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Zweites Kapitel

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Der Nachmittag war schon recht weit fortgeschritten, als ich mich Chilworth Manor näherte. Das Herrenhaus lag ein oder zwei Meilen von der Furt entfernt, am Ufer eines Flüßchens, das in den Itchen mündete.

Es war ein herrlicher Tag. Der Wind wehte frisch und würzig über die Wiesen, aus den Schornsteinen der Hütten stieg schillernder Rauch auf, und der Himmel war so dunkelblau wie ein klarer See, auf dem ein paar weiche weiße Wölkchen schwammen. Die Hammerschläge eines Hufschmieds tönten wie ein fröhliches Glockenspiel zu mir herüber, das Flüßchen plätscherte mir in seinem schilfumstandenen Bett entgegen, und durch das glasklare Wasser konnte ich auf seinem Grund jeden Kiesel sehen. Gänseblümchen und goldgelbe Schöllkrautblüten bildeten einen bunten Teppich unter meinen Füßen.

Nach einer Weile führte das Flüßchen immer weniger Wasser, schließlich schien es ganz zu versiegen. Als ich um die nächste, von großen Weiden umstandene Biegung kam, sah ich, weshalb. Ein Schäfer hatte das Wasser gestaut, um seine Herde zu waschen. Ein untersetzter Bursche mit roten Wangen und verdrießlichem Blick ging ihm dabei zur Hand. Die Aufgabe des Jungen war es, jeweils eines der widerspenstigen Tiere ins Wasser zu ziehen, wo der Schäfer die schlechte, lose Wolle rund um das Euter entfernte und das Vlies sauberwusch. Anschließend prüfte er Maul und Ohren des Tieres und ließ es dann auf das gegenüberliegende Ufer klettern, wo es sich, triefnaß und zitternd, zu seinen Kameraden gesellte und den Schäfer mit großen, vorwurfsvollen Augen anstarrte. Die von ihren Muttertieren getrennten Lämmer stießen unterdessen klägliche Hilfeschreie aus.

Fröhlich begrüßte ich den Schäfer und seinen Helfer. «Gott sei mit Euch! Bin ich auf dem richtigen Weg nach Chilworth Manor?»

Der Junge antwortete nicht, aber der ältere Mann hielt in seiner Arbeit inne und nickte. «Ja, Ihr befindet Euch sogar schon auf dem Land, das zu Chilworth gehört. Das Herrenhaus liegt noch etwa eine halbe Meile entfernt. Seid Ihr Hausierer?»

«Ja. Und ich hoffe, Lady Wardroper einige von meinen Waren verkaufen zu können. Eine Fleischersfrau in Southampton hat sie mir als Kundin empfohlen.»

Der Schäfer lachte. «Mistress Gentle, vermute ich. Eine brave Frau, immer bereit, anderen zu helfen. Ihre Tochter Amice hat früher gelegentlich für Lady Wardroper genäht und gestickt, ehe sie zu ihrer jetzigen Herrschaft gezogen ist.» Damit wandte er sich wieder dem Mutterschaf zu, das er gerade gewaschen hatte, und drückte ihm das Maul auseinander. Das über diese Behandlung zu Recht erboste Tier versuchte, sich aufzubäumen und mit beiden Vorderfüßen gegen seine Brust zu drücken, doch der Schäfer wehrte den Angriff geschickt ab. «Auf diese alte Dame hier muß man gut aufpassen», lachte er. «Sie kennt alle Tricks. Als sie noch jünger und kräftiger war, hat sie mir so manches kalte Tauchbad verschafft.» Als das Mutterschaf voll rechtschaffener Empörung aufs gegenüberliegende Ufer kletterte, winkte der Schäfer seinem Helfer zu, er möge einen Augenblick warten, und wandte sich zu mir um. «Meine Hütte ist ganz hier in der Nähe. Könntet Ihr, ehe Ihr ins Herrenhaus geht, noch bei meiner Frau vorbeischauen? Erst gestern abend hat sie sich bei mir darüber beklagt, daß schon seit Wochen kein Hausierer mehr in unserer Gegend war und ihr verschiedene Dinge fehlen. Die Klinge des Küchenmessers ist zerbrochen, und wir brauchen ein Paar gute, kräftige Schnüre, falls Ihr so etwas bei Euch habt.»

