Читать книгу Die letzte Rast - Kate Sedley - Страница 7
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ОглавлениеIn die Stille, die ihren Worten folgte, platzte ein lauter Donner. Ich hatte den Blitz, der ihm vorangegangen war, gar nicht wahrgenommen, so sehr hatte mich Alison Weavers Geschichte gefesselt. Vor meinem geistigen Auge sah ich ganz deutlich die Gestalt ihres Bruders in einen dicken Mantel eingehüllt im strömenden Regen stehen, nur wenige Schritte vom rettenden Baptist’s Head entfernt. Thomas Prynne, der alte Freund seines Vaters, erwartete ihn, ein heißes Posset stand für ihn auf dem Feuer... Aber Clement Weaver kam niemals dort an.
Der laute Donner ließ uns erschrocken zusammenfahren. Marjorie, die das Regenwasser durch die offene Tür dringen sah, sprang auf, um die Tür zu schließen. Dann ging sie zum Feuer und rührte in dem großen Eisentopf. «Vor lauter Gerede», brummelte sie, «vergesse ich noch meine Pflichten. Ein Wunder, daß das Fleisch nicht angebrannt ist.»
Weder Alison noch ich achteten sonderlich auf sie. «War es denn wirklich notwendig», fragte ich, «daß Ned bei Euch blieb? Auch ohne ihn gab es doch immer noch drei erwachsene Männer, die Euch und Euer Dienstmädchen im Notfall hätten beschützen können.»
«Du vergißt», erwiderte Alison geduldig, «daß es gerade damals in London sehr gefährlich war. Der Graf von Warwick hatte König Heinrich aus dem Tower holen lassen und wieder zum rechtmäßigen König erklärt. Die Anhänger König Eduards hielten sich überall in der Stadt versteckt. Und seit der Hinrichtung des Grafen von Worcester waren erst wenige Wochen vergangen. Mein Onkel sagte mir, er habe die Londoner noch nie in einem solchen Fieber erlebt. Die Anzahl der Verbrechen sei täglich gestiegen.»
Ich erinnerte mich, daß die Gerüchte über die schrecklichen Ausschreitungen anläßlich der Hinrichtung des Grafen von Worcester sogar bis in die Abgeschiedenheit Glastonburys vorgedrungen waren. Der Graf von Worcester wurde, nachdem er die Leiber und Köpfe seiner Widersacher auf Zaunpfähle hatte spießen lassen, im Volksmund «Schlächter von England» genannt. Das Volk haßte ihn. Doch selbst das, hatte unser Gewährsmann, ein durchreisender Bettelmönch, gesagt, habe die Grausamkeit der Londoner, die den Gefangenen auf dem Weg zum Schafott beinahe in Stücke gerissen hätten, nicht hinlänglich erklären können. Soweit er sich erinnern könne, sei es das erste Mal gewesen, daß eine Hinrichtung verschoben werden mußte, weil der Gefangene und seine Wärter im Gefängnis Zuflucht suchen mußten. John Weaver hatte wirklich allen Grund gehabt, um die Sicherheit seiner Nichte zu bangen, und seine Männer hatten einen berechtigten Anlaß, Ned zum Mitkommen zu drängen. Auf diese Art waren sie nicht allein für Alisons Sicherheit verantwortlich gewesen.
Marjorie machte sich daran, aus saurer Dickmilch eine Nachspeise fürs Abendessen zuzubereiten. «Euer Vater wird bald zurückkehren», sagte sie zu Alison. «Es ist fast Abendbrotzeit.»
Ich war überrascht. Die vier Stunden seit meinem Zusammentreffen mit Marjorie Dyer am High Cross waren so schnell vergangen, daß ich zuerst dachte, sie habe sich in der Zeit geirrt, doch da war auch schon das Abendläuten von der nahen Kirche zu hören. Drei Stunden noch bis zur Komplet, dachte ich. Das Klosterleben steckte mir noch in den Knochen. «Es wird noch ein Weilchen dauern, bis er hier ist.» Alison schaute mich an. «So, nun kennst du die ganze Geschichte.»
