Читать книгу Das alte Lied - Kate Sedley - Страница 3
Erstes Kapitel
ОглавлениеEs war am achten Juni, einen Tag vor St. Columban, und der längste Tag des Jahres war nicht mehr fern. Morgens glitzerte die Sonne auf den taunassen Wiesen, abends blieb es endlos lange hell – um diese Jahreszeit war es ein Vergnügen, auf den Landstraßen unterwegs zu sein.
Wir schrieben das Jahr des Herrn 1475. Anfang Mai hatte ich mich von Totnes aus auf den Weg gemacht und meine Waren in allen Dörfern und Weilern entlang der Südküste Englands feilgeboten, die ich zu Fuß erreichen konnte, ohne einen ortskundigen Führer anheuern zu müssen. Diese Männer neigten schon damals dazu, sich ihre Dienste viel zu hoch bezahlen zu lassen, und soweit ich weiß, hat sich daran bis heute nichts geändert. Jetzt bin ich alt, in meinem siebzigsten Jahr, und komme kaum noch vor die Mauern meiner Geburtsstadt Wells. Vor fast einem halben Jahrhundert jedoch war ich jung und stark, einen Meter achtzig groß und kräftig gebaut, und ich hatte mich für das freie Leben eines fahrenden Händlers entschieden, anstatt in den Orden der Benediktiner einzutreten, wie es dem Herzenswunsch meiner verstorbenen Mutter entsprach.
Für die Mißachtung ihres Wunsches hatte ich einen hohen Preis bezahlt. In den zurückliegenden Jahren hatte der Herr sich schon viermal mein Talent zur Enthüllung von Geheimnissen zunutze gemacht, um Missetäter zur Rechenschaft zu ziehen, die sonst den Folgen ihrer bösen Taten entkommen wären. Nach den letzten unerfreulichen Ereignissen in Totnes hatte ich versucht, ihm verständlich zu machen, daß es nun ein für allemal genug sei: Ich hatte meine Schuld ausgiebig gesühnt. Doch mehr als einmal habe ich die Erfahrung gemacht, daß der Allmächtige ein taubes Ohr hat, das er mit Bedacht all denen zuwendet, die er nicht hören will. Jeder Versuch, seinen Plänen zu trotzen, ist zum Scheitern verurteilt, wie mir auch jetzt wieder klarwerden sollte.
Mein Trotz hatte diesmal darin bestanden, von Devon aus in Richtung London zu ziehen und dabei kein anderes Ziel zu verfolgen, als mich den Vergnügungen der Hauptstadt hinzugeben. Mein Gewissen sagte mir, es sei meine Pflicht, nach Bristol zurückzukehren und mich um meine verwitwete Schwiegermutter und mein mutterloses Töchterchen, die sechs Monate alte Elizabeth, zu kümmern. Statt dessen hatte ich mich jedoch in Exeter an einen redlichen Mönch gewandt, von dem ich wußte, daß er in Richtung Norden wanderte, hatte ihm eine hübsche Geldsumme anvertraut und ihm den Weg zu Margaret Walkers Hütte im Weberviertel von Bristol beschrieben.
«Gebt ihr das Geld und empfehlt mich sehr herzlich bei ihr. Sagt ihr, daß ich verspreche, vor Einbruch des Winters bei ihr zu sein, und bittet sie, meinem Kind einen Kuß von seinem liebenden Vater zu geben.» Zum Schluß hatte ich dem Mönch noch ein großzügiges Trinkgeld für seine Dienste zugesteckt.
Er hatte nur genickt und war offenbar ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß meine Reise nach London notwendig sei, um zur Versorgung meiner Familie weiteres Geld einzunehmen. Schließlich war es ein mageres, von Hunger geprägtes Jahr, in dem die Steuern kräftig erhöht worden waren, um die bevorstehende Invasion König Eduards in Frankreich bezahlen zu können, für die sich seine Truppen bereits in Kent zu sammeln begannen. In den letzten Monaten hatte ich zahlreiche wehrhafte Männer getroffen, die nach Canterbury und Umgebung unterwegs gewesen waren.
