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Viertes Kapitel

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Es war an einem Montagmorgen Ende Juni, als ich den Tyburn überquerte und nach Westminster kam. Ich hielt mit beiden Händen die Tragegurte meines Bündels fest, denn ich wußte, welch zweifelhaften Ruf die Vorstadt als Tummelplatz der Straßenräuber und Taschendiebe genoß. Es hieß, diese ruchlosen Männer und Frauen würden alles an sich reißen, ja, einem selbst noch die Kapuze vom Kopf und den Umhang von den Schultern stehlen und sich mit ihrer Beute durchs Westminster Tor davonmachen. Und obgleich ich ihnen selbst nie zum Opfer gefallen bin, habe ich sie doch so manches Mal bei der Arbeit gesehen, so langfingrig, wendig und flink, daß die Bestohlenen im ersten Augenblick gar nichts bemerkten; wenn sie erst Zeter und Mordio schrien, waren die Diebe längst wie vom Erdboden verschluckt.

Inzwischen habe ich Westminster schon lange nicht mehr gesehen, doch wie mir meine Kinder versichern, wächst es mit jedem Jahr und muß längst doppelt so groß sein wie zu der Zeit, als ich das letzte Mal dort war. Und ich muß sagen, ich verspüre auch keinen Wunsch, es noch einmal zu sehen. Schon vor einem Vierteljahrhundert war Westminster beinahe so laut und überfüllt wie die Hauptstadt selbst. In den Straßen wimmelte es nur so von Menschen, die ihre Waren feilboten, darunter zahlreiche Flamen, deren harter Akzent besonders nachhaltig in den Ohren klang. «Kauft! Kauft! Kauft! Was fehlt euch? Was wollt ihr haben?» dröhnte es allenthalben.

Als ich an jenem Morgen endlich den großen Uhrenturm erreichte, dessen Glocken zu jeder Stunde läuteten, war ich mindestens dreimal angerempelt und unzählige Male angesprochen worden. Man hatte mich dazu überreden wollen, ein Paar Augengläser, einen Hut, eine Hose, Schuhe, Handschuhe, Nadeln, einen Gürtel, ein aus einem Splitter des Heiligen Kreuzes gefertigtes Kruzifix und eine in Bernstein eingeschlossene Fliege zu erstehen. Gerade bei solchen Geleesgenheiten kam mir meine Körpergröße äußerst zustatten, denn um die lästigen Wegelagerer abzuschütteln, reichte es meist völlig aus, einfach «Nein» zu sagen und mich zu meinen vollen einsachtzig aufzurichten. Leute mit kleinerer Statur hatten nicht solches Glück. So sah ich an jenem Morgen zwei Flamen, die einen Mann an die Mauer drückten und sich weigerten, ihn loszulassen, ehe er ihnen nicht ein Silberhalsband abgekauft hatte – und dies alles unter den Augen von einem halben Dutzend in prächtige gestreifte Gewänder und seidene Umhänge gekleideten Sergeanten des Königs, die mit wichtigtuerischen Mienen aus den Gerichtshöfen von Westminster Hall geschritten kamen. Der Vorfall erinnerte mich an einen Mann, den ich vor einiger Zeit aus einer ähnlichen Zwangslage befreit hatte: Timothy Plummer.

Westminster barg jedoch einen unwiderstehlichen Anziehungspunkt für mich: eine verlockende Ansammlung von Imbißständen in der Nähe eines Tores. Die riesigen aufgebockten Tische quollen geradezu über vor schmackhaften Speisen – Brotlaiben, Kuchen, Keksen, Fleischpasteten, dampfenden Rinderrippen und mehreren Delikatessen, die mir noch gänzlich unbekannt waren, darunter Tümmlerzungen. Und gleich daneben hielt ein Weinhändler eine Auswahl köstlicher Weine sowie heißes, mit Pfeffer gewürztes Ale bereit. Da der Vormittag bereits zur Neige ging, blieb ich stehen und kaufte zwei der größten Fleischpasteten, die ich finden konnte, dazu eine Flasche Rheinwein, und ließ mich im Schatten einiger Bäume nieder, um mich satt zu essen und meinen Durst zu stillen.