«Wenn Ihr mir den Weg etwas genauer beschreibt, werde ich Eurer Frau gern meine Waren zeigen.»

«Der Junge wird Euch den Weg weisen», lautete seine Antwort. «Ich habe nur noch die beiden alten Widder zu waschen, und mit denen werde ich auch gut alleine fertig. Jed, sei ein braver Junge und führe den Hausierer zu meiner Hütte. Aber spute dich und komm gleich darauf wieder hierher zurück», fügte er mit drohendem Unterton hinzu, als der Junge seine Arbeit mit einer Eilfertigkeit im Stich ließ, die seinem Meister nur mißfallen konnte. «Die Tiere müssen sorgfältig bewacht werden, bis ihre Wolle trocken und wieder gut eingefettet ist.»

Ich folgte dem Jungen über einen schmalen Pfad auf eine Anhöhe. Auch wenn ich keine Bekanntschaft mit dem Schäfer geschlossen hätte – das kurzgeschorene Gras hätte mir verraten, daß hier regelmäßig Schafe weideten. Das aus groben Steinen erbaute, einstöckige Haus stand im Schutz einiger großer Bäume, deren frühsommerliches Blätterkleid hellgrün in der Sonne blitzte.

«Das ist Jack Shepherds Haus», sagte der Junge und verlangsamte seinen Schritt. Die Aussicht, nach Erledigung seines Auftrags zu seiner Arbeit zurückkehren zu müssen, schien ihm gar nicht zu gefallen. Plötzlich kam ihm eine Eingebung. «Am besten, ich komme mit hinein und mache Euch mit der Hausfrau bekannt. Schließlich seid Ihr fremd in dieser Gegend.»

Ich legte eine Hand auf seine Schulter. «Mein Bündel wird schon für sich sprechen. Ich glaube, du läufst jetzt besser zu Master Shepherd zurück, ehe er dir Bummelei vorwirft und Sir Cedric Wardroper empfiehlt, einen anderen Helfer einzustellen.»

Der Junge sah mißmutig drein. Mit einem herzzerreißenden Seufzer schlug er sich alle Ausflüchte aus dem Kopf, die ihm seine Anstellung hätten kosten können, besann sich auf seine Pflichten und wandte sich zum Gehen. Ehe er am Fluß des Hügels verschwand, warf er mir noch einen letzten sehnsüchtigen Blick über die Schulter zu. Ich ging zum Haus und klopfte an die Tür.

Eine Frau mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen öffnete mir. Zu ihrem grauen Kleid trug sie eine Schürze und eine Haube aus grobem, ungebleichtem Leinen. Mein erster Eindruck war der von einem sauertöpfischen Wesen – ein gutes Beispiel dafür, wie irreführend Äußerlichkeiten sein können. Denn bei näherer Bekanntschaft erwies sich die Frau des Schäfers als eine äußerst angenehme und freundliche Zeitgenossin. Sie war etwa im gleichen Alter wie ihr Mann und hieß mich mit einem breiten Lächeln willkommen.

Als ich ihr von meiner Begegnung mit ihrem Mann berichtet hatte, drängte sie mich sofort, auf einem dreibeinigen Stuhl neben dem Herd Platz zu nehmen und mich bei einer Mahlzeit zu stärken.

«Ich habe gerade frischen Haferkuchen gebacken», sagte sie und begann, die heiße Asche rund um einen umgestürzten Topf beiseite zu kratzen. Dann nahm sie den Topf ab, holte ein sauberes Tuch, hob den Kuchen von den Herdkacheln und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch. Schließlich holte sie noch ein Stück Butter, das sie, um es kühl zu halten, in frische Ampferblätter gewickelt hatte, füllte eine hölzerne Tasse mit Ale aus dem Faß in der Küchenecke und forderte mich auf, meinen Stuhl näher heranzuziehen und tüchtig zuzulangen.