Das Auskommen meiner Familie zu sichern, war jedoch nicht das eigentliche Anliegen meiner Reise nach London, und ich verspürte Gewissensbisse, weil ich nicht nur den Mönch, sondern auch meine Schwiegermutter hinters Licht geführt hatte, denn ich nahm an, daß der heilige Mann seine Schlußfolgerung an Margaret Walker weitergeben würde. In Wirklichkeit hatte man mir, ehe ich Totnes verließ, in Dankbarkeit für alles, was ich getan hatte, eine ansehnliche Summe aufgedrängt, und zum ersten Mal in meinem Leben war mein Geldbeutel prall gefüllt. Mein Entschluß, nach London zu ziehen, war einer bloßen Laune entsprungen. Ich wollte die vollen Fleischtöpfe der Hauptstadt genießen, und da in meinem Geldbeutel die Münzen fröhlich klimperten, erschien mir diese Aussicht um so verlockender.
Dennoch hatte ich ein paar zusätzliche Einnahmen während meiner Reise nicht verschmäht und war nur in mäßigem Tempo vorangekommen, so daß ich erst am achten Juni Southampton erreichte. Nach einem sehr einträglichen Vormittag im Hafenviertel ließ ich die Kais mit ihrem Menschengewirr endlich hinter mir und schritt auf der High Street stadteinwärts, als ich den köstlichen Duft nach Schweinsfüßen mit Bratensoße schnupperte und mein Magen heftig zu knurren begann. Ich hatte damals immer einen gesegneten Appetit, ganz gleich, wann oder wieviel ich zuletzt gegessen hatte, und war einer leckeren Mahlzeit niemals abgeneigt. Mein kräftiger Körper verlangte ständig nach Nahrung.
Die Läden der Fleischer und Geflügelhändler säumten den Abschnitt der High Street nördlich der St. Lorenzkirche, aber auch in den Durchgängen und Höfen zwischen den Häusern hatten einige ihre Verkaufsstände aufgeschlagen. Southampton war damals schon so geschäftig wie heute, und überall wimmelte es von fremden und einheimischen Seeleuten. Die Straßen, die in einem sehr schlechten Zustand waren – viele Pflastersteine waren zerbrochen, und wer unachtsam war, kam rasch durch eines der zahlreichen Schlaglöcher zu Fall –, hallten wider von einem babylonischen Sprachgewirr, die Menschen drängelten und schubsten, und die Händler buhlten mit allen Mitteln um die zahlungskräftige Kundschaft. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie widerwillige Kunden von einem übereifrigen, zu allem entschlossenen Ladenbesitzer hochgehoben und mit Gewalt auf die andere Straßenseite getragen wurden. Nicht daß mir je eine solche Behandlung widerfahren wäre. Selbst der tollkühnste Geschäftsmann hätte nicht gewagt, mich zu belästigen. Ein Blick auf meine Körpergröße genügte, und er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ließ mich in Frieden meiner Wege gehen.
Die meisten Häuser waren mit dem Giebel zur High Street hin ausgerichtet und hatten kleine Höfe an der Seite oder dahinter, so daß es immer wieder kleine, enge Durchgänge gab. In ein solches Gäßchen in der Nähe der öffentlichen Latrine lenkte ich meine Schritte. Meine Nase führte mich nicht in die Irre. Keine zwanzig Schritte entfernt befand sich ein Fleischerladen, und nach den vielen Menschen zu urteilen, die davor saßen und es sich schmecken ließen, konnte man dort auch gekochte Speisen erstehen. Der Duft nach Schweinsfüßen war überwältigend, auch wenn er sich mit dem gleichermaßen köstlichen Duft nach gebackenen Pasteten und frischgekochten Kaldaunen mischte. Auf einem großen, aufgebockten Tisch waren mehrere Fleischstücke ausgelegt. Zwei tüchtige Hausfrauen untersuchten sie sorgfältig, ehe sie sich zum Kauf entschlossen. Der Fleischer sah ihnen zu und steuerte gelegentlich die eine oder andere fachmännische Bemerkung bei.
Der Fleischer war ein großer, fröhlicher Mann, wie es bei Vertretern seiner Zunft so oft der Fall ist, auch wenn ich nie verstanden habe, warum. An großen Haken an der Decke des überdachten Verkaufsstandes hinter ihm hingen bereits ausgenommene Schweins- und Schafshälften. Die noch vor Blut triefenden Tiere schienen vor nicht allzu langer Zeit geschlachtet worden zu sein. Um so frischer und schmackhafter würden die Schweinsfüße sein. Ich ging zum Tisch, wo die Frauen noch immer um die besten Fleischstücke feilschten, und stellte meinen Packen auf den Boden. Auf dem runden, wettergegerbten Gesicht des Fleischers erschien ein breites Grinsen, und seine haselnußbraunen Augen funkelten vergnügt, während er mich ausgiebig musterte.