Ich runzelte die Stirn. «Ihr habt gesagt, außer Eurem Vater und Eurem Bruder habe niemand gewußt, wieviel Geld er bei sich hatte. Das mag stimmen, aber sicherlich wußte jeder, der an der Unternehmung beteiligt war, daß Euer Bruder Geld bei sich trug. Und daß es sich um ein hübsches Sümmchen handelte, muß ebenfalls auch jedem klar gewesen sein, denn bekanntlich wolltet Ihr nach London reisen, um Eure Brautgewänder zu erstehen.»
«Was willst du damit sagen?» fragte Alison scharf. «Daß jemand aus diesem Haushalt oder aus dem Haushalt meines Onkels für Clements Verschwinden verantwortlich ist?»
«Ja, worauf willst du hinaus?» rief Marjorie aus dem Hintergrund. Ihr Gesicht war rot vor Entrüstung.
Schuldbewußt mußte ich mir eingestehen, daß meine Gedanken tatsächlich in diese Richtung gegangen waren. Angenommen, Ned oder Rob oder einer von John Weavers Männern steckte mit einer der vielen Londoner Räuberbanden unter einer Decke und hatte ihr den entscheidenden Wink gegeben?... Aber wie hätte er die genauen Umstände von Clements Ankunft in der Stadt voraussagen sollen? Wer hätte ahnen können, daß sein Pferd ein Hufeisen verlieren würde und Clement deshalb nicht auf direktem Wege zum Baptist’s Head reiten konnte? Wer hätte voraussehen können, daß Ned ihn nicht begleitete? Die beiden Frauen waren mit Recht böse auf mich. Ich hatte die Bedeutung meiner Worte nicht ausreichend überdacht.
«Tut mir leid», sagte ich. «Es war eine übereilte und törichte Schlußfolgerung.»
«Und eine falsche dazu!» Ich fragte mich, ob Alison ihr Angebot, mich hier im Haus übernachten zu lassen, zurückziehen würde, aber sie fuhr fort: «Mir gefiel der Anblick dieses Wirtshauses nicht.»
«Ihr meint... das Crossed Hands Inn könnte etwas mit dem Verschwinden Eures Bruders zu tun haben?»
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. «Ich habe keinen Grund, so etwas zu vermuten», gab sie nach einer Weile zögernd zu. «Mein Vater und mein Onkel haben alle möglichen Erkundigungen eingezogen. Der Wirt und die Diener haben geschworen, nichts gesehen und auch nichts gehört zu haben. Es gibt keinen Anlaß, ihre Aussagen anzuzweifeln. Und es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sie etwas mit Clements Verschwinden zu tun haben könnten.»
«Und dennoch meint ihr, sie hätten gelogen?»
Alison zuckte mit den Schultern. «Mir kam das Haus irgendwie unheimlich vor. Aber wahrscheinlich ist das dumm von mir.»
Insgeheim stimmte ich ihr zu. Sie hatte das Wirtshaus unter den denkbar schlechtesten Bedingungen gesehen, im Dunkeln und bei strömendem Regen, war selbst hungrig und von der Reise erschöpft gewesen. Sie hatte es unweigerlich mit dem Verschwinden ihres Bruders in Verbindung bringen müssen, denn zum letzten Mal hatte sie Clement im flackernden Licht des Crossed Hands Inn gesehen... Noch einmal stand mir das Bild plastisch vor Augen.
Ich zögerte, ehe ich meine letzte Frage stellte. Sie war heikel, und ich mußte befürchten, meine Einladung, im Haus übernachten zu dürfen, damit aufs Spiel zu setzen. Trotz dieser Befürchtung, und trotz allem, was Marjorie mir schon erzählt hatte, verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, diese Frage zu stellen, wenn auch nur, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Wo immer ich am Abend mein müdes Haupt betten würde – ich würde besser schlafen, wenn ich die offenen Fragen dieses vertrackten Falls wenigstens angesprochen hatte. Offene Fragen haben mich schon immer kribbelig gemacht.