«Falls Ihr nichts dagegen habt», sagte sie, «könnte ich, während Ihr eßt, Eure Waren anschauen.»

Ich stimmte mit Vergnügen zu und breitete den Inhalt meines Bündels auf dem anderen Ende des Tisches aus – ganz so, wie ich es am späten Vormittag für Mistress Gentle getan hatte. Auch die Frau des Schäfers strich bewundernd über die violetten Lederhandschuhe, und auf ihrem Gesicht lag die gleiche Mischung aus Sehnsucht und Bedauern.

«Ich habe vor, sie Lady Wardroper zu zeigen», sagte ich, und die Frau des Schäfers nickte.

«Ja, sie wird sie ganz gewiß kaufen und froh sein über die Gelegenheit, denn sie hat eine große Schwäche für feine Kleidungsstücke, und wie Euch mein Mann schon gesagt hat, ist durch unsere Gegend seit vielen Wochen kein Händler mehr gekommen. Wir liegen hier ein wenig ab vom Schuß, und es kommt öfter vor, daß vorüberziehende Reisende gar nicht bis zu uns vordringen. Was aber nicht heißen soll, daß nie jemand nach Chilworth kommt. Erst letzten Monat hatten wir einen fahrenden Sänger hier, der Sir Cedric und Lady Wardroper mit seiner Kunst unterhalten und die Nacht im Herrenhaus verbracht hat. Die Herrschaften waren über seinen Besuch auch deshalb so erfreut, weil Master Matthew damals noch zu Hause herumsaß, Däumchen drehte und daraufwartete, seine neue Stellung beim Herzog von Gloucester antreten zu können.»

«Von dieser Stellung habe ich auch schon gehört», sagte ich, spülte den letzten Bissen Haferkuchen mit etwas Ale herunter und wischte mir den Mund mit dem Handrücken ab. Als ich ihren fragenden Blick sah, fügte ich hinzu: «Mistress Gentle, die Fleischersfrau in Southampton, hat mir davon erzählt.»

Meine Gastgeberin lachte. «Nun, das erklärt alles. Die gute Joan Gentle ist immer zum Klatschen aufgelegt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Aber ich bin wohl kaum dazu berufen, ihr daraus einen Strick zu drehen. Ich wäre eine reiche Frau, wenn ich bei dem üblichen Ausspruch meines Mannes jedesmal eine Silbermünze bekommen hätte: ‹Millisent, deine Zunge wird eines Tages noch dick anschwellen und ganz schwarz werden, wenn du nicht langsam damit aufhörst, über die Angelegenheiten anderer Leute zu klatschen›»

Ich grinste mitfühlend. «So etwas ähnliches hat meine Mutter auch immer zu mir gesagt, als sie noch lebte – Gott sei ihrer Seele gnädig! ‹Deine unbezähmbare Neugier wird dich eines Tages noch ins Verderben führen, mein Sohn›, hat sie mich stets gescholten.» Ich befeuchtete meinen Zeigefinger und fischte damit die letzten Krümel des Haferkuchens vom Brett. «Das war ganz ausgezeichnet, Mistress.» Millisent Shepherd lächelte und füllte meine Tasse ein zweites Mal mit Ale. Dann beugte sie sich wieder über den Inhalt meines Packens. Ich machte es mir auf dem Stuhl bequem und freute mich über die Gelegenheit, nicht nur meinen Durst, sondern auch meine Neugier stillen zu können. «Wie ist es eigentlich dazu gekommen, daß der junge Master Wardroper in den Dienst des Herzogs von Gloucester trat?»

Die Frau hielt inne. Ihre Finger waren gerade über ein paar hübsche Seidenbänder geglitten, die sie wahrscheinlich tausendmal lieber gekauft hätte als ein Küchenmesser, aber offenbar fürchtete sie die Mißbilligung ihres Ehemannes.