«Was kann ich für einen großen, kräftigen Burschen wie Euch wohl tun?» fragte er gutmütig. «Um euren Bauch zu füllen, ist bestimmt eine tüchtige Portion notwendig.»
«Ich rieche Schweinsfüße und Bratensoße», erwiderte ich. «Ein Teller davon käme mir sehr gelegen.»
Er kicherte. «Das glaube ich Euch gerne. Geht zur Rückseite des Ladens und klopft an meine Hütte. Meine Frau wird öffnen und Euch verköstigen.» Er wandte sich wieder den beiden Frauen zu, und ein Anflug von Ungeduld stahl sich in seine Stimme. «Gute Frauen, wenn ihr das Fleisch noch länger hin und her wendet, wird es weder für Mensch noch Tier etwas taugen. Könnt ihr euch nicht entscheiden? Welches Stück soll es denn sein?»
Die anderen Essensgäste lachten und rissen grobe Possen, als die beiden Frauen sich nicht drängen lassen wollten und dem Fleischer scharfe Widerworte gaben, aber mein Hunger war zu groß, um zu warten und weiter zuzuhören. Ich schulterte mein Bündel und tat, wie der Fleischer mich geheißen hatte. An der Rückseite des Ladens stieß ich auf eine Fachwerkhütte, deren Tür weit offen stand. Aus dem Loch im strohgedeckten Dach drangen vielversprechende Schwaden. Hier lag die Quelle der verführerischen Düfte, die meine Nase in der letzten Viertelstunde so verheißungsvoll gekitzelt hatten – hier hatte die Frau des Fleischers ihr Reich.
Auf mein Rufen hin erschien sie in der offenen Haustür und wischte sich die Hände an einer groben, sackleinenen Schürze ab.
«Was kann ich für Euch tun, Junge?» fragte sie.
Im Gegensatz zu ihrem Ehemann war sie zierlich und klein. Sie hatte feine Gesichtszüge, die an einen Vogel erinnerten, und sanfte braune Augen, die mich ernst anblickten, bis sie meinen Packen erspähten, den ich zu meinen Füßen abgestellt hatte.
«Ich hätte gern einen Teller Schweinsfüße mit Soße», antwortete ich, doch fürs erste überhörte sie meine Bestellung. «Ihr seid Hausierer», stellte sie fest. «Was für ein glücklicher Zufall! Mir ist gerade meine letzte gute Nadel zerbrochen, und auch das Nähgarn ist mir ausgegangen. Ob Ihr mir mit beidem aushelfen könnt?»
«Aber gern. Ich habe beides in meinem Packen. Wollen wir einen Tauschhandel schließen?»
Sie lächelte. «Warum nicht? Aber zuerst hole ich Euch etwas zu essen, Ihr seht ja schon halb verhungert aus. Anschließend könnt Ihr mir Eure Ware zeigen. Kommt doch herein und eßt hier bei mir in der Küche. Sobald Ihr fertig seid, können wir dann unseren Handel zum Abschluß bringen.»
Ich gehorchte nur widerwillig, denn es war ein schöner, sonniger Tag, und ich wäre lieber im Freien geblieben und hätte mich zu den anderen Essensgästen gesellt. Aber mir war klar, daß die Frau des Fleischers mich nicht aus den Augen lassen würde, bis ich meinen Teil des Tauschhandels erfüllt hatte. Also folgte ich ihr in die Küche und setzte mich an den Tisch in der Nähe des in die Wand eingebauten Ofens. Zwei große Kessel brodelten über dem Feuer in der Mitte des Raumes, von denen einer die gekochten Schweinsfüße enthielt. Meine Gastgeberin schöpfte etwas davon auf einen Holzteller und stellte ihn vor mich hin. Dann ließ sie sich auf die Bank neben mir sinken und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
«Kommt Ihr von weit her?» fragte sie.