Es war angenehm warm, doch eine kühle Brise sorgte dafür, daß ich für mein scharlachrot gefuttertes Lederwams durchaus dankbar war. Bauschige Wolken segelten majestätisch über den Frühsommerhimmel, und einmal sah ich eine schillernde Libelle auf dem Rückweg zu ihrem Revier am Fluß vorüberhuschen. Ein fahrender Sänger unterhielt mit hoher, süßlicher Stimme eine Gruppe anderer Gäste, die in der Sonne speisten. Bald hatte ich meine Mahlzeit beendet, verspürte jedoch noch wenig Lust, die letzte Etappe meiner Reise anzutreten. Träge lehnte ich mich gegen den Stamm eines Baumes und schloß die Augen, jedoch nicht, ohne mich vorher zu vergewissern, daß die Tragegurte meines Bündels sicher um mein linkes Handgelenk geschlungen waren und die andere Hand auf meinem Knüppel ruhte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann wurde die Stimme des Sängers allmählich leiser, und ich schlummerte selig ein...

Durch laute Rufe wurde ich wieder geweckt.

«Aus dem Weg! Macht den Weg frei! Aus dem Weg! Aus dem Weg!»

Ich hörte Hufgetrappel und das Klingeln feinen Zaumzeugs. Daher war ich, als ich die Augen aufschlug, auch kaum überrascht, den Troß eines hohen Lords zu sehen, der vom Königspalast auf dem Rückweg nach London war. Erst als ich wieder bei klarem Verstand war und den Nebel des Schlafes vollends abgeschüttelt hatte, erkannte ich die azurblaubraunroten Livreen der Diener und die Zeichen auf den Bannern, die einige von ihnen schwenkten: Auf zweien war der weiße Keiler, auf einem der rote Bulle zu sehen – beides Wappentiere des Herzogs von Gloucester. Und da war er auch schon, der stille, ruhende Mittelpunkt dieses Aufruhrs, der junge Mann, der im gleichen Jahr wie ich das Licht der Welt erblickt hatte und dem ich in der Vergangenheit schon zweimal persönlich zu Diensten gewesen war. Er ritt auf einem mit reichbestickten Decken geschmückten Braunen, das scharfgeschnittene, ausdrucksstarke Gesicht wie so häufig halb von dem langen, dunklen Haar bedeckt, das ihm bis auf die Schultern fiel. Um ihn herum wurde gelacht, gescherzt und geplaudert, doch Richard von Gloucester wandte nur gelegentlich den Kopf und lächelte leicht, sonst trug er nichts zu den Gesprächen bei. Soweit ich es aus der Entfernung sehen konnte, war er in Gedanken versunken, verschlossen und mit seinen Sorgen allein.

Wenige Schritte hinter ihm, doch immerhin so dicht, daß der Kopf seines Rosses mit dem Schwanz des Braunen auf einer Höhe war, ritt ein Mann, ungefähr im gleichen Alter wie der Herzog, rotblond und kräftig gebaut. Suchend ließ er den Blick über die Menge schweifen. Seine Haut, von der ich annahm, daß sie unter anderen Umständen eher rosig war, wirkte sehr blaß, und seine Lippen hielt er so fest zusammengepreßt, als litte er Schmerzen. Tatsächlich! Er lenkte seine feurige graue Stute bloß mit einer, nämlich der linken Hand, während sein rechter Arm in einer Schlinge aus blauer Seide ruhte. Die Knochen seines Unterarms hatten offenbar einen Bruch erlitten, der noch nicht ausgeheilt war. Nach seinem gequälten Gesichtsausdruck zu urteilen, lag der Unfall erst kurze Zeit zurück.

Unterdessen war die Spitze des Trosses zum Tor und damit außer Sichtweite gelangt. Er wurde von lautem Hurra-Geschrei begleitet, denn der Herzog von Gloucester zählte zu den Lieblingen des Volkes. Man hatte ihm nicht vergessen, daß er in allen Wechselfällen der Regentschaft König Eduards treu zu seinem ältesten Bruder gestanden hatte - anders als der andere Bruder, Georg von Clarence, der dafür bekannt war, sein Fähnlein stets nach dem Wind zu hängen.

Als Prinz Richard außer Sichtweite war, zerstreute sich die Menschenmenge, da sie an seinem Gefolge kein weiteres Interesse hatte. Meine unersättliche Neugier, die sich auf alle Menschen ungeachtet ihres Standes richtete, ließ mich jedoch weiter auf meinem Beobachtungsposten unter den Bäumen ausharren. Belohnt wurde ich durch den Anblick einer untersetzten, vertrauten Gestalt, die ich zum letzten Mal vor zwei Jahren in Exeter gesehen hatte und an die ich gerade erst an diesem Vormittag wieder hatte denken müssen. Sie ritt ganz am Ende des Zuges auf einem dunkelbraunen, gedrungenen Pferd.