«Ich kenne die Einzelheiten der Abmachung nicht», gestand sie mit einer gewissen Betretenheit ein, als wäre es ihre Pflicht und Schuldigkeit, über alles, was auf Chilworth Manor vor sich ging, ganz genau Bescheid zu wissen. «Doch ich glaube, Lady Wardroper hat einen entfernten Verwandten, der bereits eine feste Stellung im Haushalt des Herzogs hat. Ich habe vergessen, was für eine Stellung das ist, aber Mary Bück, die Wäscherin, hat mir erzählt, er sei dort ein wichtiger Mann. Und als es darum ging, für Master Matthew eine neue Stellung zu finden, fiel Lady Wardroper dieser Lionel Arrowsmith ein, und sie ließ ihm eine Nachricht zukommen. Er war damals irgendwo im Norden... Wo auch immer der Herzog weilt, wenn er nicht in London ist.»

«In Middleham Castle vermutlich», sagte ich. «Es soll hoch oben in den Mooren von Yorkshire sein. Dort verbringt Herzog Richard den größten Teil seiner Zeit, und dort leben auch sein kleiner Sohn und die Herzogin.»

Millisent Shepherd betrachtete mich mit neu erwachtem Interesse. «Ihr wißt sehr viel», sagte sie nicht ohne Bewunderung. «Aber in Eurem Gewerbe kommt Ihr natürlich auch viel herum und hört, was die Leute reden.»

«Allerdings. Aber wieso mußte Lady Wardroper für Master Matthew eine neue Stellung finden? Gewiß ist seine Zukunft auf Chilworth Manor doch gesichert.»

«Das schon. Doch wie alle Knaben seines Standes wurde er zur Erziehung in einen anderen Haushalt geschickt. Er ist bei einem Freund von Sir Cedric aufgewachsen – Sir Peter Wells hieß er, glaube ich. Er wohnte ziemlich weit von hier, in der Nähe von Leicester, soweit ich weiß. Letzte Weihnachten ist dieser Sir Peter gestorben, ohne ein Kind oder einen Nachfolger zu hinterlassen. Seine Frau hat sich in ein Kloster zurückgezogen, und der Haushalt wurde aufgelöst. Master Matthew kehrte nach Chilworth zurück, und da war er nun, siebzehn Jahre alt und ohne festen Platz auf der Welt.» Die Schäfersfrau verzog das Gesicht und hob die Schultern. «Sir Cedric ist nun einmal nicht der Mann, der einen lebenslustigen Müßiggänger in seinem Hause duldet. Er ist gut zwanzig Jahre älter als seine Frau, und es dauerte nicht lange, bis er und Master Matthew sich in der Wolle hatten. So hat es mir jedenfalls meine Freundin, die Wäscherin, erzählt. Uns hat das alles nicht sonderlich überrascht. Schon als kleines Kind ist Matthew das Ebenbild seiner Mutter gewesen: die gleichen Augen, die gleichen Haare, die gleichen Gesichtszüge. Und es heißt doch immer, daß Menschen, die sich ähnlich sehen, sich auch in anderer Hinsicht ähnlich sind, oder stimmt das nicht?»

Zögernd bestätigte ich die Behauptung. «Obgleich ich auch schon Zwillinge gekannt habe, die sich äußerlich vollkommen ähnlich waren und doch eine ganz andere Wesensart besaßen.»

