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Katharina Burkhardt

Die Hitze lag an diesem Samstag im August 1963 drückend auf dem kleinen sächsischen Ort. Der Marktplatz war menschenleer, als Richard Krempin ihn überquerte, und auch er wäre lieber in der Kirche geblieben, hinter deren dicken Mauern es angenehm kühl war. Doch er konnte unmöglich den ganzen Nachmittag dem Organisten zuhören, der für den Gottesdienst am nächsten Morgen probte; schließlich hatte er noch Termine. Als er in die Poststraße einbog, kam ihm eine junge Frau entgegen, die einen Kinderwagen vor sich herschob.

»Guten Tag, Herr Pfarrer«, grüßte sie freundlich, und als sie sah, dass Richard trotz der hochsommerlichen Temperaturen einen dunklen Anzug trug, fügte sie mitfühlend hinzu: »Ach, müssen Sie denn an so einem heißen Samstag unbedingt noch arbeiten? Ein bisschen Ruhe täte Ihnen doch auch gut, oder?«

Richard lächelte höflich und erwiderte den Gruß. Annemarie Stegmann kam regelmäßig in seine Bibelstunden.

»Nun ja«, fügte er hinzu, »wir Pfarrer sind ja sozusagen immer im Dienst. Und heute wartet eine schöne Aufgabe auf mich. Die alte Frau Hempel wird neunzig, da möchte ich ihr gratulieren.«

Er verabschiedete sich freundlich von Frau Stegmann und öffnete das schmiedeeiserne Gartentor zur Poststraße Nummer vier.

Mit raschen Schritten ging er durch den Vorgarten bis zur Haustür und wischte sich dabei mit einem Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken. Das Haus zeugte von einer Zeit, in der man noch großzügig gebaut hatte, mit hohen Decken, Bogenfenstern und Stuckverzierungen. Doch wie überall im Osten fehlte es den Eigentümern auch hier an Geld und Baumaterial. Feine Risse durchzogen den grau gewordenen Putz, und an Fensterrahmen und Haustür blätterte die Farbe ab. Nachdenklich musterte Richard die Tür, während er darauf wartete, dass ihm geöffnet wurde. Es dauerte lange, bis er Schritte vernahm. Endlich stand Gertrud Engelmann vor ihm, die Tochter der Jubilarin.

»Ach, Herr Pfarrer Krempin!«, rief sie erfreut, und statt ihrer Hand streckte sie ihm eine große Kuchenplatte entgegen, auf der sich eine beachtliche Menge quadratisch geschnittener Stücke Pflaumenkuchen befand. »Was für ein Glück, dass ich Sie überhaupt gehört habe, denn wir sitzen alle im Garten. Aber ich musste mal ein bisschen Nachschub für die hungrigen Mäuler holen.«

Richard atmete den köstlichen Duft von frisch gebackenem Hefeteig ein, und ihm wurde bewusst, dass es lange her war, seit er ein bescheidenes Mahl zu sich genommen hatte. Er nahm Gertrud Engelmann die Kuchenplatte ab, und der Geruch des Kuchens umhüllte ihn sanft und verführerisch. Ein wenig benommen folgte Richard Frau Engelmann in den Garten, wo sich zahlreiche Gäste im Schatten eines Apfelbaums um eine Geburtstagstafel versammelt hatten. In der Mitte thronte auf einem schweren Lehnstuhl, den man eigens aus dem Wohnzimmer nach draußen geschafft hatte, Erna Hempel, das Geburtstagskind. Richard überreichte ihr eine Karte mit den üblichen Segenswünschen und ein Gebetsbüchlein. Erna Hempel war trotz ihres hohen Alters noch bei guter Gesundheit, und ihre Augen blitzten lebhaft hinter den Brillengläsern.

»Das ist unser neuer Pfarrer«, erklärte sie ihren Gästen. »Er arbeitet hier, seit Pfarrer Mayer in Ruhestand gegangen ist. Sie sind ja noch recht jung«, fügte sie mit einem Augenzwinkern an den schlanken, hochgewachsenen Richard hinzu, »aber mir scheint, Sie machen Ihre Sache gut.«

»Vielen Dank.« Richard schaute in schmunzelnde Gesichter, die ihn neugierig musterten.

»Und das hier sind meine Enkelkinder«, fuhr Erna Hempel mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fort. »Die Margot und die Ingrid. Die leben beide im Westen, genauso wie der Günther mit seiner Frau Barbara. Nur das Nesthäkchen, die Erika, lebt auch im Osten, in Berlin.«

Die jungen Leute grüßten Richard freundlich. Sie trugen alle leichte Sommerkleidung, und Richard war froh, dass er sein Jackett ebenfalls ausziehen durfte.

