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Die Göttin: Helena

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Neben Penelope haben auch andere Figuren des antiken Mythos neue Biografinnen: Christa Wolf hat Kassandra und Medea in ihren gleichnamigen Romanen schon vor einigen Jahrzehnten aus weiblicher Perspektive erzählt. 2020 hat Sabine Scholl eine weibliche Figur namens O. auf eine Odyssee geschickt – O. lautet auch der Titel ihres Romans –, und Madeline Miller hat 2018 die Perspektive der Zauberin Kirke eingenommen. Natalie Haynes erzählt in ihrem Roman A Thousand Ships konsequent die Geschichten der trojanischen Frauen, Pat Barker in The Silence of the Girls die der griechischen Beutefrauen. Beide Romane stammen aus dem Jahr 2019. Traditionell aber mangelt es an solchen Perspektiven empfindlich, mit der Folge, dass weibliche Protagonisten in ihren Möglichkeiten konsequent vernachlässigt worden sind.

Ein besonders drastisches Beispiel dafür stellt Christopher Marlowes 1592 erschienene Tragödie Doctor Faustus dar. Hier wird die schöne Helena vom Titelhelden aus der Unterwelt heraufbeschworen; sie ist es, die Faustus am Ende ins Verderben zieht und ihm die Seele aussaugt. Helenas Rolle ist also eigentlich nicht unwichtig; in einer Verfilmung von Marlowes Stück von 1967 wird sie denn auch von dem damaligen Superstar Elizabeth Taylor verkörpert. Trotzdem hat Helena keine einzige Textzeile. Sie ist gleichermaßen Trophäe, satanische Präsenz und Inspiration zu Heldentaten. Jedenfalls ist sie keine Figur mit eigenen Emotionen, deren Perspektive irgendjemanden interessiert.

In den antiken Darstellungen der Helena verhält sich dies erstaunlich anders. Zwar ist Helena in ihrer Geschichte eigentlich der ultimative ‚MacGuffin‘ – immerhin löst sie den Trojanischen Krieg aus, vielleicht das prominenteste Ereignis der griechisch-römischen Mythologie. Helena, Gattin des Menelaos, ist die schönste Frau der Welt, und die Göttin Venus / Aphrodite hat sie dem trojanischen Thronfolger Paris als Belohnung zugedacht, ein erstrebenswertes Gut, das er noch nie gesehen hat und dennoch heiß begehrt. Nachdem Paris Helena nach Troja entführt hat, bricht Krieg aus: Alle griechischen Fürsten ziehen gegen Troja, um die Ehre von Helenas Ehemann Menelaos zu retten, was mit Helena als Person wiederum wenig zu tun hat. Wer ist diese Frau? Welche Persönlichkeit steckt hinter ihrer schönen Gestalt? Es überrascht, wie differenziert sich die antiken Darstellungen hier zeigen und wie wenig davon sich in der Rezeption erhalten hat – man denke an ihre dämonische Präsenz ohne Persönlichkeit bei Marlowe.

Über die Figur der Helena ist viel geschrieben worden.14 Tatsächlich kommt sie auch in der antiken Literatur sehr oft vor, öfter und prominenter als Briseis und Penelope. Homer porträtiert sie in beiden Epen als überdurchschnittlich intelligente, findige und selbstreflektierte Frau; sie spielt in der griechischen Lyrik eine Rolle, wo sie von dem Kriegerpoeten Alkaios als Ursache für viele Heldentode geschmäht und von der Dichterin Sappho als Identifikationsfigur besungen wird – einer der ganz seltenen Fälle einer antiken weiblichen Perspektive.15 Helena schreitet durch die griechische Tragödie16 und dient den sophistischen Rednern als Exemplum;17 der hellenistische Dichter Theokrit schreibt ihr ein Hochzeitslied.18 Auch die lateinische Literatur arbeitet sich an Helena ab: Bei Vergil ist sie die monströse Rachegottheit, die den Krieg gebracht hat, bei Ovid eine geschickt kalkulierende, kokette Gesellschaftsdame, bei Seneca leidende Sklavin von Göttern und Männern.19