«Heute morgen bloß vom anderen Ufer des Flusses Test», antwortete ich mit vollem Mund, schluckte die ersten Bissen hinunter und fuhr dann mit etwas klarerer Stimme fort: «Aber davor bin ich von Devon hergewandert.»
«Aber Ihr stammt nicht aus Devon», murmelte sie und neigte den Kopf zur Seite wie ein Spatz. «Und auch nicht aus unserer Gegend. Eure Wiege stand etwas weiter nördlich, würde ich sagen. In Somerset vielleicht.»
«Ich wurde in Wells geboren, aber jetzt bin ich in Bristol zu Haus.»
Sie nickte zufrieden. «Meist kann ich es ziemlich genau sagen. Allerdings hatten wir vor einigen Wochen einen fahrenden Sänger aus Yorkshire hier, dessen Akzent hatte ich vorher noch nie gehört.» Nach einer kurzen Pause fragte sie: «Seid Ihr verheiratet? Habt Ihr Kinder?»
«Ich war verheiratet», sagte ich, «aber meine Frau ist im Kindbett gestorben. Ich habe eine Tochter. Sie heißt Elizabeth und ist fast sechs Monate alt. Meine Schwiegermutter kümmert sich um sie.»
Die Frau des Fleischers sah mich mitleidig an und legte eine tröstende Hand auf meinen Arm. Ich lächelte, so dankbar ich konnte, ohne die Wahrheit verraten zu müssen: daß Lillis und ich nur acht kurze Monate verheiratet gewesen waren und daß dies für mich nicht ausgereicht hatte, um Mideid und Gewissensbisse in Liebe zu verwandeln. Wäre meine Gastgeberin so entsetzt gewesen, wie ich es gelegentlich war, wenn sie erfahren hätte, daß ich mich manchmal kaum noch an die Gesichtszüge meiner toten Frau erinnern konnte?
Möglicherweise nicht, denn sie sagte in aufmunterndem Ton: «Ihr müßt so schnell wie möglich wieder heiraten. Einem hübschen Burschen wie Euch dürfte das nicht schwerfallen. Es gibt bestimmt genug Mädchen, die sich darum reißen würden, mit Euch das Bett zu teilen.» Sie hielt inne und lachte. «Was habe ich denn gesagt, daß ein großes, gestandenes Mannsbild wie Ihr ganz rot wird?» Sie erhob sich, um mir eine zweite Portion zu holen, und sagte: «Schade, daß meine Tochter nicht da ist. Sie hat eine Vorliebe für hochgewachsene Männer.» Sie kicherte und schöpfte das dampfende Essen auf den Teller. «Und das hat sie von mir, wie ich Euch wohl nicht erst erklären muß. Denn meine Amice ist so zierlich wie ich, und doch habe ich unter all meinen Verehrern ausgerechnet John Gentle gewählt, den Ihr sicherlich schon gesehen habt. Ich nehme an, er hat Euch zu mir geschickt.» Mistress Gentle nahm ihren Platz auf der Bank wieder ein und lächelte zufrieden, während ich nach meinem Messer griff, um die zweite Portion zu vertilgen. «Und wir haben beide eine Vorliebe für Männer mit einem gesunden Appetit. Aber... worüber haben wir gerade gesprochen?»
«Über... äh... Eure Tochter. Aber», fügte ich hoffnungsvoll hinzu, «Mistress Amice scheint wohl augenblicklich nicht zu Hause zu sein?»
Meine Gastgeberin seufzte schwer. «Ja, da habt Ihr recht, und sie fehlt mir sehr. Aber», fuhr sie fort, und ihr Gesicht strahlte voller Stolz, «ich habe keinen Grund, ihre Abwesenheit zu betrauern. Meine Amice hat es weit gebracht und hat das Glück, in einem äußerst wichtigen Haushalt zu leben.» Mistress Gentle dämpfte ihre Stimme und sagte in ehrerbietigem Ton: «Sie ist Näherin bei... Nun, vielleicht wollt Ihr raten, bei wem?» Ich murmelte, ich sei im Raten nicht sehr begabt, und bat sie, mich aufzuklären, wozu sie nur allzu gern bereit war. «Bei keiner Geringeren als der Herzogin von York! Der Mutter des Königs höchstpersönlich! Was sagt Ihr jetzt?»
