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Januar

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Fresst meinen Sternenstaub


Ein ohrenbetäubender Schrei zerreißt die Stille meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Eine schrille weibliche Stimme, so laut, dass selbst das Dröhnen der Flugzeuge vom nahegelegenen Frankfurter Flughafen übertönt wird. Amüsiert beäuge ich die Quelle des Krachs: den Taschenanhänger in meiner Hand, der kaum größer als ein Autoschlüssel ist. Wie kann ein so unscheinbares Teil bloß solch ein grauenhaftes Geräusch von sich geben? Bevor ich meine Nachbarn auf den Plan rufe, stecke ich den winzigen Metallstift in die dafür vorgesehene Öffnung und das Gerät verstummt.

Diesen Taschenalarm hat mir mein Onkel geschenkt. Ich soll ihn zur Sicherheit in den nächsten Monaten mit mir rumschleppen. An einer Seite ist ein Schlüsselring zur griffbereiten Befestigung an der Handtasche oder am Rucksack. Auf der anderen Seite steckt der Metallstift, verlängert mit einem silbernen Kettchen. Es ist so gedacht, dass man im Falle eines Überfalls oder einer anderen Gefahrensituation die kleine Kette mit einem Ruck aus dem Anhänger reißt. Der dadurch aktivierte Schrei soll den Angreifer im besten Fall vertreiben oder zumindest andere Menschen auf sich aufmerksam machen. Höchst praktisch also. Zur Krönung ist der Anhänger mit einem dekorativen Muster geschmückt. Trotzdem verschwindet das Teil weit unten in meinem 65-Liter-Rucksack.

Meine Vernunft habe ich vergleichbar tief unten vergraben. Besser gesagt, ist sie mir abhandengekommen – mit dem Entschluss, ein Jahr Auszeit zu nehmen. Und einen Ausflug mit einem Land-Rover zu machen. Durch Zentralasien. Für neun Monate. Mit einem wildfremden Menschen.

Ich mache eine Bestandsaufnahme. Es ist das letzte Januarwochenende. Vor wenigen Tagen ertönte für mich vorerst das letzte Mal das Piepsen der Stechuhr in meinem Büro. Meine Wohnung habe ich zu Ende März gekündigt und bis dahin untervermietet. Mein kleiner Peugeot ist verkauft. Auch einige meiner Möbel haben bereits einen neuen Eigentümer. Für den Rest sowie meine persönlichen Besitztümer habe ich die Einlagerung organisiert. Ich breche meine Zelte stückchenweise ab. Auch mit meiner Gefühlswelt räume ich nach und nach auf – so habe ich kürzlich ein letztes Mal den Mann getroffen, der mir im vergangenen Sommer das Herz gebrochen hat. Ich bin bereit für neue Abenteuer und mache mich frei von Altlasten. Es kann losgehen. Gestern Abend habe ich meine Vorfreude mit ein paar Freunden begossen. Cocktails, Bier und Weißwein an einem Abend zu trinken, ist eine blöde Idee. Ich bin 29 Jahre alt und habe das noch immer nicht begriffen. Jetzt liege ich verkatert und zerknautscht auf dem Sofa und versuche dringend, wieder unter die Lebenden zu gelangen. Mein Untermieter für die nächsten acht Wochen zieht heute Abend ein – wie auch mein Reisepartner ist er ein Wildfremder und ich will ihm nicht vollkommen zerstört gegenübertreten.


An dieser Stelle sollte ich ein paar Monate zurückspulen. Im Frühjahr bin ich auf einer Dienstreise mit dem Zug unterwegs. Die Wartezeit am Bahnhof vertreibe ich mir in einem Zeitschriftenladen. Mir fällt ein Reisemagazin ins Auge, von dessen Titelseite mich breit ein Chilene anlächelt. Spontan kaufe ich es. Ich war noch nie in Südamerika. Seit Wochen beschäftigt mich die Idee, eine größere Reise zu machen. Eine Weltreise? In ein anderes Land, um eine neue Sprache zu lernen? Kündigen? Eine Auszeit nehmen? Südamerika? Indien? Thailand? Kanada? Ein Sonnensystem voller Ideen schwirrt in meinem Kopf umher. Manche Planeten darin geraten in meine Umlaufbahn und verlassen sie gleich wieder, andere bleiben hängen und kreisen dauerhaft in meinem Kosmos. Ich erhoffe mir von dem Magazin neue Inspirationen.

