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3. Das Musealphänomen: Musealisierung und Musealität

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Im allgemeinsten und weitesten Sinn kann Wissenschaft als ein Bemühen bezeichnet werden, menschliche Erkenntnisse zu sammeln, sie in einen Begründungszusammenhang zu bringen und auf Gesetzmäßigkeiten hin zu untersuchen und zu erklären. Dazu bedarf es nicht nur einer bestimmten Methode, sondern auch einer bestimmten Terminologie, einer bestimmten Wissenschaftssprache, mithin einer Anzahl von Ausdrücken und Begriffen, die für das entsprechende Wissensgebiet als verbindlich vereinbart und festgelegt werden. Die Begriffe museal, Musealisierung und Musealität haben für die Museologie zentrale Bedeutung.

Musealisierung hat Affinität zur Historie

Der Terminus Musealisierung hat als eine sprachliche Neuschöpfung so spezifischen Charakter, dass er, wie Eva Sturm 1991 festgestellt hat, noch nicht Bestandteil des fachbezogenen lexikalischen Begriffsapparates ist, auch wenn er sich vom allgemein vertrauten Wort „museal“ ableiten lässt. Wahrscheinlich im Umkreis der Geschichtswissenschaft entstanden, charakterisiert das Wort „Musealisierung“ ein Phänomen, das zunächst mit Geschichtsliebe umschrieben werden kann (Sturm 1991, 11). Diese Sehnsucht nach der Vergangenheit, die sich vor allem im Sammeln ihrer Hinterlassenschaften und Zeugnisse und in der rasanten Zunahme von Museumsgründungen dokumentiert, kann als ein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Historiker, Kunsthistoriker, Psychoanalytiker und Museologen haben sich mit ihm beschäftigt. Zunächst waren es aber vor allem Geschichtsphilosophen und Soziologen, – hier seien zunächst Jean Baudrillard (1929–2007) und Henri Pierre Jeudy (*1945) genannt – die die These aufgestellt haben, Musealisierung sei als Ausdruck einer besonderen Affinität zur Historie zu betrachten. Sie ist zu einem Phänomen geworden, das nicht nur eine Angelegenheit des Museums ist, sondern sich auch außerhalb dieses Ortes ereignet. Diese Affinität äußert sich in einer besonderen Liebe zu historischen Dingen, die vor dem Untergang bewahrt werden wollen. Das allgemeine Bedürfnis der Bewahrung sei so unübersehbar, so zeittypisch, dass es letztendlich zu einer „Musealisierung der Welt“ führen könne.

Joachim Ritters Kompensationstheorie

In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem „Zeitphänomen Musealisierung“ sind vor allem die Ansätze von Joachim Ritter (1903–1974), Hermann Lübbe (*1926) und Odo Marquard (*1928) in unserem Zusammenhang von Interesse. Ritter sieht in der weit verbreiteten Liebe zu den „alten Dingen“ ein akutes Bedürfnis der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, eine Gegenwart zu kompensieren, die sich durch Traditionsverlust, Geschichtslosigkeit, kurzum durch einen fehlenden historischen Sinn auszeichnet. Diesen Verlust gilt es auszugleichen. Es entsteht das Bedürfnis, Vergangenheit „sichtbar“ zu machen, sie festzuhalten, ja, sie sogar wieder herzustellen. Dazu bedarf es bestimmter „Organe“, mit deren Hilfe dieser Verlust kompensiert werden kann. Zu ihnen gehören das Museum, die Institutionen der Denkmalpflege, aber auch die historischen Wissenschaften wie die Geisteswissenschaften überhaupt. Sie alle haben die Kraft, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren, das durch Verlust Bedrohte zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Musealisierung ist nicht nur ein wirksames, sondern vor allen Dingen auch ein notwendiges Mittel, den Verlust von Vergangenheit durch konstruktive Auseinandersetzung zu kompensieren, gesellschaftlich bedingte Defizite zu bewältigen. Musealisierung ist aber auch ein Mittel der Selbsterfahrung, der Deutung und Erklärung von Vergangenheit.