Alle diese Stimmen entwerfen die Figur immer wieder neu. Viele fragen, ob sie freiwillig nach Troja gegangen ist oder zu welchem Grad sie am Ausbruch des Krieges schuld ist. Die erstaunlichste Situation des Erzählens jedoch ist nicht die eines männlichen Autors oder einer weiblichen Dichterin: Es ist die von Helena selbst. Helena, so zeigt sich in einer antiken Legende, hat selbst ‚agency‘, ‚Selbstbestimmung‘: Sie ist in der Lage, ihr Narrativ bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Das liegt daran, dass sie in der Antike nicht nur als literarische Figur gesehen wurde, sondern auch als Halbgöttin mit übernatürlicher Präsenz. Dadurch ist Helena nicht nur eine fiktive Figur, sondern sie übt auch selbst Einfluss auf das Handeln von Menschen aus, die an ihre göttliche Macht glauben.

Bei dieser Ausnahmetradition handelt es sich um die Geschichte der sogenannten ägyptischen Helena. Hier wird die Normversion des Mythos, nach der Helena als Ehebrecherin nach Troja geht und damit den Krieg auslöst, vollkommen auf den Kopf gestellt: Helena war nie in Troja, sie hat die Ehe nicht gebrochen, sie hat keine Schuld am Krieg. Das plakativste Beispiel für diese Tradition ist die Legende über den frühgriechischen Dichter Stesichoros, der sich gezwungen sah, seine Schmähung der Helena zu widerrufen. Seine eigenen Gedichte, in denen er Helena beleidigt hatte, sind nicht erhalten; wir hören durch andere Texte von ihnen, zum Beispiel durch Platons Phaidros. Darin heißt es, Stesichoros habe Helena mit der Ehebruch-Geschichte beleidigt und sei daraufhin blind geworden. Zum Glück wusste er, was zu tun war – anders als Homer: „Er war nicht unwissend wie Homer, sondern da er musisch war, erkannte er die Ursache, und sofort dichtete er Folgendes: ‚Diese Geschichte ist nicht wahr. / Du bist nicht in gutverdeckten Schiffen weggefahren, / Du bist nicht ins trojanische Pergamon gekommen.‘ Und als er die ganze sogenannte Palinodie gedichtet hatte, konnte er sofort wieder sehen.“20 Stesichoros behauptet also einfach das Gegenteil von seiner ersten Erzählung: In einem Gegengedicht, einer Palinodie, bestreitet er jede Schuld der Helena. Seine Strafe wird dadurch aufgehoben.

Die Variante, nach der Helena nie in Troja gewesen war, wurde von anderen antiken Dichtern fortgesponnen und ausgeschmückt. Euripides geht in seiner gleichnamigen Tragödie davon aus, dass Helena von den Göttern nach Ägypten gebracht wurde. In Troja wurde nur ein Luftbild umkämpft, ein eídolon. Auch der griechische Geschichtsschreiber Herodot neigt zu dieser Ansicht: Natürlich war Helena in Ägypten. Wäre sie tatsächlich in Troja gewesen, hätten die Stadtbewohner sie doch wohl ausgeliefert.21