Die Umstände stimmen – ich bin ungebunden und mein Leben hat sich nach einigen aufreibenden Jahren wieder zufriedenstellend normalisiert. Ich finde zurück zu neuer Energie. Durch den Verkauf meines Elternhauses konnte ich einen brauchbaren Geldbetrag auf die Seite legen. In mir schlummert etwas. Die Sehnsucht nach „weit weg“. Reiselust – für mich kein Fremdwort. Mit 18 Jahren habe ich meine erste Fernreise nach New York City angetreten. Wenige Jahre später habe ich mit Abschluss eines Hotel- und Tourismusmanagement-Studiums mein Hobby zum Beruf gemacht.

An besagtem Bahnhof treffe ich zufällig einen Arbeitskollegen. Wir sitzen uns im Zug gegenüber. Nach einer kurzen Unterhaltung blättere ich in meinem neu erworbenen Reisemagazin und lande bei den Kleinanzeigen: Reisepartner gesucht. Ich bleibe bei einer Annonce hängen. Für zwei lange Sekunden höre ich nur noch mein eigenes Herz in Zeitlupe pochen:

„Biete eine Mitfahrgelegenheit in einem Land-Rover von ca. Anfang März bis Ende November nach Asien und wieder zurück. Die Route wird in etwa folgende Länder enthalten: Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Russland, Mongolei, China, Nordindien, Nepal, Tadschikistan, Iran, Oman, Türkei. Eins der großen Highlights dieser Tour wird das Durchfahren des Karakorum sein. Mitreisende (m/w, 25-40) sollten weltoffen, unkompliziert und humorvoll sein. Paul (Mitte 30, E-Mail: paul@zentralasien.de)”

Bei der Hälfte der Länder bin ich nicht einmal sicher, wo sie genau liegen. Was das Karakorum ist, weiß ich nicht. Und ich habe nur eine vage Vorstellung, wie ein Land-Rover aussieht. Ich bin begeistert!

Nervös blicke ich zu meinem Kollegen, um dann sofort wieder wegzusehen. Ich befürchte, dass meine Pläne in großen Buchstaben auf meiner Stirn stehen. Heimlich mache ich ein Foto von der Anzeige und schicke es per WhatsApp an meine Schwester: „Soll ich dem mal schreiben?“

Meine Abenteuerlust ist geweckt, aber manchmal bin ich auch ein Feigling. Bei dieser Kombination kann es nie schaden, den Segen der großen Schwester zu bekommen. Unsere Eltern sind bereits früh verstorben und meine Schwester ist daher umso mehr eine meiner engsten Bezugspersonen. Ihre Antwort kommt prompt. „Mach doch mal.“


Ich mache. Ich schreibe eine E-Mail an Paul. Es gibt mehrere E-Mails, Telefonate und schließlich das erste Treffen. Die Reise wird in seinem Land-Rover Defender Baujahr 2013 mit Dachzelt stattfinden. Ende März soll die Tour starten. Die exakte Route ist noch in Planung.

Paul ist ein Mensch, den ich nur schwer einschätzen kann. Mein allererstes Bauchgefühl sagt mir, dass der Typ etwas sonderbar ist. Aber sind wir das nicht alle ein wenig? Wer eine solche Reise plant, muss ja irgendwie verrückt sein. Zudem rechne ich ihm hoch an, dass er auf sämtliche meiner Fragen (und davon habe ich eine Menge) gute Antworten parat hat. Und schließlich toleriert er den Umstand, dass ich keinerlei Camping-Erfahrung mitbringe. Er gibt mir nicht sofort eine Zusage, mich als seine Begleiterin mit auf die Tour zu nehmen. Ungeachtet dessen gehe ich schon mal zum Personalchef meiner Firma und erkläre ihm, dass ich gerne ein Jahr Auszeit hätte. Selbst wenn es nicht die Reise mit Paul wird, fällt mir ganz sicher noch etwas anderes ein. Ich kann mir auch vorstellen, allein auf Reisen zu gehen. Der Personalleiter ist sofort auf meiner Seite, aber er gibt mir, wie auch Paul, nicht gleich eine Zusage.