Timothy Plummers Statur schien irgendwie gewachsen zu sein. Das hatte weniger mit seiner Körpergröße als mit seiner Haltung zu tun, mit dem Selbstvertrauen, das er ausstrahlte und das vermuten ließ, daß er inzwischen im Haushalt des Herzogs von Gloucester eine bedeutend wichtigere Stellung einnahm als früher. Auch er sah sich, wie der junge Mann, den ich bereits beobachtet hatte, ständig um und spähte nach links und rechts in die Menge. Ob er jemanden suchte oder von jemandem gesehen werden wollte, vermochte ich jedoch nicht zu sagen.

Plötzlich fiel mir ein, daß ich wenig Lust verspürte, meine Bekanntschaft mit Timothy zu erneuern. Bei unserer letzten Begegnung war ich – gegen meinen Willen – in ein Abenteuer verwickelt worden, das mich in allergrößte Lebensgefahr gebracht hatte. Ich wollte gerade den Kopf einziehen, als sich unsere Blicke trafen. Ich schaute zur Seite, doch es war zu spät. In seinen Augen hatte ich ein Zeichen des Wiedererkennens aufflackern sehen.

Ich beschloß, mein gestörtes Mittagsschläfchen fortzusetzen und dem Herzog und seinem Gefolge einen gehörigen Vorsprung zu geben. Doch obgleich ich die Augen schloß, wollte sich der Schlaf nicht wieder einstellen, und so kehrte ich schließlich auf den Markt zurück, um durch verschiedene Einkäufe meine Waren aufzufüllen. Inzwischen war es Mittag, und ich wußte, wenn ich für die nächste Nacht eine anständige Unterkunft finden wollte, mußte ich mich ohne weiteren Aufschub auf die Suche begeben.

Ich wohnte in der Sankt Margaret geweihten Kirche der Messe bei und verließ Westminster am frühen Nachmittag. Inzwischen war es sogar noch wärmer geworden, so daß ich für den Schatten der Häuser und Bäume am Straßenrand äußerst dankbar war. Der Verkehr zwischen London und dem Königlichen Palast ist schon immer sehr lebhaft gewesen, doch jetzt, wo die Invasion Frankreichs unmittelbar bevorstand, war er noch geschäftiger als sonst. Livrierte Boten der verschiedenen Adelshäuser galoppierten in beide Richtungen, wobei die Hufe ihrer Pferde eifrig Dreck verspritzten, was sie in ihrer hochnäsigen Verachtung für uns gewöhnliche Sterbliche jedoch völlig ungerührt ließ. Zwei Fuhrwerke, bis obenhin mit Waffen beladen, zogen vorbei, und vor der Schmiede wartete eine lange Reihe von Pferden darauf, neu beschlagen zu werden.

Als ich zum Chére Reine Cross kam, wo sich Fluß und Straße ostwärts wenden, blieb ich, wie schon mehrmals in der Vergangenheit, stehen, um das hochaufragende Denkmal zu betrachten – ein Denkmal der unsterblichen Liebe, das Eduard I. zum Gedenken an seine erste Frau, Eleanor von Kastilien, errichten ließ. Als sie starb, schrieb er: «Selbst meine Harfe kann nur noch Trauer spielen. Im Leben habe ich sie von Herzen geliebt, und auch im Tod kann ich nicht aufhören, sie zu lieben.» Bei dem Gedanken an diese Worte, die mir wie ein Sinnbild tiefster menschlicher Zuneigung erschienen, verspürte ich einen Anflug von Neid. Mit meinen zweiundzwanzig Jahren hatte ich bisher noch nie so tief für einen anderen Menschen empfunden. (Natürlich kam mir damals nicht in den Sinn, daß ich blutjung war und das Leben noch vor mir lag. Jugend und Überheblichkeit sind unzertrennliche Weggefährten. Wie sollten wir auch sonst jene schwierigen Jahre überstehen?)