Hermann Lübbe

Herrmann Lübbe arbeitet im Anschluss an die Thesen Joachim Ritters ebenfalls die Zusammenhänge zwischen einem auf allen Ebenen sichtbar werdenden menschlichen Fortschritt und unserem stetig wachsenden Interesse an der Vergangenheit heraus, in dessen Folge es zum Musealisierungsprozess kommt. Anders aber als Ritter spricht Lübbe nicht von Traditionsverlust oder Geschichtslosigkeit, die es zu kompensieren gilt, sondern von zwei Kulturen, die nicht mehr miteinander harmonisieren. Lübbe nennt sie die geschichtliche und die ungeschichtliche Kultur. Da die gesellschaftliche Entwicklung der Gegenwart uns in immer schnellerem Tempo von unseren geschichtlichen Kulturen, unseren Herkunftskulturen entfernt, wird die Distanz zu ihnen immer größer, sie werden uns immer fremder. Es kommt zu einer Überlagerung der geschichtlichen Kultur durch die ungeschichtliche Kultur. Diese Erscheinung führt auch zu einer Beschleunigung des Alterungsprozesses der von uns produzierten Dinge. Immer rascher werden sie unmodern, denn sie werden nicht mehr gebraucht. Sie verlieren anscheinend ihre Funktion und werden der Vernichtung preisgegeben. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, entsteht das Bedürfnis, die geschichtlichen Kulturen mit ihren Zeugnissen zu schützen und vor der Zerstörung zu bewahren. Hier sieht Lübbe Aufgabe und Bedeutung des Museums. Es ist ein Ort, an dem Relikte der Kulturen vor der Vernichtung bewahrt werden können, es mutiert in gewissem Sinne zu einer „Rettungsanstalt“ (Sturm 1991, 29–39).

Das kulturelle Erbe

Wir müssen in unserem Zusammenhang noch einem anderen Aspekt unsere Aufmerksamkeit schenken. Im Zuge des allgemeinen Diskurses um das „Zeitphänomen Musealisierung“ hat auch die Auseinandersetzung mit Begriff und Bedeutung des kulturellen Erbes ihren Ort. Während die Musealisierungsdebatte vorwiegend wissenschaftstheoretischen Charakter hat, werden die Diskussionen um das kulturelle Erbe vor allem an den Museen geführt und als Ausgangsbasis für die praktische museale Tätigkeit, insbesondere die Vermittlungs- und Ausstellungsarbeit angesehen. Ausgangsbasis für die verstärkte Hinwendung zu den Zeugnissen der Vergangenheit ist nicht nur das allgemeine öffentliche Interesse an der Pflege und Erhaltung historischer Relikte, sondern vielmehr das identitätsstiftende Moment, das im Kontakt mit den Relikten der Vergangenheit in einem bestimmten kulturellen Milieu entsteht. Die konkret in der physischen Umwelt erhaltenen, vom Menschen geschaffenen oder von der Natur erzeugten Dinge haben als authentische Zeugnisse dessen, was über etwas Vergangenes berichtet werden kann, unübertroffene Bedeutung. Sie vermögen den Sinnen des einzelnen Menschen mehr und direkter etwas mitzuteilen, als dies durch Sprache möglich ist. Die Dinge wirken als Erinnerungszeichen, sie rufen in uns das Gefühl hervor, Teil eines Zusammenhanges zu sein, sie verweisen uns auf die eigene Geschichte. Die Dinge werden zu Geschichtsquellen.

