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März

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Vom Nahen Osten in den nahen Osten


Mit einem unsanften Rumpeln setzt das Flugzeug am 1. März auf Frankfurter Boden auf. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Mein Untermieter hat sich tatsächlich in aller Frühe aus dem Bett gequält, um mich abzuholen – doch meine Rückkehr ist nur eine Stippvisite. Bereits zwei Tage später breche ich für einen Abstecher in den Nahen Osten auf. Von meiner langjährigen Freundin Kat habe ich mich zu einer kurzen Rundreise in die Vereinigten Arabischen Emirate überreden lassen. Wie sich herausstellen sollte, das absolute Kontrastprogramm zu den Seychellen. Vier Wochen Ich-Zeit liegen hinter mir. Keine Termine, kein Zeitdruck, kein Programm. Nun gehe ich für eine Woche durch den Ablaufplan einer geführten Busrundreise. Ich finde es grauenhaft, aber versuche, das Beste daraus zu machen. Zudem freue ich mich, vor der großen Reise noch mal Zeit mit meiner Freundin zu haben. Die Tour führt uns durch vier der sieben Emirate – Dubai, Abu Dhabi, Ras al-Chaima und Sharjah. Immerhin haben wir ein ordentliches Programm vor uns.

Dieses enthält Basare, die Scheich-Zayid-Moschee, einen Wüstenausflug, Stadtrundfahrten, Einkaufszentren und einen kleinen Zoo. Dazwischen dutzende „Five-Minute“-Foto-Stopps.

An der „Dubai Mall“ legen wir sogar einen 40-minütigen Stopp ein. Was erstmal nach viel Zeit klingt, relativiert sich schnell, wenn man die Größe dieses Einkaufszentrums betrachtet: mehr als 1.200 Geschäfte auf über 350.000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Allein für den Fußweg vom Bus zum Eingang und eine erste Orientierung gehen schon zehn Minuten drauf. Ob es an der Hektik liegt? Jedenfalls vergisst meine Freundin Kat ihr brandneues Smartphone in einem der Läden. Erst als wir wieder im Bus sitzen, fällt es ihr auf. Sie springt panisch auf, wechselt ein paar Worte mit unserem Reiseleiter und ruft mir noch etwas Unverständliches zu. Dann steigt sie einfach an der nächsten Ampel auf einer mehrspurigen Kreuzung aus dem Bus. Ich bin erleichtert, als ich sie später im Hotel wieder treffe – unversehrt und mit sämtlichen Habseligkeiten.

Beim Wüstenausflug werden wir in einem Toyota Land Cruiser über die Dünen vor der Stadt geschaukelt. Kat fragt unseren Fahrer, ein Emirati in einer strahlendweißen Kandura, Löcher über sein Leben in den Bauch. Ich höre nur zu. Er erzählt uns voller Begeisterung von seinen Söhnen. Erst sehr viel später erwähnt er am Rande, dass er auch Töchter hat. Seine Begründung: Töchter sind nicht so wichtig. Ich strafe ihn mit dem abschätzigsten Augenbrauen-Hochziehen, zu dem ich spontan in der Lage bin. Ich glaube nicht, dass er es bemerkt hat. Schweigend wende ich mich dem goldenen Leuchten der weitläufigen Dünen in der Abendsonne zu. Da taucht auch schon unser Ziel am Horizont auf – ein Wüstencamp, in dem wir mit Essen und Tanz unterhalten werden, bevor wir zurück in die Stadt fahren.

Erst 1971 haben die Emirate sich in ihrer heutigen Form zusammengeschlossen. Neben den funkelnden Wüstenlandschaften sind die architektonischen Meisterwerke in diesem jungen Land faszinierend. Das Burj Khalifa, derzeit das höchste Gebäude der Welt, ist nur eines davon. Gläserne Wolkenkratzer und futuristische Komplexe geben mir das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film gelandet zu sein. Nachdem der offizielle Teil des Tages nun vorbei ist, besuchen wir ein weiteres der lächerlich großen Einkaufszentren. An der Eingangstür der „Mall of the Emirates“ begrüßt uns ein Verbotsschild: „No kissing or overt displays of affection.“ Kein Küssen oder offensichtliche Zuneigung. Ich bin verblüfft, habe aber kaum Zeit, mich über das außergewöhnliche Schild zu wundern. Das Kommen und Gehen eiliger Besucher zwingt mich, den Weg sofort frei zu machen.