Ein halbes Dutzend Krähen ließen mich nach oben schauen, und ich sah ihnen nach, bis sie krächzend über das offene Weideland davongeflogen waren. So kam es, daß ich erst, als ich meinen Blick wieder senkte, Timothy Plummer am Fuße des Chére Reine Cross stehen sah, mit einem zweiten Mann in ein ernstes Gespräch vertieft. Ein Gassenkind hielt die Zügel seines dunkelbraunen, gedrungenen Pferdes und führte das Tier geduldig auf und ab. Der andere Mann war offenbar Mönch, ein Dominikaner, wie mir seine schäbige schwarze Kutte verriet. Die beiden schauten auf den Boden, der Mönch schien mit seinem Stab etwas auf den Boden zu zeichnen, und Timothy Plummer nickte dazu.

Während ich ihnen noch weiter zusah, kam ein dritter Mann auf einer grauen Stute angeritten und stieg sehr umständlich ab, was wohl auf der Tatsache beruhte, daß er dabei nur einen Arm einsetzte. Der andere Arm ruhte in einer blauen Seidenschlinge, und sofort erkannte ich den kräftig gebauten, rotblonden Mann wieder, der noch vor einer halben Stunde dicht hinter dem Herzog von Gloucester geritten war. Er rief ein anderes Gassenkind herbei, damit es sein Pferd halten konnte, dann gesellte er sich zu Timothy Plummer und dem Mönch und neigte aufmerksam den Kopf, um ihrem Gespräch zu folgen. Doch schon wenige Augenblicke später zuckte der Mönch mit den Schultern, hob abwehrend beide Arme und ging weiter in Richtung Westminster. Offenbar hatte er alles gesagt, was er mitzuteilen hatte, und obgleich der junge Mann ihm nachlief, ihn am Ärmel packte und mit Fragen zu bestürmen schien, schüttelte er bloß den Kopf und entfernte sich entschlossenen Schrittes. Timothy Plummer und der rotblonde junge Mann blieben noch eine Weile und sprachen miteinander, ehe sie beide wieder auf ihre Pferde stiegen und die Straße hinuntertrabten, die man «Strand» nannte.

Kurz darauf schritt ich auf dieser Straße an den großen Häusern der Adligen und reichen Kaufleute entlang, deren Gärten und Obsthaine bis hinunter zu den Kais am Flußufer reichten, bis ich zu ihrer Verlängerung namens Fleet Street kam. Doch noch ehe ich die Brücke über den Fleet erreichte, drang von der anderen Seite der Mauer der Lärm der Hauptstadt an meine Ohren, um mich zu begrüßen, und ihr strenger, beißender Geruch stieg mir in die Nase. Jenseits der Brücke war die Straße zu beiden Seiten von Wirtshäusern und Gaststätten gesäumt, von denen einige schon sehr alt, andere erst kürzlich erbaut und wieder andere noch im Bau begriffen waren. Sie alle lebten von der Bewirtung der vielen Pilger, welche die Kathedrale von St. Paul besuchen wollten. Denn diese großartige Kirche beherbergte zu jener Zeit eine wundersame Sammlung wertvoller Reliquien, darunter ein Arm des heiligen Mellitus, ein Fläschchen von der Milch der heiligen Jungfrau, eine Haarlocke der heiligen Maria Magdalena, einen juwelenbesetzten Reliquienschrein mit dem Blut ihres Namenspatrons, eine Hand des Evangelisten Johannes, ein Messer, das einmal Jesus selbst gehört hatte und das er stets benutzt hatte, wenn er Joseph beim Zimmern half, den Kopf des heiligen Ethelbert sowie Teile des Schädels des heiligen Thomas Becket.

Als ich mich dem Lud Gate näherte, steigerte sich der Lärm ins Unermeßliche: Fuhrwerke quietschten und holperten über das Kopfsteinpflaster, ständig läuteten irgendwelche Glocken, um die Bürger zum Gebet oder zu einer städtischen Versammlung zu rufen, und zahllose Verkäufer priesen lautstark ihre Waren an. Ich überquerte die Zugbrücke und schritt unter den hochgezogenen Fallgittern an zwei Wachen vorbei, die dort postiert waren, um alle Aussätzigen zurückzuweisen, die so tollkühn waren, Zutritt zur Hauptstadt zu verlangen. Jenseits des Tores erstreckte sich ein Labyrinth kleiner Straßen und Gäßchen, in denen sich der Unkundige leicht verlaufen konnte. Doch ich war nicht zum ersten Mal in London. Ohne zu zögern, bog ich links in die Old Deane’s Lane ein, die mich zur Paternoster Row und weiter zur Cheapside, dem größten Umschlagplatz der Hauptstadt, führte.