Ich bin sicher, welche Worte ich auch immer gefunden hätte, sie hätten nicht ausgereicht, um ihrem mütterlichen Stolz Genugtuung zu verschaffen, doch zu meinem Glück schien mein Gesichtsausdruck Bände zu sprechen. Ich war tatsächlich beeindruckt.
«Wie ist Mistress Amice in eine solche Position gekommen?» fragte ich und hörte sogar zu essen auf, um die Fleischersfrau anzuschauen und auf ihre Antwort zu warten.
Sie lächelte freundlich. «Meine Amice ist schon immer ein hübsches, tüchtiges Mädchen gewesen, und so geschickt mit der Nähnadel! Das ist allerdings etwas, das sie nicht von mir hat, denn ich bin immer nur eine mittelmäßige Näherin gewesen. Natürlich kann ich, wenn es nötig ist, die Hemden meines Mannes flicken und mir selbst ein neues Kleid oder eine Schürze nähen, aber für alles, was darüber hinausgeht, fehlt mir das Talent. Doch die Mutter meines Mannes, Amices Großmutter, verwandelte sich, sobald sie eine Nadel in die Hand nahm, in eine echte Zauberin. Sie hat so manches prächtige Meßgewand für die Geistlichen unserer Gegend bestickt, ehe unser Schöpfer sie aus diesem Leben abberufen hat. Sie hat meiner Amice alles beigebracht, was sie konnte, und Amice war eine willige Schülerin. Ich glaube, am Ende ist sie sogar eine bessere Stickerin geworden, als ihre Großmutter es jemals war. Jedenfalls war Lady Wardroper dieser Meinung. Sie hat mein Mädchen an eine ihrer Freundinnen weiterempfohlen, die wiederum beim Haushofmeister von Herzogin Cicely ein gutes Wort für Amice eingelegt hat, als Ihre Gnaden gerade auf der Suche nach einer neuen Näherin war.»
Ich hatte mich inzwischen wieder meiner Mahlzeit zugewandt, nagte gerade den letzten Knochen sauber und leckte die Soße von meinen Fingern. Mistress Gentles kleine Geschichte hatte mich allerdings durchaus hellhörig gemacht, hatte ich doch erst vor wenigen Jahren die Mutter unserer königlichen Prinzen von Angesicht zu Angesicht gesehen. Allerdings hegte ich keinerlei Absicht, diese Tatsache zu erwähnen, denn ich ahnte, daß es mich in allzu langwierige Erklärungen verwickelt hätte.
Statt dessen fragte ich: «Wer ist Lady Wardroper?»
« Die Frau von Sir Cedric Wardroper auf Chilworth Manor. Das Herrenhaus liegt etwa eine Meile nordöstlich der Stadt, ganz in der Nähe der großen Furt. Amice hat ein Altartuch für die Kapelle von Chilworth gestickt, und Lady Wardroper war davon so beeindruckt, daß sie mein Mädchen am liebsten selbst in ihren Dienst genommen hätte, aber sie hat nicht genug Arbeit für eine Stickerin. Trotzdem hat sie Amices Talent überall gepriesen und sie weiterempfohlen – mit dem glücklichen Ausgang, von dem ich Euch bereits berichtet habe.»
«Lady Wardroper scheint eine gütige Dame zu sein.» Ich schleckte den letzten Tropfen Soße von meinem linken Daumen und rieb zufrieden meine klebrigen Hände gegeneinander.
«Ja, sie ist eine wirkliche Dame», stimmte meine Gastgeberin herzlich zu.« Und durch einen seltsamen Zufall ist ihr Sohn Matthew – übrigens ihr einziges Kind, so wie Amice unser einziges Kind ist – am vergangenen Montag nach London gereist, um eine Stellung im Haushalt des Herzogs von Gloucester anzutreten. Eines der Küchenmädchen aus Chilworth Manor hat es mir gestern morgen auf dem Markt von St. Lorenz erzählt. Amice und Master Wardroper werden also in London unter einem Dach weilen, denn es scheint, als würde Herzog Richard bei seiner Mutter wohnen, in dem großen Haus, das sie am Ufer der Themse besitzt.»
«Baynard’s Castle», murmelte ich. «Ich habe unterwegs gehört, daß der Herzog mit seinen Truppen von Norden aus nach London unterwegs sei, aber es hieß, er zöge weiter in Richtung Canterbury, nach Barham Down.»