Gedankenverloren lasse ich hunderte Geschäfte aller überflüssigen Marken dieser Welt an mir vorbeiziehen, bis wir plötzlich vor einem riesigen Panoramafenster stehen. Dieses zeigt uns jedoch nicht die Außenwelt, sondern die angrenzende Dubai Skihalle. Dick eingemummelte Gäste sausen über künstlichen Schnee die verschiedenen Pisten und Rodelbahnen hinunter. Draußen im echten Leben sind es derzeit 35 C° im Schatten.

In den letzten zwei Tagen im Nahen Osten verfalle ich in einen sinnlosen Shoppingrausch. Schmuck, Schuhe, Klamotten, die ohnehin bald in einem Umzugskarton landen werden. Bei einem der Streifzüge im „Blue Souk“ von Sharjah probiere ich in einem Schmuckgeschäft so viele verschiedene Ringe an, dass ich den Überblick verliere. Beim Verlassen des Ladens trage ich versehentlich noch einen nicht bezahlten Ring am Finger.

Erst zehn Minuten später bemerke ich mein Missgeschick. Erschrocken haste ich sofort zurück in das Geschäft. Wie werden Ladendiebe hier eigentlich behandelt? Darf ich meine Finger behalten?

Ich darf. Der Verkäufer zeigte sich sogar ausgesprochen dankbar. Auf den Schreck könnte ich jetzt ein kaltes Bier vertragen, aber Fehlanzeige. In Sharjah, dem letzten Emirat auf unserer Rundreise, herrscht absolutes Alkoholverbot. Anders als in Dubai und Abu Dhabi, wo wenigstens Hotelbars Ausschankgenehmigungen haben. Dafür dürfte ich theoretisch auf unserem Hotelzimmer rauchen, aber meine Freundin Kat würde mich wahrscheinlich töten. Anyway, wie mein Onkel Jürgen von den Seychellen sagen würde. Von seiner Gelassenheit habe ich mir gedanklich ein paar Flaschen abgefüllt.

Als ich wieder in Frankfurt lande, holt mein Untermieter mich erneut vom Flughafen ab. In meiner Wohnung schenkt er mir einen Strauß Osterglocken. Provisorisch platziert in einem Kölsch-Glas. Spätestens jetzt ist es um mich geschehen.


Die Grand Tour mit Paul nach Zentralasien soll in rund zwei Wochen starten. Ich verpacke mein Leben in Kartons. Trenne mich von noch mehr veralteten Erinnerungen und überflüssigem Krempel. Hilfreiche Fragen bei dieser Aktion sind zum Beispiel: Was habe ich in den letzten Monaten nicht mehr getragen oder benutzt? Was würde ich wirklich vermissen, wenn das Haus abbrennen würde?

Meiner Schwester bringe ich kistenweise wichtige Unterlagen vorbei sowie den Schlüssel zu meinem Bankschließfach. Zuhause nehme ich in diesen Tagen noch letzte Arzttermine wahr. Überraschend problemlos war die Ummeldung der gesetzlichen Krankenversicherung. Meine Zahlungen an die Rentenversicherung habe ich ausgesetzt. Für mein Hab und Gut habe ich einen Lagerraum für rund 40 Euro pro Monat gemietet. Ich trenne mich zwar von vielen Dingen, verschenke und verkaufe einen Großteil meiner Möbel. Meine Lieblingsstücke bleiben jedoch bei mir und werden in dem Lagerraum verstaut. Eine Ausnahme: das Unhandlichste von allem, mein reich verziertes, mattschwarz lackiertes Klavier. Hier spare ich nicht an der falschen Stelle und heuere einen professionellen Klaviertransport an. Das Erbstück darf bei meiner Freundin Dina einziehen und muss nicht im Lagerraum einsitzen.