Am späten Nachmittag hatte ich beinahe alles verkauft, was ich in meinem Packen hergetragen hatte, und dachte wieder daran, mir eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dies gleich nach meiner Ankunft in der Stadt zu tun, aber die Versuchung, noch ein wenig Geld zu verdienen, solange sich die Gelegenheit dazu bot, hatte sich als zu stark erwiesen. Wegen der bevorstehenden Invasion wimmelte es in London nur so von hohen Lords und ihrer Dienerschaft, die aus sämtlichen Teilen des Landes in die Hauptstadt geströmt waren. Vor allen ehrbaren Gasthäusern hingen Wappenschilder, um anzuzeigen, welch vornehme Gäste dort Quartier bezogen hatten, und die Frau des Wirts vom Saracen’s Head in der Nähe des Aid Gate, die mir Nadeln und ein paar Spulen Garn abgekauft hatte, sagte mir, es sei ganz gewiß nirgendwo in der Stadt noch ein freies Zimmer aufzutreiben.

«Ich liege meinem Mann damit ständig in den Ohren: Wir müssen das Beste daraus machen», fügte sie hinzu. «In ein paar Tagen sind sie womöglich alle wieder verschwunden. Den Gerüchten nach wollen der König und seine Brüder nächste Woche nach Frankreich übersetzen.»

«Dann muß ich mich wohl beeilen und mich ebenfalls um ein Nachtlager kümmern», stellte ich besorgt fest. «Die Herbergen der Kirchen und Klöster, die innerhalb der Stadtmauern liegen, sind vermutlich längst überfüllt.»

«Oh, ganz gewiß», stimmte die Frau mir fröhlich zu. «Es geht ja nicht bloß um die Diener der hohen Lords, die eine Schlafstätte brauchen. Es strömen ja auch Tag für Tag immer mehr Leute in die Stadt, die an der ganzen Sache ebenfalls ein paar Pennys verdienen wollen. Selbst unsere Küchen und die Kellerräume sind zur Zeit jeden Abend voll besetzt.» Sie seufzte. «Aber wie ich schon sagte, es kann kaum noch länger als eine Woche dauern.»

«Was würdet Ihr mir empfehlen? Wohin soll ich mich wenden?» fragte ich sie verzagt.

Sie legte die Stirn in Falten und schien kräftig nachzudenken. Nach einer Weile legte sie eine Hand auf meinen Arm. «Folgt mir», wies sie mich an. «Vielleicht läßt sich in unserer Küche noch ein Plätzchen für Euch finden. Einer unserer Gäste ist heute morgen abgereist. Sein Herr wurde mit einer Botschaft für den Herzog von Burgund nach Gravesend geschickt. Am besten kommt Ihr gleich mit und nehmt seinen Schlafplatz in Beschlag, ehe mein Mann ihn an einen anderen Reisenden vergeben kann.»

Ich packte rasch meine restlichen Waren zusammen, die ich auf einer Mauer ausgebreitet hatte, schob sie zusammen mit meiner sauberen Hose, dem Hemd und dem Rasierzeug in mein Bündel und bat meine Wohltäterin, ohne weiteren Aufschub voranzugehen. Sie führte mich durch den Kornmarkt von Cornhill, vorbei an langen Reihen Brotkarren, die von ihren Besitzern täglich von Stratford-atte-Bowe bis in die Stadt gefahren wurden. Ihre Brotlaibe hatten, wie meine Führerin mir erklärte, den gleichen Preis, waren aber zwei Unzen schwerer als die der Londoner Bäcker. Dann ging es zum Tun von Cornhill, dessen süßriechendes Wasser vom Tyburn gespeist wurde. Darüber befand sich der Eisenkäfig, in den die Wachen des Nachts Huren und Unruhestifter wegen Trunkenheit und ungehörigen Benehmens einsperrten; und auf einem hölzernen Sockel ganz in der Nähe befanden sich die Pranger, in denen auch jetzt ein paar armselige Schurken steckten, Zielscheibe des Spottes aller, die hier vorbeikamen.

Von Cornhill aus ging es weiter in die Aid Gate Street, wo St. Andrew Undershaft und der große Maibaum standen, bis zur Priorei der Heiligen Dreifaltigkeit, dem größten und stattlichsten Kloster der Stadt. Etwas südlich davon, gerade noch diesseits des Tores, lag das Wirtshaus Saracen’s Head. Es wimmelte dort nur so von Gästen, genau wie die Wirtsfrau es mir erzählt hatte, und als wir den Innenhof überquerten, konnte ich sehen, daß auch die Ställe voll und alle Boxen besetzt waren.

