Читать книгу Hedi war hier - Katharina Günther - Страница 10
ОглавлениеWAHRSCHEINLICH ODER UNWAHRSCHEINLICH?
Hätten wir mehr tun müssen, mehr tun können? Ich muss daran denken, als meine Ärztin uns über die Nackenfaltenmessung und eine Fruchtwasseruntersuchung informierte. Das war in der 11. Woche der Schwangerschaft. Wir haben den Flyer über die Untersuchungen mit nach Hause genommen. Uns über die Krankheiten, die da aufgelistet waren, informiert. Down Syndrom, Trisomie 21. Das kannten wir. Trisomie 18, das Edwards Syndrom, davon lasen wir zum ersten Mal. Auch über Trisomie 13. Es waren traurige und bis auf die Trisomie 21 fast hoffnungslose Krankheitsbilder. Aber unsere Entscheidung stand ziemlich schnell fest. Nein, wir machen das nicht. Keine Nackenfaltenmessung. Was soll sie bringen? Nur Angst und Sorge. Nur Wahrscheinlichkeiten, die uns ausgerechnet werden. Klarheit hätten wir erst mit einer Fruchtwasserentnahme. Aber die Gefahr dadurch verfrühte Wehen zu bekommen und damit eine Fehlgeburt zu riskieren, war uns zu hoch. Nein, wir waren uns sicher: Auch ein krankes, behindertes Kind werden wir lieben und annehmen. Und außerdem, die Wahrscheinlichkeit, dass uns eine dieser Trisomien trifft, war so verschwindend gering. Wieso sollten gerade WIR in diese Gruppe der unfassbar unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten fallen? 1:2000, 1:30.000. Als ob WIR und unser Kind diese eine Zahl sind, unter diesen Wahrscheinlichkeiten. Nein. Wir nicht. Unser Gefühl sagte uns: Das wird uns nicht passieren. Unser Kind wird gesund. Man glaubt einfach an das Gute. Zumindest war es bei uns so.
Und jetzt stehen wir da und sind diese eine Zahl unter vielen. Sind diese unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit. In der 22. Woche ist sie wahr geworden und jetzt wir fragen uns: Hätte es was geändert, hätten wir diese Nackenfaltenmessung doch gemacht? Wahrscheinlich – und schon wieder dieses Wort – nicht. Nein, keine Untersuchung hätte etwas geändert. Wir hätten auch bei einem negativen Ergebnis nicht abgetrieben, glauben wir. Wir hätten weiterhin das Beste gehofft. Es hätte nichts geändert… Nicht damals und auch heute tut es das nicht. Es ist sinnlos sich zu fragen, was wäre gewesen, wenn. Oder „Warum wir?“. Vielmehr quält mich die Frage: „Wie soll es weitergehen? Was sollen wir jetzt tun?“
Nur in meinem Bauch geht es unserer Tochter gut. Nur dort ist Hedi lebensfähig. Sie hat keine Ahnung von ihrem Schicksal. In meinem Bauch ist ihre Welt in Ordnung. Für sie ist alles so wie es ist richtig! Sie weiß nichts von dem, was sie draußen erwartet. In mir ist die Kleine sorglos, schmerzfrei, ja wahrscheinlich sogar glücklich. Sie strampelt und bewegt sich. Jeden Tag spüre ich sie. Seit der 18. Woche. Bei jeder Untersuchung haben die Ärzte gesagt: „Was für ein aktives Kind!“.
„Oh man“, haben wir gedacht. „Die kommt nach mir, immer in Action. Was werden das für schlaflose Nächte!?“ Und ich hätte jede einzelne davon geliebt. Mich auf den kleinen, schreienden Hosenscheißer gefreut, dessen Windeln ich jetzt nie wechseln werde.
Und trotzdem: Ich bin stolz auf unsere kleine Kämpferin. Mit ihrer Aktivität zeigt Hedi uns jeden Tag: „Hey, ich zeige der Natur und dieser scheiß Krankheit den Stinkefinger“. Denn eigentlich zeigen Kinder mit Trisomie 18 schon im Bauch kaum Kindsbewegungen, heißt es. Nicht unsere Tochter. Die kleine Kämpferin versucht es ernsthaft mit dieser Krankheit aufnehmen. Wenn sie überhaupt ahnt, dass sie krank ist. Ich bin stolz auf sie und gleichzeitig zerreißt es mir das Herz, dass sie ihren Kampf verlieren wird.
Ich heule hemmungslos.