In den Emiraten steht man auf Gold. Und Weiß. Und Weiß mit Gold

Während dieser Zeit flirte ich heftig mit meinem Untermieter (ich sollte packen, stattdessen backe ich einen ganzen Tag Kuchen für seine 50-köpfige Abteilung). Aktueller Beziehungsstatus: unklar.

Eine der schwierigsten Fragen ist, was ich mitnehme. Meine Gepäckbox im Land-Rover ist etwa 40 x 50 x 45 Zentimeter groß. Zwangstherapie für „Ich-packe-immer-zu-viele-Klamotten-ein“-Menschen wie mich. Ich rede mir permanent ein, dass ich nicht zum Mond fahre. Auch in anderen Teilen dieses Planeten gibt es schließlich Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Auf dem Boden meines leeren Wohnzimmers lege ich mir Stapel zurecht. Nehme Dinge weg, lege wieder etwas dazu. Rolle, quetsche, schiebe. Entscheide mich für oder gegen jedes einzelne Teil. Versuchte man meine Art des Packens in eine Formel zu pressen, würde diese in etwa lauten: Je kleiner der Stauraum bei proportionaler Steigerung der Reisezeit, umso geringer wird die mitgeführte „Gepäckmenge X“ und umso größer die maximale Annäherung an den Grenzwert „Reduzierung auf meine Grundbedürfnisse Y“.

Unsere Abfahrt verzögert sich um wenige Tage. Wir warten noch auf unser „Carnet de Passage“, eine Art Reisepass und Zolldokument für das Auto. In vielen asiatischen Ländern ist das Carnet beim Grenzübertritt mit dem eigenen Fahrzeug Pflicht. Auch wir selbst sind inzwischen gut mit Dokumenten ausgestattet. Jeder von uns besitzt zwei Reisepässe voll mit Visa von Russland bis Indien. Auch sonst fühle ich mich gut vorbereitet. Ich habe meinen Erste-Hilfe-Kurs aufgefrischt. Zudem habe ich haufenweise Impfungen intus. Zu meinem Erstaunen habe ich bisher alle ohne Nebenwirkungen weggesteckt. Meine Reiseapotheke füllt einen ganzen Turnbeutel. Unterwegs krank zu werden, ist zu diesem Zeitpunkt meine größte Sorge. Mit Magen-Darm-Problemen irgendwo in der usbekischen Steppe? Mein persönliches Horror-Szenario.

Mit meinen Freunden mache ich Abschied auf Raten, alles andere würde mich überfordern. Meine Freundin Vanessa spielt mir bei unserem letzten Treffen „Mein Ding“ von Udo Lindenberg vor und ich breche in Tränen aus. Meine Schwester verabschiedet mich auf ihre Art: „Wenn was ist, ruf mich an. Dann komm ich vorbei und hol dich ab.“

Jetzt läute ich die Klingel am Haus meines Reisepartners Paul. Die letzten Sachen gepackt, die letzten Freunde verabschiedet und ein letztes Mal meinen Untermieter geküsst. Ich habe eine WhatsApp-Gruppe gegründet, ein Bündel US-Dollar in kleinen Scheinen in der Tasche und bin entgegen aller Logik und Vernunft frisch vergeben. In meinem Herzen habe ich eine Wagenladung voller guter Wünsche von meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen.

Meine Gefühle könnten gemischter nicht sein. Aber ich freue mich wirklich, dass es jetzt endlich losgeht. Paul öffnet die Tür. Morgen starte ich mit ihm in Richtung Osten.


