre bezahlt habe, müßte doch wohl ausreichen, um dich für die nächsten paar Tage zu verköstigen.»
«Den ich bezahlt habe», murmelte Marjorie vor sich hin, aber nicht so leise, daß ihre Worte nicht doch hörbar gewesen wären. Ich fürchtete schon einen neuerlichen Wutausbruch ihrer Herrin, doch Alison schien gar nicht darauf eingehen zu wollen, sondern richtete ihre Augen fragend auf mich.
«Wenn Ihr sicher seid, daß es Eurem Vater nichts ausmacht, wäre ich für das warme Feuer und ein anständiges Essen dankbar.» Ich konnte draußen die ersten Regentropfen auf die Blätter der Bäume klatschen hören. Die Luft war schwer und windstill, doch das Rascheln der Zweige ließ darauf schließen, daß ein Sturm aufkommen würde. Eine kalte, nasse Nacht stand bevor.
«Die Sache mit meinem Vater kannst du getrost mir überlassen», sagte Alison bestimmt. «Also, wo waren wir stehengeblieben?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: «Es war nicht so, wie du denkst, und auch nicht so, wie Marjorie dich gerne glauben lassen will. Mein Bruder ist nicht mit einem Haufen Geld in der Tasche durch die Straßen Londons spaziert. Wir sind zu Allerheiligen von Bristol abgereist. Zwei unserer Männer, Ned Stoner und Rob Short, begleiteten uns. Joan, mein Dienstmädchen, ist auf Neds Pferd mitgeritten. Wir mußten auf dem Weg dreimal übernachten, und mein Vater hat vier weitere Männer angeheuert, die uns bis Chippenham begleiteten. Als wir uns London näherten, sandte uns mein Onkel zwei seiner Diener entgegen. Sie sollten uns in Paddington treffen und anschließend in die Stadt begleiten.» Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen, und wieder war draußen ein Donner zu hören. Das Gewitter schien näher zu kommen. Der Regen prasselte jetzt auf die Bäume.
«Dann wart Ihr also gut beschützt», sagte ich.
Sie nickte. «Jedenfalls die meiste Zeit. Und selbst als wir nur zu fünft waren, reisten wir mit einer Gruppe von Kaufleuten, die wir in einer der Herbergen kennengelernt hatten. Mein Vater hatte es uns empfohlen, und wir befolgten seinen Rat.»
«Und?» fragte ich, als sie sich in Tagträumen zu verlieren schien. «Was geschah, als Ihr schließlich in London eingetroffen seid?»
«Wie bitte? Ach, so. Es regnete ziemlich stark, deshalb hat mir mein Onkel seine Kutsche entgegengeschickt. Clements Stute Bess hatte ein Hufeisen verloren, und da wir Zeit sparen wollten – es war später Nachmittag und wurde schon langsam dunkel –, kamen wir überein, daß Clement mit Joan und mir in der Kutsche fahren und Ned am nächsten Morgen nach Paddington zurückreiten sollte, um Bess von der Schmiede abzuholen. Als erstes fuhren wir nach Dowgate, um meinen Bruder abzusetzen. Er stieg an der Ecke aus, an der die Thames Street auf die Crooked Lane trifft.»
«Allein? Warum sind Ned oder Rob nicht bei ihm geblieben?»
«Rob führte mein Pferd und sollte gemeinsam mit mir und Joan bei meinem Onkel übernachten. Ned sollte mit Clement im Baptist’s Head absteigen, aber die beiden Männer meines Vaters wollten unbedingt, daß er bei uns blieb. Sie erzählten uns lauter schauerliche Geschichten über bewaffnete Räuberbanden, die nachts die Straßen der Stadt unsicher machten und es vor allem auf die Frauen abgesehen hätten. Mein Bruder drängte Ned, bei mir und Joan zu bleiben. Sobald ich sicher bei meinem Onkel angekommen sei, könne Ned zum Baptist’s Head zurückkehren. Außerdem lag das Gasthaus nur ein kurzes Stück die Straße hinunter, in Sichtweite der Kreuzung, an der wir uns befanden.» Alison befeuchtete den Zeigefinger mit Ale und zeichnete einen groben Plan auf den Tisch. «Das hier ist die Thames Street», erklärte sie. «Und das...», sie zeichnete einen zweiten feuchten Strich im rechten Winkel zum ersten, «das ist die Crooked Lane, die zum Fluß und zu den Docks hinunterführt.
Hier, genau an der Ecke, wo wir Clement abgesetzt haben, liegt ein anderes Gasthaus, das Crossed Hands Inn. Das Baptist’s Head liegt ein Stück die Straße hinunter auf der anderen Seite. Wir konnten das Wirtshausschild und die Lichter sehen. Clement mußte also wirklich nur ein paar Schritte gehen, deshalb warteten wir auch nicht. Die Männer meines Onkels waren ängstlich darauf bedacht, vor dem Abendläuten zu Hause zu sein, und ich glaube, wir freuten uns alle auf unsere Betten. Ich lehnte mich aus der Kutsche, um Clement zum Abschied zu winken. Er stand, in seinen Mantel eingehüllt, im Licht einer Fackel, die ganz oben, neben einem Fenster des Crossed Hands Inn, befestigt war. Er winkte zurück. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, um uns fortzuschicken. Ich zog die Vorhänge der Kutsche zu und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Ich weiß noch, wie ich Joan sagte, daß ich schrecklich müde sei und mich sehr darauf freue, endlich anzukommen. Es war eine stürmische Nacht, ich erinnere mich, wie die Lichter flackerten, als mein Onkel und meine Tante aus dem Haus kamen, um uns zu begrüßen. Ned kehrte sofort zum Baptist’s Head zurück.» Ihr versagte fast die Stimme. «Aber er hat Clement nirgends finden können», stammelte sie. «Er war einfach nicht da. Und Thomas Prynne sagte, er sei niemals im Baptist’s Head angekommen.»