Читать книгу Das alte Lied - Kate Sedley - Страница 5
Drittes Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen beim ersten Hahnenschrei setzte ich mich auf dem Strohlager auf, das mir die Köchin freundlich zugewiesen hatte, und betrachtete die schlafende Gestalt, die neben mir lag.
Jennets lange Wimpern formten zwei rotgoldene Halbmonde auf ihren zarten Wangen. Ihr Haar, von der gleichen Farbe wie die Wimpern, ergoß sich in üppigen Locken über mein Bündel, das ihr notdürftig als Kopfkissen diente, und ein zart gerundeter Arm ragte aus der groben grauen Decke, die sie von ihrem Rollbett im Vorzimmer ihrer Herrin mitgebracht und um uns beide geschlungen hatte.
Ich war kaum überrascht gewesen, als Jennet in den frühen Stunden des kühlen Junimorgens in die Küche geschlichen kam und sich an mich schmiegte. Ihre Blicke am vorigen Abend hatten mir einen solchen Besuch verheißen, und sie wußte, daß ich in der Küche allein war. Kein anderer Reisender hatte den Frieden von Chilworth gestört, und sie selbst hatte mich wissen lassen, daß die Köchin, die Küchenmädchen und der Küchenjunge im Hauptgebäude bei der restlichen Dienerschaft schliefen.
Ein paar kostbare, stumme Augenblicke lang betrachtete ich sie noch, dann berührte ich sanft ihre Schulter. Sie war sofort wach, schlug die Decke zurück, setzte sich auf und umschlang die Knie mit beiden Armen. Ihre langen Haare waren wie ein dichter Umhang, doch selbst durch die üppigen Strähnen waren die Rundungen ihres Körpers deutlich zu erkennen.
«Du mußt jetzt gehen», flüsterte ich bedauernd und deutete auf die schmalen Lichtstrahlen, die durch die Ritzen der Fensterläden drangen. «Ein Teil der Dienerschaft ist schon aufgestanden. Ich kann sie im Haus rumoren hören.» Ich beugte mich zu ihr und küßte ihre weichen Lippen. «Und für mich ist es auch an der Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen.»
Jennet seufzte, stand auf und wickelte sich in die Decke. So stand sie da und schaute auf mich herunter. Ein leichtes Lächeln spielte um den vollen Mund, und in den graugrünen Augen funkelte es verschmitzt. Schließlich zwinkerte sie mir noch einmal zu, schlang die Decke noch fester um ihren Körper und lief so rasch zur Tür, daß ihre bloßen Füße über die Steinfliesen klatschten.
Ich zog mich rasch an und ging hinaus zur Pumpe im Hof, wo ich mir eisiges Wasser über Gesicht und Hände schüttete. Als ich in die Küche zurückkehrte, hantierten dort schon zwei der Küchenmädchen mit den schweren Töpfen, gähnten und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Eine von ihnen ließ sich beschwatzen, mir kochendes Wasser zum Rasieren zu bringen – allerdings erst, nachdem ich ihr versprochen hatte, mich des Blasebalgs anzunehmen und der im Ofen noch vom Vorabend schwelenden Glut neues Leben einzuhauchen. Das zweite Mädchen bot mir, ohne daß ich sie darum bitten mußte, sogar etwas Haferschleim und gebratenen Speck zum Frühstück an, eine Mahlzeit, über die ich mich dankbar hermachte. Ich saß noch immer am Tisch und aß, als die Köchin hereinkam, aber sie nickte mir nur kurz zu und sagte, sie hoffe, ich würde bald verschwinden und ihr nicht länger als unbedingt nötig im Wege herumstehen.
«Ich bin schon so gut wie unterwegs», versicherte ich ihr fröhlich, schob das letzte Stück Speck in den Mund und streifte mein Wams über. «Sieht ganz so aus, als würde es ein schöner Tag, und ich will keine Zeit vergeuden.»
«Wohin geht Ihr?» fragte sie, band ihre Schürze um und griff nach einem gewaltigen Schöpflöffel.
«In Richtung Winchester. Und dann weiter nach London.»
Sie gab ein kehliges Kichern von sich. «Man sagt, in London seien die Straßen mit Gold gepflastert. Aber ich habe da so meine Zweifel. Wahrscheinlich handelt es sich wie überall sonst auch bloß um Pferdescheiße.»