Mein Zuhause auf vier Rädern für die kommenden Monate steht vor dem Haus. Ein weißer Land-Rover Defender 110. Einer der letzten seiner Art, dessen Bau Ende 2015 eingestellt wurde. In fast 70 Jahren sind mehr als zwei Millionen Exemplare vom Band gelaufen. Auf dem Dach haben wir ein Zelt, Wassertanks und eine Kiste für Feuerholz. Der hintere Innenraum ist ausgebaut mit einer Kühlbox und stabilen Kisten mit Deckeln. Eine davon für mich – erleichtert stelle ich fest, dass für meinen Turnbeutel voller Medikamente noch Platz in einer weiteren Kiste ist. Eine Rückbank gibt es in unserem Gefährt nicht mehr. Was sich zum Teil alles in den Behältern befindet, soll sich für mich erst nach und nach herausstellen. Nach dem Frühstück laden wir unser Gepäck in den Wagen. Ich sortiere nun wirklich zum allerletzten Mal Überflüssiges aus. Was mitfährt, sind: Klamotten, Kulturbeutel, Kamera, Reiseführer, Apotheke, etwas Kleinkram. Und eine Jahresration Tampons. (Ich weiß, dass ich wahrscheinlich auch diese überall auf der Welt kaufen kann – trotzdem.) Ich stelle fest, dass ich nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine Schlüssel mehr bei mir habe. Ich besitze keinen Wohnungsschlüssel und keinen Autoschlüssel mehr. Ein merkwürdiges, aber befreiendes Gefühl. Ich habe mein Leben vorübergehend einmal komplett aus seinen Angeln gehoben und bin gespannt, was daraus wird.


Endlich dreht Paul den Zündschlüssel – wir starten! Nach all den Monaten der Vorbereitung liegen nun 40.000 Kilometer und mehr als 15 Länder vor uns. Von jetzt an vertraue ich mich voll und ganz einem Menschen an, den ich kaum kenne – seinen Fahrkünsten, seinem Orientierungssinn, seiner Geduld. Vom Armaturenbrett schaut uns Königin Elisabeth II. an, als kleine solarbetriebene winkende Figur. God save the Queen und uns hoffentlich auch.


Unsere ersten Kilometer führen uns zur Autobahn. Dort pendelt sich unsere Geschwindigkeit bei 120 km/h ein. Obwohl sich die Rückenlehne nicht verstellen lässt und die straffe Federung nicht gerade rückenfreundlich ist, sitze ich überraschend bequem.

Paul und ich reden über die ersten Etappen unserer Route. Einzig unsere erste Übernachtung steht bereits fest: Stralsund. Paul hat uns ein Doppelzimmer im „Hiddenseer Hotel“ gebucht. Da wir ohnehin die nächsten Monate immer wieder gemeinsam in einem Dachzelt übernachten werden, kann ich damit leben.

Wir arbeiten uns ab jetzt Stück für Stück nach Osten. Ich bin voller Vorfreude auf das, was vor mir liegt (trotzdem vermisse ich meinen Untermieter jetzt schon).

Um unseren nächsten Halt Danzig in Polen zu erreichen, nehmen wir die kostenlose Autofähre bei Swinemünde. In Danzig haben wir eine ganz bezaubernde Unterkunft: das Hotel Goldwasser in einem verwinkelten Altbau mit knarzenden Böden. So schön wie das Hotel ist auch die Stadt: Am Morgen liegen die Straßen noch schlafend im Nebel vor uns. Wir gehen auf eine Erkundungstour. Alte Klinkerbauten mit verschnörkelten Zinnen und kleinen Treppchen zieren den historischen Stadtkern.

Noch am gleichen Tag geht es weiter. Wir durchqueren die Masuren, eine polnische Seenlandschaft. Ein Warnschild mit einem Elch säumt die Straße – „Uwaga na łosie!“ Vorsicht vor Elchen! Ich hoffe, dass wir auf eines dieser einzigartigen Tiere treffen, aber leider haben wir kein Glück.