Musealisierungsprozess und Geschichtserfahrung

Bedeutung des Begriffs „museal“

Das Sammeln und Bewahren von Dingen hat eine ungemein wichtige ideelle und soziale Komponente. Vergangenheit wird als etwas Erinnertes in die Gegenwart übertragen. Die musealisierten Dinge übernehmen identitätsstiftende Funktionen. Der Musealisierungsprozess wird so zu einem Teil von Geschichtserfahrung, von Geschichtsbewusstsein. Hier setzt die museologische Diskussion um die Bedeutung des Musealisierungsbegriffes ein. Stránský sieht in ihm einen zentralen Gegenstandsbegriff der Museologie überhaupt. Danach ist Musealisierung oder Musealisation als die museale Auseinandersetzung mit der Realität zu verstehen. Sie ist nicht nur an das Museum als einen Ort gebunden, sondern findet auch über seine gegenwärtigen Grenzen hinaus statt. Wenn Begriff und Verständnis dieses Prozesses sich aus dem Begriff „Museum“ oder „museal“ ableiten, dann deswegen, weil im Laufe der Geschichte museale Einrichtungen immer entstanden sind als ein Mittel zur Realisierung einer spezifischen Beziehung zur Wirklichkeit.

Die spezifische Art dieser Beziehung liegt darin. dass der Mensch aus seiner Umwelt Objekte herausnimmt, die für ihn gewisse Kulturwerte repräsentieren. Diese Repräsentanten bewahrt er auf, um sie in einem neuen Kontext als kulturbildende Faktoren zur Geltung zu bringen. Durch diesen Eingriff stellt sich der Mensch gegen den Prozess ständiger Veränderung und ständigen Untergangs. Er schafft sich auf diese Weise ein sachliches Gedächtnis, das sowohl dem Geschichtsbewusstsein dient, als auch Ausdruck einer existierenden Kultur ist. Deshalb ist auch diese spezifische Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit mit seiner Existenz dauerhaft verknüpft, wenn auch der Inhalt dieser Beziehung im Laufe der Geschichte ununterbrochen verändert wird. (Stránský 1989, 41)

Einführung des Begriffs „Musealität“

Um diese Beziehung benennen zu können, hat Stránský in die Museologie den Begriff „Musealität“ eingeführt. Musealität ist zwar an einen Träger, also die Sache oder das Objekt gebunden, sie kann aber nicht als seine Eigenschaft bezeichnet werden. Sie entsteht erst im Laufe des sich vollziehenden musealen Erkenntnisprozesses, sie ist mithin Ausdruck einer Subjekt-Objekt-Beziehung, einer Beziehung zwischen Mensch und Ding.

Wollen wir versuchen, sie erkenntnistheoretisch zu begründen, dann gilt es, Folgendes festzuhalten: Die Aussage, die im Akt der Musealisierung über ein Objekt getroffen wird, ist abhängig vom Grad des Verstehens, mit dem das erkennende Subjekt diesen Akt vollzieht. Dieses Verstehen ist nicht allein ein rationales Definieren materialer Eigenschaften, sondern ein Erkennen des Sinnes aller Aussagen, die uns fremd geworden sind. Musealisieren heißt, Bedeutungen zu dechiffrieren und in unsere Welt zu integrieren. Das Objekt ist niemals nur ein Teil von Vergangenheit, sondern immer auch Teil der je eigenen Gegenwart. Im Prozess des Verstehens werden wir vergangener Bedeutungen teilhaftig. Das Objekt verliert zwar durch seine Musealisierung seine ursprünglichen Zusammenhänge, es wird aber gleichzeitig in neue versetzt. Der Prozess der Musealisierung ist mithin Ausdruck unseres Geschichtsbewusstseins, das nicht nur Teile der Vergangenheit rekonstruiert, sondern das aus ihr Erinnerte in die Gegenwart überträgt und in diese integriert. Oder anders ausgedrückt: Unter Musealisierung verstehen wir jenen Prozess, in dessen Verlauf Objekte aus ihren natürlichen oder sozialen, mithin ihren ursprünglichen kulturellen Zusammenhängen herausgelöst, in neue Zusammenhänge verbracht, mithin Musealität begründet wird. Dieser Ansatz gilt seit seiner Definition durch Zbyněk Stránský als der grundlegendste in der Darstellung der Museologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Ihre Aufgabe ist es, sich mit einer spezifischen historisch und gesellschaftlich bedingten Beziehung des Menschen zur Realität zu befassen.

Einführung in die Museologie

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