«Allerdings.» Ich lachte. «Und um jede Menge tote Hunde, stinkenden Abfall und mit Horden von Fliegen bedeckten Mist. Natürlich werden trotz des Verbots innerhalb der Stadtgrenzen unzählige Schweine gehalten und auch sonst leichtfertig alle möglichen Gesetze übertreten.»
«Und Menschen ermordet», warf sie ein.
«O ja», stimmte ich zu. «Menschliche Verderbtheit gibt es überall.» Ich hatte mit mehr Bitterkeit gesprochen, als ich beabsichtigt hatte, und sah, wie die Köchin mir einen fragenden Seitenblick zuwarf. Rasch fuhr ich fort: «Gibt es von hier aus noch einen anderen Pfad zur Straße nach Winchester, oder muß ich zur großen Furt zurückkehren und den gleichen Weg nehmen, auf dem ich hergekommen bin?»
«Ja, es gibt einen anderen Pfad», räumte sie zögernd ein. «Den Leuten hier in der Gegend ist er wohlbekannt, und auch Ihr müßtet in der Lage sein, ihn zu finden, wenn Ihr ganz genau meinen Anweisungen folgt.» Sie begleitete mich zur Küchentür, und gemeinsam schauten wir hinaus in den dunstigen Morgen. Gerade drangen die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel.
Irgendwo zu unserer Linken raschelte ein großer Vogel, vielleicht eine Ringeltaube, im Unterholz. Die Köchin deutete mit der Schöpfkelle in die Ferne. «Als erstes geht Ihr zum Flüßchen zurück und wendet Euch ostwärts. Wenn Ihr das Land von Chilworth Manor verlaßt, kommt Ihr zu einer Waldläuferhütte. Sie liegt an der Kreuzung mit einem anderen Pfad, der erst nach Norden verläuft und dann westlich weiterführt. Es ist ein gut ausgetretener Pfad, und wenn Ihr nicht von ihm abweicht, wird er Euch ein bis zwei Meilen südlich der Stadt auf die Straße nach Winchester bringen.»
Ich nickte, stellte mir vor meinem geistigen Auge den Verlauf des Pfades vor und sah keinen Grund, warum ich ihn verfehlen sollte. Die Köchin war sich da allerdings nicht ganz so sicher.
«Die erste Wegstunde ist gar nicht schwierig», sagte sie. « Der Weg ist breit und führt Euch direkt zu einer Einsiedelei mitten im Wald. Eine halbe Meile später müßt Ihr jedoch mächtig aufpassen. Der Hauptweg ist dort von mehreren anderen Pfaden, die sich durchs dichte Waldland schlängeln, nicht mehr ganz so leicht zu unterscheiden, und Ihr könntet Euch durchaus verirren. Fremden ist das schon mehr als einmal passiert. Doch die Einheimischen, die wie ich die Gegend von Kind auf kennen, verirren sich nie, und das müßte eigentlich auch allen anderen gelingen, wenn sie ausreichend vorgewarnt sind und ihren Grips beieinander haben.» Sie legte eine Hand auf meinen Arm. «Ihr scheint ein schlaues Bürschchen zu sein. Achtet auf die Zeichen und haltet Euch immer nordwestlich.»
Ich dankte ihr, hievte meinen Packen auf die Schultern und schritt rasch aus. Obgleich ich mehrmals zurückschaute, war kein Zeichen von Jennet zu sehen. Die Erinnerung an unser Zusammensein ließ mich unwillkürlich lächeln. Wahrscheinlich würden wir uns niemals wiedersehen, doch in der letzten Nacht hatten wir einander für kurze Zeit Nähe und Zuneigung geschenkt.
Plötzlich wußte ich nicht mehr, wo ich war. Offenbar hatte ich irgendwo den falschen Abzweig genommen, und je länger ich darüber nachdachte, desto genauer glaubte ich zu wissen, wo es gewesen war.