Da wir uns noch in EU-Gebiet befinden, sind die Grenzübergänge unspektakulär einfach. Wir reisen ungehindert in Litauen ein und übernachten in der Nähe von Marijampolė im Hotel Vingis. Ein Geisterhotel – wir scheinen die einzigen Gäste zu sein und ich grusle mich ein wenig. Als wir abends zum Essen in den Ort fahren, frage ich mich zum ersten Mal, ob man dieses Auto eigentlich auch von innen verriegeln kann. Hier ist es wirklich finster! Die Stadt, auf Deutsch Mariampol genannt, ist eine kleine Industriestadt und überhaupt nicht touristisch. Wir werden eher kritisch beäugt. Auf der Speisekarte fällt auf, dass die Vokale weniger werden, aber immerhin können wir die Buchstaben noch entziffern.

Wir brechen früh am nächsten Morgen auf. Schusselig wie ich bin, vergesse ich das teure Duschgel, das ich vor ein paar Tagen zum Abschied geschenkt bekommen habe, im Hotel. Mal sehen, wie ich mich in den nächsten Monaten so schlage. Solange mir nur solche Dinge wie Duschgel abhandenkommen, ist alles gut.

Die letzte unbewachte Grenze – Latvija, Lettland – liegt mitten in einer staubigen Baustelle. Wir versuchen eine Übernachtung auf einem Boot zu buchen, aber der See im Nationalpark Rāzna im Osten des Landes ist noch zugefroren. Wir haben bereits Ende März, aber das Klima ist hier schon ein anderes. Auf dem See sitzen kälteresistente Eisfischer vor winzigen Löchern im dicken Eis. Mit baldigem Tauwetter ist also nicht zu rechnen. Stattdessen übernachten wir in einem Hotel in Rēzekne. Egal ob beim Hotel-Check-In, Essen oder Fragen nach dem Weg – die Menschen zeigen sich uns gegenüber offen und freundlich. Auch Paul und ich kommen gut miteinander aus. Wir wechseln uns beim Fahren ab und führen Gespräche über alles Mögliche. Was unsere Musikgeschmäcker angeht, gibt es sowohl Überschneidungen als auch Differenzen und wir werden uns immer irgendwie einig. Das ein oder andere behalte ich um des Friedens willen für mich. Beispielsweise sucht Paul stets über Google und Tripadvisor nach Restaurants in der Nähe. Ich bezweifle, dass in diesem und den noch folgenden Ländern alle Google-Einträge aktuell und ansatzweise vollständig sind.

Zudem umtreibt mich noch ein weiterer Punkt: Im Auto hat Paul ein Geheimfach für wichtige Dokumente eingebaut. Ich frage mich, was passiert, wenn einfach das ganze Auto samt Geheimfach gestohlen wird. Aber auch das behalte ich für mich. Wahrscheinlich macht es auch keinen Sinn, sich ständig irgendwelche Szenarien auszumalen. Außerdem will ich Paul nicht auf die Nerven gehen.


Hinter uns liegen nun also Deutschland, Polen, Litauen und Lettland mit jeweils nur einer Übernachtung. Ich hätte mir gerne schon am Anfang der Reise mehr Zeit gelassen, um richtig in diese Länder einzutauchen. Doch es ist Pauls Reise und ich bin nur die Mitfahrerin. Er ist der Chef, er entscheidet. Weißrussland und die Ukraine waren ebenfalls als Route Richtung Kasachstan im Gespräch, beides ist aber aufgrund von Visaschwierigkeiten gescheitert. Mit eigenem Fahrzeug diese Länder zu bereisen ist komplizierter als mit einem Flugzeug.

Wir erreichen die lettisch-russische Grenze. Autos und Lkw werden am laufenden Band in zwei verschiedenen Reihen abgefertigt. In der Pkw-Schlange entdecke ich nur noch ein weiteres Auto mit deutschem Kennzeichen. Das Prozedere der Pass- und Fahrzeugkontrolle dauert etwa eineinhalb Stunden. Dann dürfen wir unseren Landy (auch „der Dicke“ oder „die dicke Bergziege“ genannt) über die Grenze rollen lassen. Das erste Schild sagt uns: Moskau, 592 Kilometer. Unser Weg wird uns aber viel weiter südlich an der russischen Hauptstadt vorbeiführen. Das nächste Straßenschild gibt mir das Gefühl, auf einem anderen Planeten angekommen zu sein – ein wildes Geflecht aus Städtenamen, Richtungen, Landesgrenzen und Autobahnabkürzungen. Wer denkt sich so was aus?