Mistress Shepherd tat meine Bemerkung mit einer unwirschen Handbewegung ab. «Das mag ja sein, aber in diesem besonderen Fall liegt es auf der Hand. Sir Cedric ist ein eher humorloser Mann, während Mylady immer gern gescherzt und gelacht hat. Natürlich hat sie sich über die Jahre zügeln müssen, um sich dem Temperament ihres Mannes anzupassen. Master Matt dagegen sah keinen Grund, seinem Vater zuliebe auf irgend etwas zu verzichten. Um den Hausfrieden zu bewahren, mußte er daher so bald wie möglich andernorts untergebracht werden. Mylady wandte sich an ihren Verwandten im Dienste des Herzogs von Gloucester, und schon wenige Wochen später kam der Bote mit der Kunde zurück, Master Matt könne sich dem Haushalt des Herzogs anschließen, sobald er nach Süden komme. Nach allem, was ich gehört habe, rüsten wir uns ja wieder einmal für einen Kampf gegen die Franzosen. Ach, ihr Männer! Alles, woran ihr zwischen Wiege und Bahre denken könnt, ist das Raufen und Kämpfen. Frauen sind da viel vernünftiger. Mädchen lernen rasch, daß es viel bessere Möglichkeiten gibt, miteinander auszukommen, als sich die Augen auszukratzen. Wir Frauen verabscheuen jede Gewalt.»

«Ich kenne da allerdings einige Ausnahmen», erwiderte ich grimmig, ließ mich jedoch auch diesmal nicht auf eine genauere Erklärung ein. «Ist etwas dabei, das Euer Gefallen findet?» lenkte ich rasch auf ein anderes Thema über.

Meine Gastgeberin seufzte. «Es müssen dieses Messer und die Hanfschnüre sein. Sie werden dringend benötigt, und wir haben zuwenig Geld, um es für irgendwelche überflüssige Dinge auszugeben. Nennt mir Euren Preis, damit ich Euch bezahlen kann und Ihr zum Herrenhaus weiterziehen könnt. Eure Handschuhe werden dort mit Sicherheit eine zahlungskräftige Abnehmerin finden, denn Sir Cedric mag zwar halsstarrig sein und jeglichen leichtfertigen Zeitvertreib im Leben mißbilligen, aber er ist auch ein nachsichtiger und äußerst freigebiger Ehemann.» Sie stieß einen weiteren Seufzer aus. «Manche Frauen haben eben mehr Glück als andere.»

Ich lachte, und da ich kein Verlangen hatte, mich in einen Ehezwist hineinziehen zu lassen, fügte ich rasch hinzu: «Ich bin sicher, Euer Mann würde, wenn es ihm möglich wäre, für Euch das gleiche tun.» Dann nannte ich eine angemessene Summe für Messer und Schnüre, verstaute das Geld in meiner Börse und schenkte der Schäfersfrau noch eine Spule Garn, die sie dankbar entgegennahm.

«Ihr seid ein guter Junge. Das habe ich sofort gesehen, als Ihr zur Tür hereingekommen seid. Und jetzt fort mit Euch, denn Ihr habt das Abendessen meines Mannes verspeist, und ich muß schnell noch einen neuen Haferkuchen backen, ehe er nach Hause kommt und nach seiner Mahlzeit verlangt.»

Trotz ihrer Eile begleitete sie mich zur Tür und winkte mir nach, bis der Pfad am Fuße des Abhangs eine Biegung machte und ich außer Sichtweite war.

Die Schafherde war inzwischen vollständig gewaschen. Jed hockte auf dem gegenüberliegenden Ufer, gähnte vor Langeweile und kratzte sich seinen von Flöhen zerstochenen Hals, während er darauf wartete, daß die Felle der Tiere trockneten. Jack Shepherd selbst war damit beschäftigt, die Lämmer durch eine kleine, selbst angelegte Furt zu treiben, um sie wieder mit ihren Muttertieren zu vereinen.

«Sie haben Schwierigkeiten, ihre Mütter wiederzufinden», sagte er mir kichernd. «Schafe sind wirklich dumme Geschöpfe, aber das hat auch sein Gutes. Es hilft uns, die Kleinen zu entwöhnen.» Er nahm einen Spaten und begann, den Damm abzutragen, mit dem er das Flüßchen angestaut hatte. Rauschend strömte das Wasser in sein altes Bett. «Hat meine Frau bekommen, was sie wollte?»