Ich war an der Einsiedelei vorbeigekommen, hatte den ordentlich eingezäunten Gemüsegarten bewundert und war munter weitermarschiert. Hatte die Köchin mich nicht ein «schlaues Bürschchen» genannt? Hatte ich ihr nicht im Innersten meines Herzens freudig zugestimmt? Und heißt es nicht im Buch Jesus Sirach, Stolz und Hochmut führten unweigerlich ins Verderben? Es war mir am Anfang so einfach erschienen, den richtigen Weg von all den anderen kleinen Pfaden zu unterscheiden, die den Waldboden in einem schattigen Zickzack durchzogen und sich im düsteren Unterholz verloren. Doch dann war ich an einer Stelle angelangt, an der sich der Weg so unmerklich gabelte, daß es mich hätte stutzig machen müssen. Hätte ich wirklich darüber nachgedacht, welchem Pfad ich folgen sollte, hätte ich, wie mir jetzt klar wurde, den schmaleren Pfad zur Linken gewählt, der nach Westen abbog und viel ausgetretener war als der, den ich genommen hatte. Außerdem erinnerte ich mich jetzt daran, daß die überhängenden Zweige von den Stöcken und Messern früherer Wanderer, die sich ihren Weg durch den Wald gebahnt hatten, erheblich gestutzt worden waren.
Trotz all dieser deutlich sichtbaren Zeichen war ich, ohne anzuhalten oder wirklich nachzudenken – versunken in die glückliche Erinnerung an meine Stunden mit Jennet –, auf den breiteren, aber weniger ausgetretenen Pfad geraten, der nach einer Viertelmeile immer schmaler wurde, bis er sich schließlich als kaum noch erkennbarer Trampelpfad durch ein Dickicht aus Büschen und jungen Bäumen schlängelte. Über mir wölbten sich Zweige mit triefnassen Blättern, zu denen kaum je ein Sonnenstrahl drang. Meine Füße patschten durch trügerischen, schlüpfrigen Morast. Und mit jedem Schritt ging ich weiter in Richtung Osten, entfernte mich immer mehr von der Straße nach Winchester.
Ich verfluchte mich ausgiebig für die Dummheit und Überheblichkeit, die zu meiner gegenwärtigen Zwangslage geführt hatten – obgleich «Zwangslage» vielleicht ein zu starkes Wort war, denn ich hatte keine ernsthaften Zweifel daran, daß ich mich jederzeit durch das Unterholz zu meiner Linken schlagen und wieder auf den rechten Weg gelangen könnte. Dennoch beschloß ich, dem schmalen Trampelpfad noch ein Stück weit zu folgen. Ich hoffte, auf einen Abzweig zu stoßen, der mich zurückführen würde, ohne daß ich mir Hose und Wams zerreißen müßte. Auch hätte sich mein sperriger Packen in diesem Gelände als hinderlich erwiesen. Hinter den harmlosen blassen Blüten der Büsche verbarg sich zweifellos ein widerspenstiges Dornengestrüpp.
Plötzlich wurde es heller, und ich fand mich auf einer kleinen, von Gras und Blumen überwucherten Lichtung wieder. In der Mitte stand eine winzige Kapelle; die Nische, in der einst ein Heiliger gestanden hatte, war leer. Brüchige graue Steine ragten aus einer dichten Efeudecke wie Knochen aus zerfetzter Haut, und durch die Löcher und Ritzen im bröckeligen Mörtel schob sich ein Gewirr aus Wegwarte, Rainfarn und Pfennigkraut. Ich trat näher, ließ meinen Packen vom Rücken gleiten und untersuchte die kleine Kapelle ein wenig näher. Es gab keinen Hinweis darauf, welchem Heiligen man sie einst geweiht hatte, aber immerhin hatte ich eine Vorstellung davon, warum sie verfallen war. Ein kurzer Blick über den Boden der Lichtung ließ zahlreiche Hügel und Buckel erkennen; hier und da schauten unter dem Gras sogar noch ein paar Steine heraus. All das legte nahe, daß es hier vor längerer Zeit einmal eine Siedlung gegeben hatte, ein kleines Dorf vielleicht, das wie so viele andere menschlichen Ansiedlungen im vorigen Jahrhundert vom Schwarzen Tod ausgelöscht worden war.
Diejenigen unter euch, die meine früheren Aufzeichnungen gelesen haben, werden wissen, daß ich zwar nicht mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet – oder geschlagen -bin, von meiner Mutter jedoch eine Art sechsten Sinn geerbt habe, der sich manchmal in Träumen, manchmal in seltsamen Vorahnungen zeigt. Eine solche Ahnung überkam mich auch jetzt. Ich blieb wie angewurzelt stehen, meine Nackenhaare sträubten sich vor Angst, und ich spürte, wie mir der Schweiß das Rückgrat herunterlief. Ich hatte ein sehr starkes Gespür für das Böse, doch ob die böse Tat in diesem Fall in der Vergangenheit lag oder sich erst noch ereignen sollte, vermochte ich nicht zu sagen. Die Stille war tödlich; kein Vogel sang, kein Insekt summte, und dabei war der Wald noch vor wenigen Augenblicken von diesen Geräuschen erfüllt gewesen. Die Bäume schienen bedrohlich näher zu kommen und mich zu erdrücken, bis ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen...