Trotzdem finden wir den richtigen Weg nach Smolensk. Wir erkunden die Stadt inklusive der historischen Stadtmauer und einer prunkvollen Kathedrale. Ein erboster Russe macht mir klar, dass frau hier in der Kirche eine Kopfbedeckung tragen muss. Falsch machen ist manchmal die beste Art, etwas dazuzulernen.

In einem historischen Turmrestaurant essen wir zu Abend. Schwere Vorhänge trennen uns vom Tageslicht. In dem kleinen Raum stehen hohe, dunkelrote Sessel an massiven Holztischen. An einem von diesen sind mehrere charismatische Herren in ein intensives Gespräch vertieft. Der Tisch voll mit halbleeren Tellern und Gläsern. Die Szenerie ist in gedämpftes Licht getaucht und könnte aus einem alten Agentenfilm stammen. Die Kellner sind ausgesprochen freundlich. Mit wenigen Brocken Englisch helfen sie uns beim Bestellen und fragen nach dem Essen, ob sie ein Foto mit uns machen dürfen.


Am nächsten Morgen verlassen wir Smolensk. Vor uns liegen 450 Kilometer nach Tula. Wir bewegen uns grob in Richtung der kasachischen Grenze und umfahren bewusst den Großraum Moskau. Ich fahre. Heute wechseln wir uns nicht ab. Unseren Rhythmus was das Fahren angeht, müssen wir erst noch finden. Sechseinhalb Stunden pflüge ich mich mit unserem Landy über schlechte Straßen vorwärts. Unsere einzigen Zwischenstopps: eine Kirchenruine mitten im Nirgendwo (ein tolles Fotomotiv) und eine der gruseligsten Toiletten meines Lebens an einer heruntergekommenen Tankstelle. Das WC ist von außen ein hübsches, bunt gekacheltes Häuschen, von innen brechreizauslösend. Augen zu und durch.


Eine Kirchenruine mitten im russischen Nirgendwo zwischen Smolensk und Tula

Auf der Suche nach unserem Hotel halten wir vor der Stadt wieder an einer Tankstelle. Diese ist hochmodern und pieksauber – hier habe ich vermutlich nichts zu befürchten. Ich meine mal aufgeschnappt zu haben, dass das russische Wort „Banja“ Toilette heißt– also frage ich danach. Ich werde ungläubig von der kleinen Kassiererin angestarrt. Später sollte ich herausfinden, dass „Banja“ so viel wie Sauna bedeutet.

Das Hotel finden wir leider immer noch nicht, also halten wir erneut, um nach dem Weg zu fragen. Unsere Nerven liegen blank und wir kriegen uns das erste Mal in die Wolle. Bisher war Paul stets souverän und lässig – egal ob beim Planen, Fahren oder Navigieren. Doch heute ist auch er gereizt, sogar hysterisch, wie ich finde. Durchatmen. Vor uns liegen noch acht Monate und drei Wochen. Wir einigen uns darauf, uns in Zukunft öfter beim Fahren abzuwechseln.

Im Hotel Imperator falle ich erschöpft in mein Bett. Der nächste große Ritt liegt schon in greifbarer Nähe. Über 600 Kilometer nach Penza.