«Ja», versicherte ich ihm und hielt es für klüger, nicht zu erwähnen, daß ich bei der Gelegenheit auch gleich sein Abendessen verspeist hatte. «Ich mache mich auf den Weg zum Herrenhaus. Ich habe ein Paar Handschuhe dabei, die Lady Wardroper vielleicht gefallen könnten.»

«Dann wünsche ich Euch viel Glück», sagte der Schäfer. «Ihr braucht bloß am Ufer entlangzugehen, bis Ihr zu einer Weide kommt, deren Zweige fast bis hinüber zum anderen Ufer reichen. Dort biegt ein Pfad ab, der Euch quer über die Wiesen führt. Sobald Ihr die nächste Anhöhe erreicht habt, werdet Ihr das Herrenhaus vor Euch sehen.»

Ich dankte ihm von Herzen, er wünschte mir Gottes Segen, und selbst der Junge raffte sich auf, mir zum Abschied zuzuwinken. Und so schieden wir in freundlichem Einvernehmen.

Sobald ihr die Kunde meiner Ankunft von einem ihrer Mädchen überbracht worden war, wurde ich in Lady Wardropers Salon geführt. Zwar mißbilligte der Haushofmeister, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit grauem Haar und wäßrigen, mißtrauischen Augen, ganz offensichtlich meine Anwesenheit, doch das Mädchen, das sich mir verlegen kichernd mit dem Namen Jennet vorgestellt hatte, sagte, davon lasse sich ihre Herrin nicht abschrecken.

«Master Stewards Meinung ist der Lady völlig gleichgültig. Sie langweilt sich schrecklich, was ja auch nur allzu verständlich ist, wenn man bedenkt, daß sie den ganzen Sommer über hier auf dem Land festsitzt. Sir Cedric hatte versprochen, mit ihr nach London zu reisen, doch jetzt, wo der König in Frankreich ist, will er sein Versprechen nicht halten. Er sagt, für eine anständige Frau schicke es sich nicht, in der Hauptstadt zu sein, wenn sich so viele Männer dort aufhalten. Er meint, in solchen Zeiten würde die Unzucht in allen Gassen lauern.» Wieder kicherte Jennet. «Nicht daß der Lady das irgend etwas ausgemacht hätte. Sie wäre wohl behütet gewesen, aber wenn Sir Cedric nein sagt, meint er auch nein.»

Ich zog den Kopf ein, als wir unter einem Bogen hindurchgingen, und folgte dem Mädchen eine flache Treppe hinauf.

«Wahrscheinlich macht er sich unnötig Sorgen», stimmte ich zu. «Der Großteil der Truppen hat sich sowieso in Kent versammelt, in Barham Down in der Nähe von Canterbury. So haben es mir jedenfalls mehrere Leute erzählt, die aus dieser Richtung kamen. Aber Sir Cedric kann seine Lage natürlich am besten selbst beurteilen.»

«Wie ich schon sagte: Wenn er sich einmal zu etwas entschlossen hat, kann niemand ihn zum Einlenken bringen.» Vor einer eisenbeschlagenen Tür blieb Jennet stehen. «Und die Tatsache, daß sein eigener Sohn am vergangenen Montag nach London geritten ist, um sich dem Herzog von Gloucester anzuschließen, reicht aus, um ihn davon zu überzeugen, daß er im Recht ist. Schließlich heißt es überall, daß der Herzog in wenigen Wochen ebenfalls nach Frankreich ziehen wird.» Sie klopfte an die Tür.

Eine liebenswürdige Stimme forderte uns auf einzutreten.