Der Augenblick ging vorüber. Ich schüttelte mich wie ein Hund, der nach langer Zeit im Wasser endlich trockenes Land unter den Füßen hat. Die Bäume wichen zurück. Ein Vogel flatterte durch die Zweige zu seinem Nest und zwitscherte beruhigend seinen Jungen zu. Grashüpfer und Grillen nahmen ihren vielstimmigen Chorgesang wieder auf. Erleichtert griff ich nach meinem Bündel. Dabei fiel mein Blick auf einen kleinen Blumenstrauß aus Glockenblumen, Lichtnelken und langen Efeuranken, der zu Füßen der Heiligennische lag. Ein paar Grashalme steckten zwischen den Blüten, die schon verwelkt und verblichen waren, und ich fragte mich, wer sich wohl die Mühe gemacht hatte, an diesen abgelegenen Ort vorzudringen, um einem nicht mehr vorhandenen Heiligen Blumen zu bringen. Welche Absicht mochte hinter dieser Opfergabe stecken?
Doch die Blumen konnten mir keine Antwort auf meine Fragen geben, also hob ich den Blick und suchte nach einem Weg, der mich von der Lichtung zurückführen könnte. In dem Moment entdeckte ich zu meiner Linken einen etwa mannsbreiten Pfad, den bereits jemand durch Büsche und Unterholz geschlagen hatte. Durch den geschickten Einsatz meines eigenen Knüppels konnte ich mich und meinen Pakken ohne größere Schwierigkeiten hindurchzwängen und gelangte bereits zehn Minuten später zu dem Pfad, auf dem ich gewandert war, ehe ich mich aufgrund meiner eigenen Dummheit verlaufen hatte.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich auf die Straße von Southampton nach Winchester trat. Die Mittagsstunde war längst vorüber, doch wegen meines Mißgeschicks hatte ich noch nichts gegessen. In der Hoffnung, irgendwo meinen Hunger stillen zu können, lenkte ich meine Schritte in Richtung Stadt. Vielleicht würde ich auf ein Wirtshaus an der Straße oder auf eine einladende Hütte treffen, deren Herrin bereit war, mir gegen eine hübsche Bezahlung etwas Eßbares vorzusetzen. Ich war noch nicht weit gegangen, da hörte ich hinter mir Räder quietschen und sah, als ich über meine Schulter schaute, ein leeres Fuhrwerk herankommen. Es wurde von einem schweren, kastanienbraunen Ackergaul gezogen und einem grobschlächtigen Landburschen gelenkt. Er trug einen grauen Wollkittel und grobe Wollhosen, seine Füße steckten in festen Stiefeln aus derbem braunem Leder. Als er meine Höhe erreicht hatte, brachte er sein Fuhrwerk zum Stehen.
«Wollt Ihr mitfahren, Master Chapman?» fragte er knapp.
«Sehr gerne», gab ich zurück. «Aber noch lieber wäre es mir, wenn Ihr mir sagen könntet, wo ich hier in der Gegend etwas zu essen und zu trinken bekomme. Ich habe nämlich mein Mittagsmahl verpaßt.»
Der Mann grinste und zupfte an der Krempe seines Huts. «Habt wohl Euren Proviant vergessen?» Er betrachtete mich nachdenklich. «Allerdings seht Ihr nicht aus wie einer, der sein Essen vergißt. Aber es ist schon früher Nachmittag. Die Mittagsstunde liegt zwei Stunden zurück.»
«Ja, ich weiß. Ich habe eine Abkürzung durch den Wald genommen und mich dummerweise verlaufen. So geht’s einem, wenn man besonders schlau sein will.»
Der Mann lachte. «Ja, da habt Ihr wohl recht.» Er zeigte auf den leeren Sitz neben sich. «Springt auf. Ich soll auf einer Farm ganz in der Nähe Wolle abholen. Die Farmersfrau wird Euch bestimmt etwas Gutes vorsetzen. Sie hat eine scharfe Zunge, aber ein gutes Herz und wird sich freuen, einen Hausierer zu sehen.»