«Gäbe es denn möglicherweise irgendeinen Grund», begann ich vorsichtig, «warum Euer Bruder... versucht haben könnte... den Plan gefaßt haben könnte... Ich meine...»
Alison Weaver unterbrach mich mit eisiger Stimme. «Du fragst mich, ob Clement seinen eigenen Vater beraubt hätte? Die Antwort ist nein.»
Ich wußte, ich hätte es dabei belassen sollen, aber ich bohrte weiter. Ich mußte mich davon überzeugen, daß sie die Wahrheit sprach. «Es war sehr viel Geld im Spiel. Man hat schon öfter von jungen Männern gehört, die einer plötzlichen Versuchung nicht widerstehen konnten.»
Ich machte mich schon auf einen Wutausbruch gefaßt, aber zu meinem Erstaunen antwortete sie ganz ruhig auf meine ungehörige Frage. Ruhig, aber auch sehr kühl. «Clement und ich lieben unseren Vater. Er hat nie etwas getan, das diese Liebe hätte schmälern können. Vor allem mein Bruder stand ihm sehr nahe. Clement sollte später einmal das Geschäft unseres Vaters übernehmen. Es hat zwischen den beiden nie auch nur den geringsten Zwist gegeben.»
«Das gleiche habe ich dir doch auch schon erzählt», sagte Marjorie vorwurfsvoll.
«Ich weiß», entgegnete ich beschämt. Ich sah, daß mein heimlicher Zweifel an ihren Worten sie verletzte, aber ich hatte sie mir von Alison bestätigen lassen müssen. Alison hatte sehr ernst gesprochen und mit ihrer Antwort nicht gezögert.
Die Stille um uns wurde immer größer, hielt uns gefangen, schloß uns ein. Es gab nichts mehr zu sagen. Wie Marjorie – und wie Alison, die von ihrem Bruder so gesprochen hatte, als sei er noch am Leben – war ich davon überzeugt, daß Clement Weaver das Opfer eines Mordanschlags geworden war. Ob seine Mörder nun mit dem Crossed Hands Inn in Verbindung standen oder nicht – er war an jenem nassen Novemberabend überfallen, ausgeraubt und getötet worden; anschließend hatten seine Mörder dann seine Leiche verschwinden lassen. In der Dunkelheit wäre es ein leichtes gewesen, ihm ein Messer zwischen die Rippen zu jagen. Kein Geräusch, kein Schrei wäre bis zu seinen Freunden im Baptist’s Head gedrungen. Und selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, um Hilfe zu rufen, hätte man ihn bei dem strömenden Regen wohl kaum gehört. Auch wenn man alle Einzelheiten einbezog, die Antwort war immer dieselbe, lag sozusagen auf der Hand. Clement Weaver gehörte zu den vielen Männern und Frauen, die Jahr für Jahr aus reiner Habgier ermordet wurden. «Die Welt ist gewalttätig und gefährlich», hatte mich Abt Seiwood gewarnt, als ich die schützenden Mauern des Klosters verließ. Schon nach wenigen Tagen hatte ich den Beweis bekommen.
Wir waren so in unsere Gedanken vertieft, daß wir nicht hörten, wie sich die Haustür öffnete und kurz darauf wieder schloß. Erst als wir die Stimme des Ratsherrn hörten, schreckten wir auf.
«Alison? Marjorie? Seid ihr da?»
«Um Himmels willen!» Marjorie drehte sich so schnell am Küchentisch um, daß ihre Röcke wirbelten. «Der Ratsherr ist zu Hause, und der Tisch ist noch nicht gedeckt.» Sie wedelte aufgeregt mit der Hand in der Luft. «Geh mir aus dem Weg, Hausierer! Du hast mich lang genug aufgehalten.» Dann drehte sie sich zu Alison um. «Am besten geht Ihr, um ihn zu begrüßen.»