In dem Dichterstreit um die ägyptische oder eben die trojanische Helena kommt der Heldin selbst eine entscheidende Rolle zu. Stesichoros verstand, mit wem er sich angelegt hatte, und schrieb seine Palinodien, in denen er Helena von aller Schuld freisprach. Damit steht er im Gegensatz zu Homer, dem das Augenlicht dauerhaft genommen wurde. Aber selbst bei Homer hat Helena auktoriale Gewalt über ihre Geschichte. In der Ilias heißt es, dass sie „an einem großen Webstuhl doppelt gefalteten Purpur webte; und sie fügte die vielen Kämpfe ein, die der pferdezähmenden Troer und der erzgepanzerten Griechen, die sie ihretwegen erlitten unter den Händen des [Kriegsgottes] Ares“.22 Das Weben ist eine verbreitete Metapher für Dichtung; entsprechend ist an dieser Stelle die Analogisierung des Ilias-Dichters mit der Figur der Helena seit der Antike aufgefallen. Eine alte Anmerkung vermeldet gar, Helenas Tuch sei überhaupt der Ursprung der Geschichte und Homer habe seine Erzählung davon abgeschrieben.23 Diese Behauptung ist wahrscheinlich nicht mehr als ein pointierter literarischer Witz. Klar ist aber, dass Helena in der Webesituation eigenmächtig genau diejenigen Ereignisse darstellt, von denen die Ilias erzählt. Aber ihre Erzählerinnen-Rolle in Homers Epen geht noch weiter: Als Helena im dritten Gesang auf den Zinnen Trojas steht, König Priamos die griechischen Helden zeigt und ihre Geschichten erzählt, wird sie erneut zur Autorin. Ähnliches gilt für den vierten Gesang der Odyssee, in dem Helena dem Telemachos ihre eigene Version der Ereignisse schildert und dabei ein Bild von sich kolportiert, das deutlich positiv von dem ihres Gatten Menelaos abweicht. Helena ist also auch bei Homer häufig Co-Autorin ihrer eigenen Geschichte und greift wie keine andere Figur in ihre Tradition ein. Auch Achilleus arbeitet aktiv und bewusst an seinem kléos mit, seinem Nachruhm, und ebenso erfindet Odysseus sich in immer neuen, lügnerischen Autobiografien ständig selbst neu. Aber Helena blendet den Dichter, der sie schmäht, und stickt die Geschichte, die Homer als Vorbild dient – sie überschreitet also klar die Fiktionsgrenze von der Erzählung zur Erzählenden.

Dass Helena zu dieser Grenzüberschreitung fähig ist, ist in der klassisch-philologischen Forschung vielfach festgestellt worden. Vielleicht erklärt sich Helenas literarische Schwellenexistenz durch ihren religiösen Status. Helena ist keine rein literarische Figur, sondern eine kultisch verehrte Heroin mit Heiligtümern in Sparta und an anderen Orten; folglich ist ihre Stellung gegenüber den Texten nicht mit derjenigen einer modernen Romanprotagonistin zu vergleichen, sondern eher mit Situationen göttlicher Aufträge, man denke etwa an die Aufforderung der Jungfrau Maria an den Evangelisten Lukas, sie zu porträtieren, oder an die Offenbarung des Johannes, der von Gott persönlich zur Berichterstattung aufgefordert wird.

Die Vergleiche erscheinen vielleicht etwas gesucht, sind aber nicht abwegig innerhalb des antiken Literaturkosmos, wo Kunstproduktion immer von der Gunst inspirierender Gottheiten abhängt. Gerade die Verbindung der Helena zu den Musen ist immer wieder konstatiert worden; gemeinsam ist den Zeus-Töchtern ihr überlegenes Wissen und die Verantwortung für kléos, „Nachruhm“.24

Auch sonst zeigt der Helena-Kult Hinweise auf eine ungewöhnliche Flexibilität der Figur: Sie zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit verschiedener, sich eigentlich gegenseitig ausschließender Identitäten aus. Von Anfang an ist Helena eine Wanderin zwischen Welten, ein Doppelwesen: Sie hat zwei Identitäten, eine rein göttliche als Tochter von Zeus und Nemesis, eine halb menschliche, wenn ihre Mutter die sterbliche Leda ist. Die Heroin Helena hat verschiedene kultische Funktionen, vor allem aber scheint sie in Sparta als Patronin der Initiation junger Mädchen angesehen worden zu sein: In verschiedenen Texten wird Helena dargestellt, wie sie Chöre junger Spartanerinnen anführt.25 Eine antike Anekdote berichtet auch, wie ein hässliches kleines Mädchen durch einen Besuch in Helenas spartanischem Heiligtum von seiner Unansehnlichkeit geheilt wird und zur schönsten Frau in Sparta heranwächst: Helena hat ihr zu dieser Verwandlung verholfen.26 Die Heroin ist zuständig für den Übergang; sie ist immer gleichzeitig Mädchen und Frau, sie steht Aphrodite nahe, wird aber von Homer auch mit der jungfräulichen Artemis verglichen. Helena ist zutiefst ambivalent; sie lässt sich nicht festnageln, sondern entwickelt Handlungsmacht.

Die abgetrennte Zunge

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