Also stieg ich zu ihm auf den Bock und stellte meinen Packen zu meinen Füßen ab. Mein Reisegefährte schnalzte mit der Zunge, und der Gaul setzte sich in Bewegung.
« Kommt Ihr aus dieser Gegend?» fragte ich.
«Ich bin in Southampton geboren und aufgewachsen.»
«Und kennt Ihr Euch in der Umgebung aus? In den Wäldern rund um Chilworth Manor?»
Der Fuhrmann schüttelte den Kopf. «Ich habe mich immer an die Hauptstraßen gehalten. Aber Sir Cedric Wardroper, den kenne ich. Ich habe schon oft seine Wolle zu den Spinnern und Webern gefahren. Warum wollt Ihr das wissen?»
«Nun ja, ich habe mich gefragt, ob Ihr schon einmal etwas von einer verlassenen Kapelle hier im Wald gehört habt. Ich bin vorhin zufällig daraufgestoßen.»
Der Mann kratzte sich am Kopf. «Nein, ich könnte nicht behaupten, davon gehört zu haben. Aber wie ich schon sagte, ich bin in der Stadt aufgewachsen. Vielleicht könnt Ihr auf der Catchside Farm danach fragen. Kann sein, daß einer der Arbeiter von Eurer Kapelle gehört hat. Oder Master Catchside und seine Frau. Wenn es Euch wichtig ist, könnt Ihr es ja zur Sprache bringen.»
Wir verließen die Hauptstraße und holperten mehr als anderthalb Meilen über einen steinigen Weg, ehe wir endlich die Farm erreichten. Ihre Größe schien auszureichen, um eine Familie und mehrere Arbeiter zu ernähren, jedenfalls sah ich einen Pflug und vier Ochsen, Hühner, Kühe und eine Herde Schafe, die man vor kurzem geschoren hatte und deren Vliese der Fuhrmann nun einsammeln sollte. Die Arbeit spielte sich deshalb an jenem Tag vor allem in der Scheune ab, wo die Wolle verpackt wurde. Die Frauen glätteten und zupften mit ihren kleineren Fingern geschickt die Vliese zurecht, rollten sie ordentlich zusammen und verschnürten sie mit feinen Bindfäden. In der Mitte der Scheune war fast auf Bodenhöhe mit mehreren, an den Balken befestigten Seilen ein riesiger Sack gespannt. Zwei Männer standen darin und stampften die gerollten Vliese zusammen, die ihnen von den Frauen zugereicht wurden. Immer höher stapelte sich die Wolle, bis der Sack endlich gefüllt war, von den Männern zur Seite gehievt und zugenäht wurde. Schließlich senkten sie den Sack auf den Boden und versahen ihn an allen vier Ecken mit dicken Knoten, um mit den unförmigen Ungetümen besser hantieren zu können.
Ich beobachtete sie gebannt und vergaß vorübergehend sogar meinen Hunger, bis der Fuhrmann auf die älteste unter den Frauen zuging. Ihre Neigung, die Arbeiten eher anzuleiten als selbst daran teilzunehmen, hatte mich schon vermuten lassen, daß es sich bei ihr um die Hausherrin handelte. Ich hatte mich nicht geirrt.
«Gute Mistress Catchside, hier ist ein Hausierer, den ich auf der Landstraße aufgelesen habe und der Euch um ein Mittagessen bitten möchte.» Der Fuhrmann kicherte. «Er hat die Mittagsstunde verpaßt, weil er sich im Wald verlaufen hat.»
Sofort wandte sich die Farmersfrau mir mütterlich zu.
«Dann kommt Ihr wohl am besten mit in die Küche, Junge», sagte sie. «Und bringt Euer Bündel mit. Es gibt einiges, was ich dringend brauche, und falls ich es bei Euch kaufen kann, könnte mir das in dieser geschäftigen Zeit eine Reise nach Winchester ersparen. Kommt schon! Vergeuden wir keine Zeit!» Sie eilte vor mir her, blieb jedoch an der Scheunentür stehen, um ihren Mann zu ermahnen. «Andrew! Achte darauf, daß die Männer, ehe sie das Fuhrwerk beladen, genug Wolle für unsere eigenen Zwecke beiseite tun! – Ich kenne ihn nämlich», fügte sie grimmig hinzu, als ich ihr zum Farmhaus folgte. «Nur um ein paar Schilling mehr zu verdienen, verkauft er viel zuviel von der Wolle, und was haben wir dann davon? Im Winter zuwenig anzuziehen, so daß wir uns teure Kleider kaufen müssen. Falsche Sparsamkeit, Chapman! Falsche Sparsamkeit.»