Alison war schon auf dem Weg zur Tür. Sie rief: «Ich bin hier, Vater! Das Essen wird gleich aufgetragen.» Dann schloß sich die Küchentür hinter ihr.
«Gleich?» brummte Marjorie. «Es wird noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis ich soweit bin.»
Sie wirtschaftete wie wild in der Küche herum und bewegte sich dabei sehr viel schneller, als ich es bei ihrem Leibesumfang und ihren schmerzenden Beinen erwartet hätte. Sie türmte Teller, Zinnbecher und Messer auf ein Tablett aus geschlagenem Kupfer und trug es hinaus in das Zimmer, in dem die Familie Weaver ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Bemüht, Marjorie nicht im Weg zu stehen, blieb ich auf meinem Stuhl beim Feuer sitzen und wartete geduldig, bis sie wieder Zeit für mich hatte. Als sie in die Küche zurückkam, murmelte sie wütend vor sich hin.
«Master Burnett kommt einfach zusammen mit dem Ratsherrn nach Hause und wird gefragt, ob er mitessen will. Sagt mir mal vorher jemand Bescheid? Nein. Natürlich nicht. Für die bin ich ja nur eine ganz gewöhnliche Dienerin, mehr nicht.»
Sie nahm den Schöpflöffel und rührte aufgebracht in dem Eintopf. «Man sollte nicht meinen, daß ich die Base des Ratsherrn bin.»
Das war also der Grund für ihre außergewöhnliche Stellung im Haus. Sie war eine arme Verwandte der Familie Weaver. Diese Tatsache erklärte auch ihre sonderbare Beziehung zu Alison: Auf der einen Seite war sie eine Hausmagd und Bedienstete, auf der anderen Seite eine Tante des Mädchens.
Die Tür zur Küche ging auf, und zwei Männer traten herein. Sie waren beide klein und untersetzt und hatten grobe, hohlwangige Gesichter, dunkle Haut und dunkle Haare, wie es bei den Einwohnern Bristols keine Seltenheit ist. Sie haben sich über die Jahrhunderte mit den Südwalisern vermischt, und die keltischen Züge haben dabei allmählich Oberhand gewonnen. Der Kleinere der beiden war offensichtlich auch der Ältere; ich schätzte ihn auf etwas mehr als dreißig Lenze, während der Jüngere eher in meinem Alter war. Ich vermutete in ihnen Ned und Rob, die beiden Diener des Ratsherrn.
«Es hat keinen Zweck, jetzt schon zum Essen zu kommen», schimpfte Marjorie. «Ich bin spät dran, und jetzt ißt auch noch Master William mit. Geht mir aus dem Weg, ihr Einfaltspinsel! Hockt euch ans Feuer zu dem Hausierer.»
Der ältere Mann zuckte mit den Schultern, murmelte: «Dann komme ich eben später wieder» und trollte sich hinaus in den Garten. Das Gewitter hatte sich ausgetobt und so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte. Die Abendsonne trat hinter den Wolken hervor, und ich roch die süßduftenden Gräser und Kräuter des Gartens. Der jüngere Mann holte sich einen Stuhl aus der anderen Ecke der Küche und ließ sich neben mir am Feuer nieder.
Er nickte kurz und schaute mich mißtrauisch an. «Ich heiße Roger», sagte ich und streckte ihm eine Hand entgegen.
«Ned Stoner», grunzte er und drückte meine Finger, daß sie krachten.