»Es ist heute zu heiß für Förmlichkeiten«, sagte Günther und deutete Richard an, die Hemdsärmel auch noch aufzukrempeln.

»Sie möchten doch sicher auch ein Stück Kuchen, nicht wahr?«, fragte Ingrid, und Richard nahm Platz auf einem Klappstuhl, ließ sich Kaffee einschenken und einen Teller mit Pflaumenkuchen und frischer Schlagsahne reichen.

Die geviertelten Pflaumen lagen dicht aneinander und waren leicht in den luftigen Hefeteig eingesunken und zusätzlich in Streuseln eingebettet. Um dem Kuchen noch mehr Süße zu verleihen, hatte Gertrud Engelmann ihn nach dem Backen mit Zucker bestreut. Richard spürte den süßsauren Geschmack der Früchte auf seiner Zunge, noch bevor er den ersten Bissen kostete. Am liebsten hätte er vor Genuss die Augen geschlossen. Dieser Kuchen war der beste Kuchen, den er jemals gegessen hatte, ein Gedicht, die Krone sächsischer Backkunst sozusagen. Dazu gab es echten Bohnenkaffee, den Margot aus Nürnberg mitgebracht hatte, und dessen voller, herber Geschmack perfekt mit dem fruchtigen Kuchen harmonierte.

Richard beantwortete mit vollem Mund Fragen zu seiner Arbeit. Es war seine erste Pfarrstelle nach dem Vikariat. Ihm gefiel der kleine Ort gut und er konnte sich durchaus vorstellen, hier noch einige Jahre zu verbringen.

Die Kinder der Engelmanns waren schon lange aus dem Haus und er begegnete ihnen allen zum ersten Mal.

»Und wo leben Sie?«, fragte er Ingrid, die ihn mit denselben lebhaften Augen wie ihre Großmutter ansah.

»In Hamburg. Ich bin Krankenschwester an einer großen Klinik.«

»Ach, das ist ja interessant.« Richard wäre eigentlich gerne Arzt geworden, aber er engagierte sich nicht in der Partei und hatte daher nur einen Studienplatz für Theologie erhalten.

»Der Schwarzwald ist auch wunderschön.« Jetzt mischte sich Günther mit in das Gespräch ein. »Da kann man herrliche Ausflüge machen.«

»Das kann ich mir denken.« Richard leckte sorgfältig seine Kuchengabel ab. Er litt nicht so sehr unter dem Reiseverbot wie andere DDR-Bürger, aber manchmal wünschte auch er sich, dass das Leben leichter und unkomplizierter wäre.

Ingrid servierte ihm ein zweites Stück Kuchen, und statt sich mit politischen Fragen zu befassen, gab Richard sich wieder ganz dem Genuss dieser wunderbaren Köstlichkeit hin. Das zweite Stück schmeckte fast noch besser, denn nun war der erste Heißhunger gestillt und Richard verlor sich in dem wohligen Gefühl vollkommenen Glücks. Er ließ das fröhliche Geplänkel der Familie über sich hinweg gleiten und widmete sich ganz seinem Kuchen.

Auf einmal brach Hektik aus. Margot musste zum Bahnhof, sie wollte noch heute mit dem Abendzug zurück nach Nürnberg fahren.

»Kinder, jetzt müsst ihr aber machen«, rief Gertrud Engelmann aufgeregt, als Margot immer noch in ein Gespräch mit ihrer jüngsten Schwester Erika vertieft war, von der ihr die Trennung besonders schwer zu fallen schien. Endlich lief Margot ins Haus, um ihr Gepäck zu holen. Die restliche Familie folgte ihr und überhäufte sie mit guten Wünschen und Ratschlägen. Selbst Erna Hempel erhob sich schwerfällig aus ihrem großen Stuhl, um der Enkelin vom Gartentor aus hinterher zu winken.

Nur Richard blieb auf seinem Klappstuhl an der großen, nunmehr leeren Geburtstagstafel sitzen. In all dem Trubel hatte er die Gelegenheit verpasst, sich ebenfalls zu verabschieden, damit die Familie noch ein wenig unter sich sein konnte. Niemand hörte ihm zu, niemand beachtete ihn. Man hatte ihn einfach vergessen.

Richard trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und verscheuchte ein paar Wespen, die sich auf dem Kuchen niedergelassen hatten. Fünf Stücke lagen noch auf der Platte. Ob es auffallen würde, wenn gleich nur noch vier da lagen? Von der Straße her hallten Stimmen herüber. Der Abschied von Margot schien sich noch etwas hinzuziehen. Rasch nahm Richard sich eins der Kuchenstücke und aß es gleich aus der Hand. Dieser Pflaumenkuchen war wahrhaftig ein göttliches Geschenk.