Ich bekam Brot, Käse und Ale und dazu einen Teller Fischsuppe, der mich daran erinnerte, daß heute Freitag war. Mit schlechtem Gewissen dachte ich an die Scheibe Speck, die ich in Chilworth Manor zum Frühstück gegessen hatte. Bei dem Gedanken muß ich wohl das Gesicht verzogen haben, denn Mistress Catchside fragte mit scharfer Stimme: «Was ist denn los? Die Suppe kann doch nicht schlecht sein. Ich habe sie selbst gemacht, und den Fisch haben wir erst heute morgen im Bach gefangen.»
Rasch versicherte ich ihr, daß die Suppe ausgezeichnet schmecke, und erklärte gleich darauf, warum ich das Gesicht verzogen hatte. Mistress Catchside schnaubte verächtlich.
«Ich habe schon immer den Verdacht gehabt, daß die Wardropers es mit der Befolgung religiöser Regeln nicht allzu genau nehmen. Eine flatterhafte Frau, diese Lady Wardroper, viel zu jung für Sir Cedric. Und der junge Matthew ist auch nie ein besonders wohlerzogenes Kind gewesen. Wir hatten gehofft, die Jahre in Leicestershire – oder wo auch immer er die ganze Zeit über gewesen ist – könnten ihn etwas zähmen. Doch nach seiner Rückkehr habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er während der Heiligen Messe hinter dem Mittelschiff herumgelaufen ist und geredet hat. Aber ich habe keine Zeit zum Klatschen. Laßt mich sehen, was Ihr in Eurem Bündel habt, und dann könnt Ihr und der Fuhrmann Euch wieder auf den Weg machen. Unsere Wolle muß noch vor heute abend bei den Weberhütten sein.»
Wieder legte ich meine Waren aus, und während die Farmersfrau sie begutachtete, fragte ich sie nach der Kapelle im Wald. Ihre Antwort war eindeutig.
«Ich habe nie jemanden davon sprechen hören», sagte sie, «und ich habe mein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht. Die Farm hat früher meinem Vater und vor ihm dessen Vater gehört. Catchside», fügte sie hinzu, da sie offenbar das Gefühl hatte, daß eine Erklärung fällig sei, «stammt aus der Stadt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Ich war ein einfaches Mädchen und mußte den nehmen, der sich anbot. Andrew hatte Geld und war bereit, es in die Farm zu stecken. Meine Eltern sahen in ihm einen guten Ehemann für mich, also habe ich ihn geheiratet.» Sie hielt inne und errötete. Offenbar war sie zornig über sich selbst, weil sie sich mir anvertraut hatte. «Äh... Ich werde Euch diese Löffel abkaufen, denn meine sind schon so dünn, daß man sich mit den Rändern in die Lippen schneidet. Wieviel wollt Ihr dafür haben?»
«Und Ihr seid sicher», drängte ich sie, als wir handelseinig geworden waren und ich noch ein wenig vom Preis nachgelassen hatte, um sie für die Mahlzeit zu entschädigen, «daß Euch die kleine Kapelle im Wald gänzlich unbekannt ist? Ihr habt tatsächlich noch nie jemanden darüber sprechen hören?»
«‹Nie› ist vielleicht ein allzu starkes Wort. Es kann schon sein, daß im Laufe meines Lebens mal jemand diese Kapelle erwähnt hat. Schließlich habe ich schon vierzig Lenze auf dem Buckel.» Sie runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, daß ihre vorschnelle Zunge sie erneut zu unnötiger Vertraulichkeit verleitet hatte. «Aber ich kann mich an nichts erinnern. Junger Mann», fügte sie in einem etwas schrofferen Ton hinzu, «ich weiß nicht, was Ihr an Euch habt, aber irgendwie ist es so entwaffnend, daß ich Euch stets mehr sage, als ich eigentlich beabsichtigt hatte, und ich nehme an, daß es anderen Frauen ähnlich geht. Ihr müßt lernen, uns arme, schwache Frauen nicht auszunutzen.»
Ich lachte. «Selbst wenn Ihr recht hättet – so ungalant könnte ich niemals sein. Aber Ihr überschätzt sowohl meine Macht als auch Eure Schwäche.»