Ich könnte platzen vor Aufregung, doch meine Geduld wird in beiden Fällen nach wenigen Wochen belohnt. Ich habe das Mitfahrer-Casting gewonnen und einen Freistellungsvertrag für ein Jahr unterschrieben. Die folgenden Monate vor der Abreise verbringe ich mit dem Studium von Reiseführern und Visabestimmungen, medizinischer Vorbereitung, Entrümpeln und sogar einem Land-Rover-Fahrtraining. Meine Schwester erinnert mich grinsend daran, dass ich schon als Kind nie gerne Zelten wollte – aber ich habe beschlossen, mich einfach darauf einzulassen. Ich bin gespannt, wie es wird, meine wunderbar bequeme Komfortzone zu verlassen und neue Grenzen auszutesten. Overland-Reisen, also das Reisen über Land mit dem eigenen Fahrzeug, ist für mich komplett neu. Wie es wohl sein wird? Meine Vorstellungen reichen von wildromantisch bis hin zu höchst dramatisch. Könnte es an den Grenzübergängen problematisch werden? Was passiert, wenn wir irgendwo in der Einöde eine Panne haben? Wie werden Einheimische auf uns reagieren? Ich habe mir vorgenommen, den Konjunktiv für die nächsten Monate aus meinem Leben zu streichen. Hätte, würde, könnte … Ein lang zurückliegendes Gespräch mit meinem Papa vergesse ich nie. Er erzählte mir, dass er mal fast im Cockpit eines Linienflugzeugs mitgeflogen sei. Ich wunderte mich – fast? Da so wenig Passagiere im Flugzeug saßen, hat die Crew den freien Platz im Cockpit einem Freiwilligen angeboten. „Und was ist passiert?“ fragte ich. Mein Papa sagte: „Ich wollte mich melden, aber ich hab mich nicht getraut”. Mit 55 Jahren ist er gestorben.


Nun liegt vor mir im Grunde eine Autofahrt. Allerdings soll diese neun Monate dauern. Start ist in Deutschland. Laut unserem Plan geht es auf direktem Weg durch Polen, Litauen, Lettland und Russland bis nach Kasachstan. Hier werden wir das erste Mal das Tempo rausnehmen und uns richtig Zeit lassen. Ein weiterer kurzer Abstecher nach Russland soll uns in die Mongolei führen. China ist die nächste Etappe auf unserem Plan: Wir müssen es auf dem Weg nach Nepal und Indien einmal von Nordost nach Südwest durchqueren. Nepal und Indien reizen mich besonders. Schon so viel habe ich über diese Länder gelesen – jetzt will ich sie endlich selbst sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen. Pakistan hingegen, eine kurze Etappe im Anschluss, ist meine persönliche Angststrecke. Mir sind zu viele Nachrichten über Anschläge und Entführungen untergekommen. Danach wollen wir über ein weiteres Teilstück Chinas nach Kirgistan reisen und entlang der Seidenstraße Usbekistan und Turkmenistan besuchen. Am Ende steht Iran auf der Liste. Viele der Länder hatte ich bisher noch nie als Reiseziel auf dem Zettel und ich beschäftige mich zum ersten Mal intensiver mit ihnen. Von Iran soll es durch die Türkei wieder zurück nach Deutschland gehen. Soweit der Plan. Doch seit wann funktionieren Pläne schon so, wie sie sollen?

Besondere Freude macht mir neben den Reisevorbereitungen das Entrümpeln meines Hausrats. Ich glaube, dass wir Menschen uns viel zu viel sinnlosen Ballast anhäufen. Materielle Dinge loszulassen – verschenken, verkaufen, wegwerfen – ist unglaublich befreiend. Was in den letzten Wochen vor der Reise neu hinzukommt, sind nur noch Reiseführer und Ausrüstung, wie beispielsweise ein anständiger Schlafsack, Thermounterwäsche und eine Stirnlampe.