Mistress Gentle zuckte mit den Schultern. «Davon weiß ich nichts. Aber Audrey war sich ganz sicher, daß Master Matthew nach London gereist ist, und ich glaube, sie hat auch den Namen des Schlosses erwähnt, den Ihr genannt habt. Aufgrund eines anderen Zufalls hatten John und ich gerade zwei Stunden vorher Kunde von Amice bekommen. Durch einen Fuhrmann, der von Herzogin Cicelys Schloß in Berkhamsted in unsere Gegend unterwegs war, hat sie uns ausrichten lassen, daß der gesamte Haushalt der Herzogin innerhalb der nächsten Tage nach London umziehen wird. Der Fuhrmann konnte sich nicht an den Namen des Hauses erinnern, das sie dort beziehen würde, doch sonst hatte er alles brav auswendig gelernt. Er muß in mein Mädchen ganz vernarrt gewesen sein, jedenfalls hat er sich große Mühe gegeben, ihre Botschaft richtig wiederzugeben. Amice ist ein gutes Kind, und obgleich sie weder lesen noch schreiben kann – wer von uns kann das schon, nicht wahr, Master Chapman? –, tut sie ihr Bestes, um ihren Vater und mich über ihren Aufenthalt auf dem laufenden zu halten. Das ist gar nicht so einfach, denn die Adligen ziehen heutzutage kreuz und quer durchs Land. Man könnte meinen, daß sie es nirgendwo länger als ein paar Tage ertragen. Dabei hält Herzogin Cicely nach allem, was man hört, gar nicht so viel vom Reisen. Trotzdem hat sie wohl das Gefühl, in Zeiten des Krieges sollte sie besser in London sein.»
Ich nickte. « Ganz bestimmt wird sie ihre drei Söhne verabschieden wollen, ehe sie nach Frankreich ziehen. Und es ist auch wahrscheinlich, daß Herzog Richard bei ihr in Baynard’s Castle wohnen wird. Das tut er immer, wenn er in der Hauptstadt ist.»
« Na, Ihr müßt es ja wissen!» erwiderte meine Gastgeberin mit einem spöttischen Grinsen.
«Jemand, der es wissen muß, hat es mir mal erzählt», entgegnete ich ausweichend. Wieder hatte ich das Gefühl, mich bloß unnötig in langatmige Erklärungen zu verwickeln, wenn ich zugab, daß ich dem Herzog von Gloucester schon zweimal begegnet und ihm bei beiden Gelegenheiten sogar persönlich zu Diensten gewesen war, und da ich es eilig hatte weiterzukommen, wollte ich mich auf kein langes Gespräch einlassen. «Euer Essen war ausgezeichnet, Mistress. Ja, es hat sogar noch besser geschmeckt, als es gerochen hat – etwas, das ich vor einer halben Stunde noch nicht für möglich gehalten hätte. Und nun laßt uns unseren Handel zum Abschluß bringen!» Ich hob meinen Packen vom Boden, schnürte ihn auf und breitete meine Waren auf ihrem Küchentisch aus.
Als Bezahlung für die Mahlzeit wählte Mistress Genrie ein kleines geschnitztes Holzkästchen mit drei Nadeln sowie eine Spule mit feinem weißem Nähgarn aus. Für beides hätte sie vermutlich auf dem Markt etwas mehr bezahlen müssen, als sie mir für ihr Essen in Rechnung gestellt hätte, doch ich hatte den Tauschhandel selbst vorgeschlagen und konnte nun schlecht mein eigenes Wort in Zweifel ziehen. Sie warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf meine anderen Waren, vor allem auf ein Paar duftende Lederhandschuhe in tiefem Dunkelviolett. Wie mein warmes, scharlachrot gesäumtes Lederwams hatte ich sie im Tausch für eine Reihe praktischerer Dinge des täglichen Gebrauchs von der Frau eines verarmten Landadeligen in Dorset bekommen. Die Dame hatte sich nur ungern von den letzten Zeugnissen ihres vergangenen Wohlstands getrennt, aber die Familie hatte schwere Zeiten durchzustehen, und in der Not besinnt sich der Mensch auf das Wesentliche. Ich tröstete mich damit, ihr einen großzügigen Preis gewährt zu haben.