Lady Wardroper saß in einem mit reichen Schnitzereien verzierten Lehnstuhl neben dem leeren Kamin und hielt einen Stickrahmen im Schoß. Sie war eine hübsche Frau mit sanften blauen Augen und fein geschwungenen Lippen, die sie zu einem Schmollmund verzogen hatte. Eine Strähne ihres dunklen, fast schwarzen Haares war aus der Haube gerutscht und fiel locker über eine Schulter. Ihre Haut war so blaß, daß Lady Wardroper sie gewiß nicht zusätzlich zu bleichen brauchte, wie es derzeit bei vornehmen Damen Mode war. Ihr Haaransatz war allerdings rasiert, so daß ihre Stirn eine hohe, geschwungene Kuppel bildete – ein Zeichen dafür, daß Lady Wardroper trotz ihrer Abgeschiedenheit nicht jeden Anspruch auf eine modische Erscheinung aufgegeben hatte. Sie trug ein Gewand aus dunkelblauer Seide, an der Taille zusammengehalten von einem Gürtel aus zimtfarbenem Samt mit einer silbernen, reich mit Saphiren besetzten Schnalle. An jedem Finger trug sie Ringe, und ihren schlanken Hals schmückte ein Rosenkranz aus Elfenbein.

Sie sah auf, als Jennet mich ins Zimmer führte, und legte den Stickrahmen beiseite. Auf dem gerade noch so mißmutigen, gelangweilten Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln, und auf ihren Wangen bildeten sich, wie ich sogleich bemerkte, die entzückendsten kleinen Grübchen.

«Der Hausierer!» rief sie, klatschte in die Hände und schien, wie so viele Menschen, von meiner Körpergröße und meiner Jugendlichkeit überrascht. «Lieber Himmel», lachte sie, «wie groß Ihr seid! Bitte, setzt Euch doch. Ich möchte mir nicht den Hals verrenken. Und jetzt», fuhr sie ein wenig atemlos fort, «laßt einmal sehen, was Ihr in Eurem Bündel habt.»

Und so kam es, daß ich zum dritten Mal an diesem Tag unter den kritischen Blicken einer Frau meine Waren auslegte. Lady Wardroper musterte sorgfältig jedes einzelne Stück, doch entging mir nicht, daß ihre Augen immer wieder zu den violetten Handschuhen wanderten. Endlich streckte sie eine Hand aus und strich über das weiche Leder.

«Sie sind nicht neu», klärte ich sie rasch auf, ehe sie Gelegenheit hatte, selbst darauf zu kommen. «Wenn Ihr genau hinschaut, werdet Ihr sehen, daß der linke Daumen an der Spitze ein wenig abgerieben ist.»

Sie lächelte mich an. «Ich hatte es schon bemerkt und mich gefragt, ob Ihr wohl so ehrlich sein würdet, es offen einzugestehen, vor allem weil es sich um einen so geringfügigen Makel handelt. Wie seid Ihr an die Handschuhe gekommen?» Sie hörte sich meine Geschichte geduldig an und nickte verständnisvoll. «In diesem Jahr haben viele Menschen den Druck der erhöhten Steuern zu spüren bekommen. Sir Cedric, meinem Ehemann, ist es glücklicherweise gelungen, alle Unbilden zu überstehen, doch andere, die weniger glücklich waren als wir, haben den Kopf nicht über Wasser halten können.» Sie musterte mich nachdenklich. «Ihr scheint ein ehrlicher Bursche zu sein, deshalb nehme ich an, Ihr habt der armen Dame einen gerechten Preis für ihre Handschuhe gegeben?» Ich nannte die Summe, und sie schien zufrieden zu sein. «Wirklich mehr als ausreichend. Also gut! Was werdet Ihr von mir verlangen, falls ich mich entscheide, die Handschuhe zu erwerben?»

Wir feilschten ein wenig, doch am Ende erklärte sie sich mit meinem Preis einverstanden. Sie klingelte mit der Glocke, die neben ihr auf einem Tischchen stand, und als Jennet erschien, wies sie das Mädchen an, mit mir zum Kontor zu gehen und dem Kontoristen zu sagen, er solle mich auszahlen. Während ich mein Bündel wieder zusammenschnürte, zog Lady Wardroper die Handschuhe an, streckte zufrieden die Hände aus und bewunderte ihre Wirkung. Dazu summte sie ein paar Takte aus einem Lied und sang: «Das ist das Ende. Doch ganz gleich, was geredet wird, ich muß dich lieben.» Sie warf mir einen koketten Blick zu und fragte: «Mögt Ihr Musik, Master Chapman?» Und mit bedauerndem Tonfall fügte sie hinzu: «Ich kenne keinen Mann, der Sinn dafür hat.»