Das also war der junge Mann, der in die Crooked Lane zurückgekehrt war, um zu erfahren, daß Clement Weaver dort nicht angekommen war – verschwunden und verschollen, als wäre er nie auf dieser Erde gewandelt. Ich musterte ihn verstohlen, und ich muß sagen, mir gefiel, was ich sah. Zwar war er etwas nachlässig gekleidet, sein Lederwams hatte Flecke, seine dicke, wollene Hose war am linken Knie aufgerissen, und seine Lederschuhe waren abgetragen und staubig. Aber er hatte ein ehrliches, offenes Gesicht und ein besonders freundliches Lächeln, das gelegentlich in ein verschmitztes Grinsen überging. Er war mit Leib und Seele dem Leben zugetan, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß er in seinem Leben je irgendeinem Menschen ein Härchen gekrümmt hatte. Nein, Ned hatte mit dem Verschwinden seines jungen Herrn nichts zu tun, sagte ich mir.
Eine willkürliche Schlußfolgerung, mögt Ihr denken, und damit hättet Ihr sicherlich recht. Aber Ihr dürft nicht vergessen, daß ich damals noch naß hinter den Ohren war. Ich war ein grüner Junge, der im Grunde genommen nichts über die Welt wußte und dennoch von sich selbst so eingenommen war, daß er glaubte, allwissend zu sein. In all den Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich mehr als einmal lernen müssen, daß man einen Menschen niemals nach seinem Äußeren beurteilen darf.
Alison erschien in der Küchentür.
«Ihr braucht gar nicht erst nach dem Essen zu fragen», fuhr Marjorie sie an und schob eine Pfanne mit Kiebitzeiern aufs Feuer. «Zaubern kann ich nicht.»
Alison tat, als hätte sie nichts gehört, und zeigte statt dessen mit dem Finger auf mich. «Mein Vater will dich sehen.»
Auf diese Nachricht folgte ein überraschtes Schweigen. Marjorie, Ned und ich gafften sie ungläubig an. Marjorie war die erste, die ihre Stimme wiederfand. «Warum sollte der Ratsherr den Hausierer sehen wollen?»
Alison zog die Augenbrauen hoch, die sie, wie ich erst jetzt bemerkte, ungeschickt ausgezupft hatte, um die schmalen Augenbrauen der vornehmen Damen nachzuahmen. «Wenn dich das etwas anginge, Marjorie, würde ich es dir sagen.» Sie sah mich an. «Also, was ist?» fragte sie ungeduldig. «Kommst du jetzt mit?»
Ich stand auf, warf Marjorie einen entschuldigenden Blick zu und strich mit unbeholfenen Fingern mein schäbiges Wams glatt. Ich hatte damit gerechnet, daß der Ratsherr das Angebot seiner Tochter, unter seinem Dach nächtigen zu dürfen, zurückziehen könnte, aber daß er es mir höchstpersönlich mitteilen wollte, überraschte mich. Schließlich hatte nicht ich die Regeln des Hauses gebrochen.
Ich folgte Alison in die große Halle des Hauses, von der das Eßzimmer, die Küche und die Speisekammer abgingen. Trotz meiner Angst bemerkte ich, daß die untere Hälfte der Fenster, die auf die Broad Street hinausgingen, hölzerne Läden hatten, die obere Hälfte jedoch mit Glasscheiben ausgefüllt war. Heutzutage sind Glasfenster in Wohnhäusern längst nichts Außergewöhnliches mehr, damals waren sie in England äußerst selten, und sie waren sehr, sehr teuer. Ratsherr Weaver war unbestreitbar ein vermögender Mann. Die Türpfeiler und Deckenbalken waren mit geschnitzten Vögeln, Figuren und Blumen verziert und rot und golden angemalt. In einer Ecke stand ein großer, ebenfalls mit reichen Schnitzereien verzierter Schrank, in dem das Zinn und das Silber der Familie ausgebreitet lagen. Zu beiden Seiten des Feuers standen zwei prächtige Sessel. In einem saß der Ratsherr, im anderen sein zukünftiger Schwiegersohn.