Mistress Gentle seufzte voller Bedauern und strich mit den Fingern über das weiche, seidig glänzende Leder. «John würde sie mir gewiß kaufen, wenn ich ihn darum bäte», versicherte sie mir ernst. «Doch wann habe ich schon einmal Gelegenheit, so feine Sachen zu tragen?» Einen traurigen Moment lang betrachtete sie ihre roten, von der vielen Arbeit rauhen Hände, ehe sie sie in ihrer Schürzentasche verbarg. «Nein, sie würden nur zwischen den Lavendelsäckchen in der Truhe liegen und nie und nimmer das Tageslicht sehen. Packt sie nur wieder in Euer Bündel, Master Chapman, ehe die Versuchung doch noch Oberhand gewinnt und ich meinen Ehemann gegen seine und meine Überzeugung dazu bringe, unnötig Geld auszugeben.» Wehmütig sah sie zu, wie ich die edlen Handschuhe in meinem Bündel verstaute, dann sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend: «Wenn Ihr die Stadt verlaßt, könntet Ihr nach Chilworth gehen. Die große Furt liegt nicht mehr als fünf oder sechs Meilen nordöstlich von Southampton, und ich wette, daß Ihr in Lady Wardroper eine willige Käuferin findet. Sie ist sehr stolz auf ihre zarten weißen Hände. Und Sir Cedric ist sehr viel älter als sie – ein liebevoller Ehemann, der sie vergöttert und ihr jeden Wunsch erfüllt.»
Ich dankte ihr für ihren Rat und verabschiedete mich. Sie schien mich nur widerwillig gehen zu lassen, und ich glaube fast, sie hätte mich noch länger aufgehalten, hätte von der offenen Tür nicht der nächste hungrige Gast nach ihr gerufen. Ich nutzte die Gelegenheit, schulterte mein Bündel und floh. Die beiden Hausfrauen waren inzwischen gegangen, und John Gentle, der Fleischer, stand am Eingang des Gäßchens und spähte nach neuer Kundschaft. Wir wechselten ein paar Worte, ich sagte ihm, wie gut mir sein Fleisch geschmeckt habe, aber er war zu sehr damit beschäftigt, nach neuen Kunden Ausschau zu halten, um sich mit jemandem abzugeben, dessen Hunger bereits gestillt worden war.
«Eure Frau hat mir geraten, nach Chilworth Manor zu gehen», sagte ich schließlich, und er nickte.
«Ihr tut ganz bestimmt gut daran, ihrem Rat zu folgen. Sir Cedric hat die Taschen voller Geld, und die Wardropers gehören zu den bekanntesten Familien in dieser Gegend. Ehrliche Leute, die noch die Sprache unseres Landes sprechen -jedenfalls, was die Männer angeht. Kurz bevor er nach London abgereist ist, habe ich den jungen Matthew getroffen. Er hat mir erzählt, sie hätten einen fahrenden Sänger zu Gast gehabt – es muß der gleiche gewesen sein, der wenig später hier bei uns gegessen hat –, und der hätte nur auf französisch gesungen, so daß keiner von ihnen ein Wort verstanden hat. Bis auf Lady Wardroper, die wohl ein paar Brocken dieser fremden Sprache versteht.»
Ich wünschte ihm einen guten Tag und beschloß, Mistress Gendes Empfehlung zu folgen, zumal ich, wenn ich in Richtung Nordosten wanderte, schließlich nach Winchester und damit auf die Straße nach London gelangen würde. Außerdem würde ich für die Nacht einen Unterschlupf brauchen, und ich spekulierte darauf, daß die großmütige Lady Wardroper mich in der Küche ihres Herrenhauses nächtigen lassen würde. Es war noch immer früh am Tag, und wenn ich rasch ausschritt, könnte ich Chilworth ohne große Schwierigkeiten am späten Nachmittag erreichen.
Ich rückte mein Bündel auf meinem Rücken zurecht und wandte meine Schritte in Richtung Osttor. Sobald ich die Mauern von Southampton hinter mir gelassen hatte, begann ich, in der für mich üblichen, unmelodischen Weise vor mich hinzupfeifen, denn wie ich zugeben muß, habe ich nie ein besonders feines Ohr für Musik besessen, und ich glaube auch nicht, daß sich das je ändern wird.