«Leider, Mylady, habe auch ich nicht das rechte Ohr für gute Musik. Aber die Worte, die Ihr soeben gesungen habt, klangen sehr... traurig.» Ich tat mein bestes, meiner Wertschätzung höflich Ausdruck zu verleihen.

Sie lachte. «Es ist ein Lied von einem französischen Trouvère und, wie Ihr ganz richtig bemerkt habt, ziemlich traurig. Es heißt C’est la fin, und wenn es von einem bretonischen Bombard begleitet wird, klingt es besonders bewegend.»

Als die Tür sich hinter uns geschlossen hatte, prustete Jennet vor Lachen. «Französische Liebeslieder! Man sollte meinen, in ihrem Alter hätte sie diesen Unsinn allmählich hinter sich.»

«Wie alt ist Lady Wardroper eigentlich?» fragte ich, denn meine Neugier war geweckt.

Jennet warf den Kopf zurück. «Nun ja, als Mutter eines siebzehnjährigen Sohnes kann sie nicht mehr ganz so jung sein, oder? Das kann man auch an den Falten an ihrem Hals und auf ihren Handrücken sehen. Allerdings glaube ich nicht, daß sie viel älter als sechzehn war, als Master Matthew zur Welt gekommen ist. So hat man es mir jedenfalls erzählt. Ich bin zu jung, um mich selbst daran erinnern zu können.»

«Und Sir Cedric ist sehr viel älter als sie?»

«Fünfundzwanzig Jahre, glaube ich. Er vergöttert sie, aber mit Master Matthew kommt er seltsamerweise überhaupt nicht aus.» Sie führte mich eine schmale Wendeltreppe hinunter, bis wir auf der Rückseite des Hauses auf einen kleinen dunklen Treppenabsatz kamen. «Und doch», fuhr Jennet fort, «der junge Master ist das Ebenbild seiner Mutter. Rein äußerlich jedenfalls. Und er scheint auch ihr sonniges, unbekümmertes Gemüt geerbt zu haben. Nicht daß ich ihn oft zu Gesicht bekommen hätte. Eigentlich nur in den letzten paar Monaten, nachdem er aus dem Norden zurückgekehrt war. Die Jahre davor hat er irgendwo in der Nähe von Leicester verbracht.»

«Das hat man mir erzählt», erwiderte ich. «Doch was bei der Ehefrau besonders anziehend ist, gilt bei dem eigenen Sohn nicht unbedingt als Empfehlung. Vermutlich hat Sir Cedric gehofft, sein einziges Kind schlüge eher ihm nach als seiner Mutter.»

«Das ist möglich», stimmte Jennet zu und blieb vor dem mit einem Vorhang verdeckten Durchgang stehen. « Sir Wardroper ist ein ernsthafter, nüchterner Mann, der sich bei seinem Sohn gewiß die gleichen Eigenschaften wünscht.» Sie deutete auf den Vorhang aus Leder. «Dahinter ist das Kontor.» Sie legte eine Hand auf meinen Arm. «Es ist schon spät. Braucht Ihr ein Bett für heute nacht? Ich könnte die Köchin überreden, Euch in der Küche ein Eckchen zu überlassen.»

«Dafür wäre ich Euch sehr dankbar», erwiderte ich lächelnd. «Ich hatte darauf gehofft, hier ein Obdach für die Nacht zu finden. Und wenn Ihr Euch für mich verwenden wollt...»

« Betrachtet es als so gut wie abgemacht», erwiderte Jennet mit einem schelmischen Grinsen.

Das alte Lied

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