Der Ratsherr war ein kräftiger, untersetzter Mann, hatte die gleichen haselnußbraunen, grüngefleckten Augen wie seine Tochter und dunkles, schütteres Haar. Über den Ohren war es kurz geschnitten, ein paar Strähnen waren sorgfältig über die kahlen Stellen frisiert. Sein langes, pelzbesetztes Gewand mit der großen Kapuze war selbst für damalige Verhältnisse schon recht altmodisch, was mir allerdings erst im nachhinein klar wurde, denn während meiner Jahre im Kloster hatte ich zwar alles mögliche gelernt, doch nicht, was bei vornehmen Leuten gerade Mode war.
Daß William Burnett, Alisons Verlobter, modisch gekleidet war, sah allerdings selbst ich auf den ersten Blick. Sein kastanienbraunes Haar hing ihm bis auf die Schultern, und die Stirnfransen verdeckten ihm fast die Augen. Seine feine Gesichtshaut war glattrasiert – eine Tatsache, die mich sofort an meine tagealten Bartstoppeln denken ließ –, und sein dick gefüttertes, purpurrotes, mit einem schmalen Lederband gegürtetes Wams war fast unanständig kurz und ließ darunter einen mit Troddeln verzierten Hosenbeutel erkennen. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Schuhe aus feinem, scharlachrotem Leder, deren Spitzen so lang waren, daß sie mit kleinen Goldkettchen an seinen Knien befestigt werden mußten. Diese Schuhspitzen wurden im Volksmund «Spieße» genannt, und es war sehr schwierig, damit zu gehen. Wenige Jahre zuvor war ihre Länge durch eine päpstliche Bulle unter Androhung des päpstlichen Banns auf zwei Zoll beschränkt worden. Aber die englischen Schuhmacher behaupteten, ein päpstlicher Bann könne nicht einmal eine Fliege verschrecken, setzten sich einfach über das Edikt hinweg und fertigten auch weiterhin solche modischen Schuhe.
Als ich von der Küche in die große Diele trat, hörte ich den Ratsherrn sprechen.
«Wenn König Eduard den Kampf gewinnt, werden Strafgelder, und zwar sehr hohe Strafgelder erhoben. Ich habe den Rat davor gewarnt, die Französin in die Stadt zu lassen, aber die anderen wollten ja nicht auf mich hören. Einige Bürger haben schon immer auf der Seite des Hauses Lancaster gestanden. In meinen Augen ist es ein schwerer Fehler, so offen Partei zu ergreifen. Das Pendel hat in den letzten Jahren viel zu oft in die eine oder andere Richtung ausgeschlagen, als daß wir es uns erlauben könnten, mit unserer eigenen Meinung hausieren zu gehen. Abwarten, was passiert, das ist mein Wahlspruch, und ich glaube, es ist der gesündeste Wahlspruch, dem wir in einer so verworrenen Lage folgen können. Wir hätten irgendwelche Ausreden erfinden und unsere Tore schließen können. Pest in der Stadt – das ist immer ein guter Grund. In Gloucester wird man nicht so dumm sein wie wir. Denkt an meine Worte. Die Leute dort oben haben einen ausgeprägteren Überlebenswillen.»
William Burnett brummte beifällig. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den purpurroten Satin seines Ärmels zu glätten, um für die Sorgen des Ratsherrn echtes Interesse aufzubringen. Alison betrachtete ihn mit unverhohlener Bewunderung.
Plötzlich wurde sich der Ratsherr meiner Gegenwart bewußt, richtete seine Aufmerksamkeit auf mich und musterte mich mit klugen Augen. Ich wartete darauf, daß er mir befahl, sein Haus zu verlassen. Aber er hüllte sich in nachdenkliches Schweigen. Als die gespannte Stille unerträglich zu werden drohte, bemerkte er: «Du bist also der Hausierer, von dem mir meine Tochter erzählt hat. Sie meinte, du könntest lesen und schreiben.»
«Das stimmt», entgegnete ich.
Er nickte bedächtig. «Nun, das könnte von Nutzen sein.»