Da bog Ingrid überraschend um die Hausecke. Hastig schluckte Richard den letzten Bissen hinunter und stand auf.

»Entschuldigen Sie vielmals«, rief Ingrid, »mir fiel eben erst auf, dass wir Sie ganz vergessen haben. Sie Ärmster müssen sich ja völlig verlassen vorkommen.«

»Das macht überhaupt nichts.« Richard fühlte beim Sprechen die letzten Kuchenkrümel auf der Zunge. »Ich wollte mich ohnehin auch verabschieden.«

»Möchten Sie nicht noch ein Stück Kuchen essen, Herr Krempin? Kommen Sie, der muss weg.«

Richard zierte sich nicht lange, sondern setzte sich wieder hin und reichte Ingrid seinen Teller. Die Schlagsahne war mittlerweile in der Wärme zerlaufen und umhüllte die Pflaumen nun wie ein fließender Crememantel. Ingrid setzte sich Richard gegenüber und schenkte Kaffee ein.

»Dieser Kuchen ist ehrlich gesagt eine Wucht«, sagte Richard. »Ihre Mutter ist eine großartige Bäckerin.«

Ingrid lachte und versprühte Energie und Lebendigkeit. Während Richard sich mit der Gabel ein weiteres Stück süßer Verführung in den Mund schob, fing er ihren Blick auf. Ihre Augen hatten die Farbe frischer, junger Pflaumen, und als er nun das weiche Fruchtfleisch in seinem Mund erspürte, war ihm, als würde er Ingrids volle, rote Lippen küssen. Auf einmal schien die Welt stillzustehen. Richard vergaß, dass er im Dienst war, und er vergaß die ganze Geburtstagsgesellschaft. Er schmeckte die Süße auf seiner Zunge und fühlte sie gleichzeitig in seinem Herzen. In seinem Mund mischte sich der Teig mit dem saftigen Obst und der Sahne. Er kostete das zarte Fleisch und die samtige Schale einer Pflaume und die verführerische Süße zerlaufenen Zuckers. Die leichte Säure der Früchte sorgte für eine wunderbare Erfrischung, die auf einmal seinen ganzen Körper zum Prickeln brachte.

Ingrid sprach unablässig zu ihm, aber Richard nahm keines ihrer Worte wahr. Er ertrank in ihren pflaumenblauen Augen und verschmolz mit ihr wie die Butterstreusel in seinem Mund mit der Sahne. Die Hitze des Sommernachmittags schlug über ihm zusammen und nahm ihm den Atem.

»… das letzte Stück teilen«, hörte er Ingrid sagen und fragte verwirrt:

»Was, schon das letzte Stück?«

Die Kuchenplatte war leer bis auf ein letztes, besonders mächtiges Stück, das Ingrid nun in zwei Hälften teilte und eine auf Richards Teller legte und die andere auf ihren eigenen. Sie lächelte Richard unablässig an, während sie gleichzeitig mit ihm die Kuchengabel zum Mund führte. Eine Locke ihres dunklen Haares hing ihr keck in das bildschöne Gesicht, und als Richard einen zauberhaften Glanz in ihren Augen entdeckte, begriff er, dass irgendetwas in den letzten Minuten geschehen sein musste, in denen er offenbar, ohne es zu merken, drei Stücke Kuchen gegessen hatte. Auf einmal fühlte er sich wunderbar satt und gleichzeitig so leicht wie das Sommerlüftchen, das soeben aufkam und mit Ingrids Haaren spielte.

Günther schlenderte Arm in Arm mit seiner Frau Barbara zurück in den Garten, dicht gefolgt von der übrigen Familie.

»Ich habe Pfarrer Krempin gerade vorgeschlagen, dass wir morgen alle zusammen zum Paddeln an den Baggersee fahren«, sagte Ingrid, und ihre Wangen glühten. Hatte sie das? Richard konnte sich nicht daran erinnern. Günther musterte seine Schwester und dann den Pfarrer eingehend und sagte schließlich sichtlich erfreut:

»Das ist ja eine großartige Idee!«

Richard schaute wieder in diese pflaumenblauen Augen. Und während die ganze Familie gleichzeitig auf ihn und Ingrid einredete, wurde ihm gewahr, dass er an diesem besonderen Nachmittag im August nicht nur den besten Pflaumenkuchen, sondern auch die Frau seines Lebens gefunden hatte. Er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus:

»Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so satt«, sagte er und leckte sich voller Glück den Zucker von den Lippen.

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