Die Polizei stoppt uns. Ich sitze am Steuer. Der Beamte mit dem kantigen Gesicht und der überdimensionalen Pelzmütze will meinen Führerschein sehen. „Katharina?“ Er zögert. Im Stillen hege ich einen hoffnungsvollen Gedanken: Ob ich mit meinem Namen hier vielleicht einen Pluspunkt gewonnen habe? Er kassiert meinen Führerschein ein und spricht kurz mit Paul. Dann nimmt er mich mit in sein spartanisch eingerichtetes Büro an der nächsten Straßenecke. Paul raunt mir noch schnell zu, dass der Polizist 10 US-Dollar von uns will. Die Begründung ist, dass wir ohne Licht gefahren sind – am helllichten Tag. Flink lasse ich einen Schein in meiner Hosentasche verschwinden. Als wir uns in dem kleinen Polizeibüro gegenübersitzen, stelle ich fest, dass der Mann offensichtlich zum Lachen in den Keller geht. Er verzieht jedenfalls keine Miene, als er das gesamte Ausmaß seiner ausgiebigen Deutschkenntnisse auf den Tisch packt: „Schreiben oder nicht schreiben?“ Ich gucke irritiert. „Was?“ Er wiederholt mit monotoner Stimme: „Schreiben oder nicht schreiben?“ Ich stehe komplett auf der Leitung. Er wiederholt sich. Wir starren uns an. Dann probiert er es mit einer Zeichnung auf seinem Klemmbrett. Er kritzelt etwas, streicht es durch und schreibt daneben „10 $“. Jetzt fällt bei mir der Groschen. 10 Dollar, wenn er keinen Bericht schreibt. Begeistert, weil ich das Rätsel der russischen Sphinx mir gegenüber gelöst habe, hole ich den Geldschein aus meiner Tasche und packe ihn grinsend auf den Tisch. Der Polizist wird schlagartig nervös, fuchtelt mit den Händen, winkt ab. Also stecke ich den Schein wieder weg (und bin wieder irritiert). Er deutet auf die Ecke oben rechts hinter mir. Ich drehe mich um und blicke direkt in eine kleine Kamera, die auf den zerfurchten Schreibtisch gerichtet ist. Ich verstehe. Seine Lösung des Problems amüsiert mich zwar zutiefst, aber ich verkneife mir das Lachen: Er legt sein Klemmbrett auf den Tisch – hebt es zu einer Seite an –, lässt mich den Schein darunter legen und zu ihm rüberschieben. Auf dem gleichen Weg bekomme ich von ihm meinen Führerschein zurück. Ich darf gehen.

Die nächste seltsame Begegnung lässt nicht lange auf sich warten. An einer Art Rasthof suche ich die Toilette. Die einzige Kabine hinter einer Holztür wird von einer übertrieben geschminkten, jungen Russin bewacht. Sie zeigt auf ein Schild: 15 Rubel. Ich verstehe und krame in all meinen Jacken- und Hosentaschen nach Münzen. Was ich darin neben Taschentüchern, Krümeln und zerknitterten Quittungen finde, sind insgesamt 14 Rubel. Die pflichtbewusste Dame schüttelt den Kopf und zeigt wieder auf das Schild. Keine Gnade. 15 Rubel. Ich suche noch mal weiter und finde einen Euro. Sie schüttelt wieder den Kopf. Ich versuche meine drückende Blase und damit wachsende Ungeduld zu ignorieren. So ruhig wie möglich erkläre ich, dass ein Euro etwa 75 Rubeln entspricht und sie damit jetzt (für – Herrgott noch mal – einmal Pinkeln, denke ich genervt, sage ich aber nicht) fast 100 Rubel einnehmen wird. Sie lässt mich durch. Für 14 Rubel und einen Euro. Danke.

In Penza beziehen wir das Hotel Avia und haben einen Bärenhunger. Im Restaurant sind wir die einzigen Gäste und die Speisekarte ist nur auf Russisch. Ich zeige planlos auf eines der vergilbten Bilder und sende ein kurzes Stoßgebet in die Küche und an meinen Magen.

Unsere ersten acht Tage sind um. Eine erste Zwischenbilanz – diese Art des Reisens macht wahnsinnig viel Spaß. Paul und ich müssen uns hier und da als Reiseteam noch etwas finden, aber kommen gut miteinander aus. Und Russland, dieses unfassbar riesige Land, ist einfach faszinierend. Ich glaube, man muss sehr viel mehr Zeit hier verbringen, um dieses Land und seine Leute zu begreifen. Ich bedaure, dass wir Russland schon bald wieder verlassen werden.

Reise Know-How ReiseSplitter: Von Kasachstan in die Südsee – Wie ich mal eben vom Weg abkam

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