«Wartet hier», sagte die Frau, nachdem sie mich zum Schankraum geführt hatte. «Ich muß meinen Mann suchen und fragen, ob er, während ich unterwegs war, den Platz vielleicht schon an einen anderen vergeben hat.»

Ich gehorchte, blieb an der Tür stehen und betrachtete die Gäste an den Tischen. Die meisten von ihnen trugen Livreen, ganz im Gegensatz zur Stammkundschaft des Gasthauses, die in ihrer grauen Alltagskleidung zusammengedrängt auf zwei Bänken saß und die Eindringlinge mißmutig beäugte.

Es dauerte nicht lange, bis die Wirtsfrau wiederkam und mich aufforderte, sie in die Küche zu begleiten. «Am besten bringt Ihr auch gleich Euer Bündel mit. Ihr braucht ein paar Sachen, um Euren Platz zu sichern. Ich fürchte, für einen großen Burschen wie Euch wird es ein bißchen eng sein, aber Ihr müßt eben das Beste daraus machen. Außerdem besteht mein Mann darauf, daß Ihr im voraus für so viele Nächte bezahlt, wie Ihr bleiben wollt.»

In der Küche war es unerträglich heiß, und ich hatte alle Mühe, den Küchenjungen und Tellerwäschern, Küchenmägden und Köchinnen auszuweichen, die schwitzend an den Tischen und Herden standen, schnitten und träufelten, rührten und kochten, um das Abendessen für die ungewohnt hohe Anzahl von Gästen vorzubereiten. Sie schienen mich jedoch gar nicht weiter zu beachten und fluchten nur, wenn ich ihnen im Wege stand. An allen vier Wänden zeigten zwischen Fässern mit Lebensmitteln und Wasser verteilte Kleidungsstücke und andere persönliche Dinge an, wo nachts die zahlenden Gäste schliefen.

Die Wirtsfrau zeigte auf eine schmale Lücke zwischen einem Faß, das verdächtig nach Salzhering roch, und einem Tisch, auf dem eine der Köchinnen gerade einen Teig ausrollte. «Da könnt Ihr Euch hinlegen», sagte sie. «Und vor dem Schlafengehen könnt Ihr Euch frisches Stroh aus den Ställen holen. Legt etwas auf Euren Platz, und dann fort mit Euch, damit Ihr meinen Leuten nicht länger im Wege steht. Bis kurz vor dem Abendläuten will ich Euch hier nicht wiedersehen.»

Nur äußerst ungern hätte ich etwas Wertvolles wie mein Bündel oder mein Wams zurückgelassen, also nahm ich meinen Umhang und breitete ihn über die Steinplatten aus. Dann gab ich der Wirtsfrau die Miete für zwei Nächte im voraus, denn ich war fest entschlossen, vor Ablauf von achtundvierzig Stunden etwas Besseres gefunden zu haben, und begab mich zurück in den Schankraum.

An der gegenüberliegenden Wand der Küche schnarchte jemand so laut, daß der Steinfußboden zu beben schien. Außerdem mischte sich ein durchdringender Geruch nach schlechtem Atem und Schweißfüßen in den Gestank nach Salzlake und Heringen. Das Stroh, auf dem ich lag, war, wie ich bald feststellen mußte, von einer vielköpfigen Flohfamilie zur Heimstatt erkoren worden, und so sehr ich mich auch drehte und kratzte, ich schaffte es nicht, die kleinen Biester davon abzuhalten, mich als schmackhaftes Nachtmahl zu mißbrauchen. Nach zwei Stunden hatte ich noch kein Auge zugetan und mich unzählige Male auf meinem Strohlager hin und her gewälzt – sehr zum Ärger meines Nachbarn, eines fahrenden Pastetenverkäufers, den die Hoffnung auf das Geschäft seines Lebens von Norfolk in die Hauptstadt gelockt hatte.

«Aber es gibt zu viele Leute mit der gleichen Idee», hatte er gegrummelt, als wir uns zur Nacht niedergelegt hatten. «Wäre ich zu Hause geblieben, hätte ich in der gleichen Zeit doppelt soviel verdient. Gute Nacht, Master Chapman. Und träumt was Schönes.»