Mistress Catchside schaute etwas verlegen drein, erwiderte aber nichts. Offenbar war sie darauf bedacht, unser Gespräch nicht weiter auszudehnen. Wir kehrten zu der Scheune zurück, wo die Männer gerade die letzten drei Säcke aufgeladen hatten. Ich kletterte auf den Bock, nahm neben dem Fuhrmann Platz, dankte meiner Gastgeberin noch einmal verbindlichst für die sättigende Mahlzeit, und dann setzte sich das schwer beladene Fuhrwerk auch schon in Bewegung.
«Habt Ihr herausgefunden, was Ihr wissen wolltet?» fragte mein Reisegefährte, als wir bereits eine Weile gefahren waren.
Ich schüttelte den Kopf. «Mistress Catchside konnte sich nicht daran erinnern, je von der kleinen Kapelle gehört zu haben, räumte aber ein, daß ihr Gedächtnis sie möglicherweise im Stich gelassen hätte. Auf jeden Fall ist in letzter Zeit jemand dort gewesen und hat sich die Mühe gemacht, einen Pfad durchs Unterholz zu schlagen, um einen Blumenstrauß niederzulegen.» Ich seufzte. «Wie auch immer! Vermutlich ist es gar nicht weiter wichtig. Fahrt Ihr jetzt weiter nach Winchester, oder kehrt Ihr nach Southampton zurück?»
«Ich habe noch eine zweite Farm anzusteuern, aber heute abend werde ich in Winchester einkehren, in einer Herberge direkt außerhalb der Stadt, wo man mich kennt. Ich könnte Euch bis an die Stadtgrenze mitnehmen.»
«Habt Ihr keine Angst vor Dieben», fragte ich, «wenn Ihr Euch schlafen legt?»
Der Fuhrmann lachte dröhnend. «Wer könnte schon eines dieser großen, unhandlichen Dinger bewegen?» Mit dem Kopf deutete er nach hinten auf die Wollsäcke. «Und wer einen aufmacht, dem quillt der ganze Inhalt entgegen. Nein, nein! Wolle ist so ungefähr die sicherste Ladung, die es gibt.»
Ich begleitete den Fuhrmann zu der anderen Farm, und als der Karren voll war, half ich ihm, die Ladung mit geteerter Leinwand abzudecken, die wir allerdings nicht zu fest zurren durften, weil Wolle, wie mir mein Freund erklärte, zwar möglichst trocken gehalten werden muß, jedoch nicht zu heiß werden darf. Als wir die Glocken der Stadt zur Vesper läuten hörten, verabschiedeten wir uns voneinander. Ich machte mich auf den Weg zum Hospital of Saint Cross, wo für Reisende stets umsonst Ale ausgeschenkt wurde – für mich ein großer Anreiz, wie Ihr Euch sicherlich vorstellen könnt. Und als ich kurz darauf in der Spätnachmittagssonne saß und mein Ale schlürfte, den Rücken an die warme Mauer eines der Armenhäuser gelehnt, wanderten meine Gedanken zu den Ereignissen der letzten beiden Tage zurück.
Zuerst dachte ich an Jennet, an ihre warme Haut und ihre leidenschaftlichen Küsse, obwohl ich wußte, daß sie für jeden jungen Mann, der ihr gefiel, das gleiche getan hätte. Sie gehörte zu jenen liebevollen, freigebigen Geschöpfen, die sich das Leben von moralischen Ermahnungen nicht schwermachen ließen. Dann dachte ich an den Vormittag und die verlassene kleine Kapelle. Wer hatte wohl einen Grund gehabt, sie in letzter Zeit zu besuchen? Wer hatte den Blumenstrauß gepflückt und dort niedergelegt?
Es war ein Geheimnis, das ich wahrscheinlich nie ergründen würde, und mein Interesse begann bereits zu schwinden. Ich stellte den leeren Becher neben mich auf die Bank und streckte meine Glieder, bis die Knochen knackten. Am nächsten Tag zur gleichen Zeit würde ich bereits auf der Straße nach London sein. Zwar würde ich unterwegs meine Waren feilbieten, doch mit jeder Meile meinem Ziel ein Stück näher kommen. Es würde noch mindestens zwei Wochen dauern, bis ich die Hauptstadt endlich erreicht hatte, und doch konnte ich jetzt schon die Erregung in meinen Adern spüren.