Ich plane vor dem Start der großen Tour noch einen Trip nur für mich allein. Es fällt mir schwer, mich zu entscheiden, wohin es gehen soll. Ein Sonnenziel, für mindestens drei Wochen nehme ich mir vor – ich will nicht so viele Länder wie möglich in kurzer Zeit abklappern, sondern mir genug Zeit zum Eintauchen nehmen.

Nach längeren Recherchen fällt die Entscheidung. Unsere Land-Rover-Tour startet erst Ende März. Von der Arbeit freigestellt bin ich bereits ab Ende Januar. Ich habe also den ganzen Februar Zeit.


Und nun ist es soweit. Ich stopfe mein Leben in den bereits erwähnten Rucksack und gebe es auf, alle möglichen Eventualitäten der nächsten Monate durchzuspielen. Mein Untermieter ist gerade eingezogen. Wir verbringen den letzten Januartag gemeinsam in meiner, jetzt vorübergehend unserer Wohnung. Ich berichte von meinen Plänen. Er reagiert verhalten – auf große Reise mit einem Wildfremden? Diese Bedenken kommen nicht das erste Mal auf. Ich gebe zu, diesen Aspekt der Reisevorbereitung etwas unterschätzt zu haben: die Meinungen anderer. Besonders den ungefragten ist man plötzlich ausgeliefert. Natürlich schätze ich die Ansichten meiner Freunde. Aber ich tue mich schwer mit der Meinung von Menschen, die gerade mal meinen Namen kennen und abgesehen davon kaum etwas über mich wissen. Besonders beliebt ist der Satzanfang „Also ich würde …“. Ein weiterer Klassiker ist die Frage: „Und wie machst du das finanziell?“ Von älteren Generationen werde ich zum Teil belächelt. Ob man in meinem Alter denn schon so gestresst vom Arbeiten sei, dass man eine Auszeit brauche? Die Antwort lautet: Nein. Ich brauche das nicht. Ich will es einfach machen. Und was heißt eigentlich „in meinem Alter“? Laut moderner Soziologen gehöre ich in die Generation Y. Oder irgendwohin zwischen Generation Golf und Generation Tinder. Wer weiß das schon so genau. Mein Smartphone (übrigens ohne Tinder) liegt neben meinem Videorekorder. Sagt das etwas über mich aus? Kann man Menschen anhand ihres Geburtsjahres denn überhaupt ein Etikett verpassen? Ich denke, es sind in erster Linie unsere individuellen Erfahrungen, die uns prägen. Stress und schwierige Situationen im Leben bewertet jeder anders. Ich behaupte, schon die ein oder andere Krise gemeistert zu haben und mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen. Hin und wieder bin ich aber auch eine Luftschlossarchitektin und träume gerne mal vor mich hin. Eine fabelhafte Ausgangsbasis für einen Tapetenwechsel, wie ich finde. Jedoch muss ich mir ein ziemlich dickes Fell zulegen, denn nicht jeder ist begeistert von meiner Idee. Ich erhalte wahnsinnig viel Unterstützung, aber bekomme auch Contra. Einer meiner Freunde beispielsweise faltet mich ob meiner Reiseidee so zusammen, dass ich die halbe Nacht mit Schweißausbrüchen im Bett liege. Die Hobbypsychologin in mir filtert Sorge, Unsicherheit, Neid – aber nicht jede Reaktion kann ich einordnen. Ich denke, wer auf Reisen geht, muss ein Stück weit resistent gegen seine Umwelt werden. Auch wenn es zum Teil die engsten Freunde sind. Und ist es nicht im Grunde bei jeder Lebensentscheidung so? Man wird es ohnehin nie allen recht machen. Also fresst meinen Sternenstaub. Ich bin dann mal weg. Morgen fliege ich los – für ganze vier Wochen auf die Seychellen.

Reise Know-How ReiseSplitter: Von Kasachstan in die Südsee – Wie ich mal eben vom Weg abkam

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