Jetzt, wo es schon auf Mitternacht ging und er mehr als einmal durch meine Ruhelosigkeit in seinem Schlaf gestört worden war, klang seine Stimme nicht mehr so versöhnlich. «Um Gottes willen, könnt Ihr nicht aufhören, Euch herumzuwälzen?» zischte er wütend. «Wenn Ihr nicht schlafen könnt, steht auf und geht draußen ein wenig spazieren.»

«Aber wenn ich im Hof hin und her gehe, störe ich die anderen», flüsterte ich zurück.

«Ich meine draußen auf der Straße. Im Schatten der Klostermauer ist es angenehm kühl. Ich weiß es, weil ich gestern nacht genauso rastlos war wie Ihr jetzt. Es dauert eine Weile, bis man sich an das Geschnarche und den Gestank gewöhnt hat.»

«Aber die Hoftür ist doch ganz bestimmt verschlossen», wandte ich ein.

Er hob einen in der Dunkelheit fast geisterhaft wirkenden Arm und deutete auf die Wand. «Dort oben hängt der Schlüssel. An einem Nagel neben dem Backofen.» Er vergrub sich wieder in seinem Stroh. « Und kommt nicht wieder zurück, bis Ihr auch wirklich müde seid.»

Ich stand leise auf, zog, um meine Nachbarn möglichst wenig zu stören, so vorsichtig ich konnte Hose, Stiefel, Hemd und Wams an, nahm den Schlüssel vom Nagel und schlich durch die Küchentür in den menschenleeren Hof. Ein Pferd stampfte und schnaubte irgendwo in den Ställen, und in einem der oberen Zimmer brannte ein gedämpftes Licht, doch sonst war alles dunkel und still. Dünne Wolken zogen über die dichtgedrängten Dächer, und es lag ein wenig Regen in der Luft. Die Feuchtigkeit legte sich auf meine Haut.

Das Tor nach draußen befand sich in der Nordmauer. Die Zapfen des Schlosses glitten leise zurück, als ich den Schlüssel drehte. Ich trat hinaus auf die Straße und blickte auf die Südseite des gegenüberliegenden Klosters. Rund um das Torhaus zu meiner Rechten war kein menschliches Wesen zu sehen. Bestimmt vertrieben sich die Wächter ihre langweilige Nachtwache mit einem unterhaltsamen Würfelspiel. Ich verschloß das Tor von außen und ging über die Straße auf ein mit Gras und Büschen bewachsenes Fleckchen zu, das auf zwei Seiten von den Nebengebäuden des Klosters und an der dritten von der nördlich des Aid Gate verlaufenden Stadtmauer begrenzt wurde. Dort ließ ich mich nieder und gab mir Mühe, das Saracen’s Head im Auge zu behalten, denn durch einen zwar eher unwahrscheinlichen, aber immerhin möglichen Zufall hätte es durchaus sein können, daß jemand mitten in der Nacht Zutritt zum Hof des Wirtshauses verlangte.

Nach dem stickigen Mief in der völlig überbelegten Küche wirkte die Nachduft klar und süß. Vom Klostergarten wehte der berauschende Duft von Geißblattblüten zu mir herüber und kitzelte meine Nasenlöcher. Ich zog mich in den tiefen Schatten eines Rotdornbusches zurück, schlang beide Arme um die Knie und genoß die himmlische Ruhe, die mich umgab. Einmal rief eine Eule ganz in meiner Nähe, so daß ich erschrocken zusammenfuhr, doch dann war wieder alles ganz still.

Als die Eule zum zweiten Mal rief, klang es noch lauter und eindringlicher. Irgend etwas an diesem Ruf ließ mich vor Schreck erstarren, alle meine Muskeln waren erwartungsvoll angespannt. Ich wurde nicht enttäuscht. Nur wenige Sekunden später schlich verstohlen ein Mann, von Leadenhall und dem Herzen der Stadt kommend, auf das Aid Gate zu. Auf der Höhe des Klosters blieb er stehen und sah sich nach allen Seiten um. Offenbar wartete er auf jemanden, den er hier treffen sollte. Auch wenn ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, wirkte seine kräftige Gestalt auf mich seltsam vertraut. Dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis mir dämmerte, wer es war. Sein rechter Arm lag eng an und war nur vom Ellenbogen an aufwärts zu sehen. So sah der Umriß eines Mannes aus, der einen Arm in einer Schlinge trug.

Das alte Lied

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