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Einleitung
Was ist bloß mit dem Feminismus los?

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Diese Frage dürfte sich der Dichter Eugen Gomringer gestellt haben, als Studierende der Berliner Alice Salomon Hochschule 2017 forderten, sein Gedicht Avenidas von der Fassade zu entfernen, da es eine „klassische patriarchale Kunsttradition“ repräsentiere. Gomringer selbst betrachtet sein Werk als „eines der bedeutendsten Gedichte der modernen Lyrik“.1

Diese Frage dürfte sich die Schauspielerin Catherine Deneuve gestellt haben, die 2018 gemeinsam mit etwa hundert anderen Frauen einen Gastbeitrag in der Zeitung Le Monde unterschrieb. Verteidigt wurde darin die „Freiheit, jemandem lästig zu werden“, die in einer „Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen“ unterzugehen drohte.2

Diese Frage dürfte sich Joanne K. Rowling stellen, die sich gegen eine Negierung des biologischen Geschlechts wehrt. Rowling sieht Schutzräume von Frauen durch Transfrauen bedroht. Ihre Position wird massiv angefeindet, weil es vielen Menschen wenig sinnvoll erscheint, eine diskriminierte Gruppe – Frauen – gegen eine andere, noch stärker diskriminierte – nicht-binäre Menschen – zu verteidigen.3

Ja, was ist los mit dem Feminismus? Frauen haben in den meisten Ländern das Wahlrecht und werden in Deutschland sogar Bundeskanzlerin. Das ist doch ein ganz schöner Erfolg im Vergleich zu den letzten Jahrtausenden. Was hat es auf sich mit den immer hitzigeren Diskussionen der letzten Jahre?

Begonnen hat die Lawine der sich überschlagenden Ereignisse wahrscheinlich mit der medialen Explosion der #metoo-Bewegung. Im Oktober 2017 schlug die Schauspielerin Alyssa Milano vor, Opfer sexueller Belästigung sollten sich unter dem Hashtag #metoo zu ihren Erlebnissen bekennen, um die Dimension des Problems deutlich zu machen. Allein auf Facebook verwendeten innerhalb der ersten 24 Stunden nach Milanos Tweet über zwölf Millionen Postings diesen Hashtag. Seitdem ist die Debatte nicht abgerissen, aber der Strom hat sich verbreitert. Längst geht es nicht mehr nur um konkrete Fälle von sexueller Belästigung, sondern auch um genderbedingte Machtstrukturen in allen möglichen Kontexten. Etablierte Inhalte in allen möglichen Diskursen – Literatur, Kunst, Film, Alltagssprache – werden plötzlich anders wahrgenommen: Fragen von Autorschaft, von narrativen Dominanzen, von Komik oder Harmlosigkeit werden nun neu gestellt.

Der Fall Rowling ist doppelt aussagekräftig: Er zeugt vom Unverständnis vieler Menschen für immer neue Entwicklungen im Bereich der Gender-Diskurse und offenbart die Radikalität, mit der diese Diskussionen geführt werden. Mit Rowlings Harry Potter-Büchern ist eine ganze Generation aufgewachsen, die sogenannten Millenials. Jahrelang wurde die Geschichte des jungen Zauberers euphorisch gefeiert: Kinder setzen sich gegen das Böse durch, eine Weltordnung der Intoleranz und Gewalt scheitert gegen ein friedliches Miteinander. 2020 folgte dann der Sündenfall. Es ist immer weniger zu übersehen, wie sich die Autorin als Gegnerin transsexueller Menschen positioniert – explizit auf Twitter, implizit im Porträt eines transsexuellen Killers in ihrem neuesten Roman Troubled Blood (Böses Blut), den sie unter dem Pseudonym Robert Galbraith publizierte. Diesen Namen trug ein Konversionstherapeut des 20. Jahrhunderts, also ein Psychiater, der Homosexualität ‚heilen‘ wollte. Die Generation der Millenials, die ihre Kindheit und Jugend in Harry Potters wundersamem Zauber-Universum verbracht hatte, sieht sich aus dem Paradies vertrieben. Bei einem erneuten Lesen der Harry Potter-Romane zeigt sich zwar keine explizite Transfeindlichkeit, dafür aber ein immenser Mangel an Diversität: Der Held, Harry Potter, ist männlich, seine viel klügere Freundin Hermine ist nur Nebendarstellerin, die erzählte Welt ist überwiegend weiß und heteronormativ.

Was tun mit Harry Potter? Durch die sozialen Netzwerke geistern verschiedene Statements ehemaliger Fans: Die einen propagieren den ‚Tod des Autors‘. Sie wollen ihre Geschichten behalten und die problematische Figur Rowling ausblenden. Die anderen sind der Meinung, man dürfe die Harry Potter-Bücher nun nicht mehr lesen. Natürlich beschränkt sich diese Fragestellung nicht auf das Werk von J. K. Rowling. Sie erstreckt sich auf den größeren Teil dessen, was gemeinhin als ‚abendländische‘ Kultur bezeichnet wird: Was tun mit all den Büchern, Filmen, Songs und Opern, die männliche Helden feiern, männliche Probleme wälzen? Die nicht-männlichen Perspektiven ausblenden oder negieren, bis hin zur Normalisierung von sexueller Gewalt?

Es ist weder möglich noch wünschenswert, die Tradition abzuschaffen. Auch wenn eine Öffnung der Gesellschaft zugunsten marginalisierter Stimmen nur positiv gewertet werden kann, bedeutet das nicht, dass wir uns von den vergangenen Jahrtausenden einfach so lösen werden. Auch im Jahr 2021 existiert keine egalitäre Gesellschaft. Warum das so ist, wird klar, sobald man einen Blick auf die Kulturgeschichte wirft. Unsere Welt war über Jahrtausende dominiert von männlichen Eliten, in den letzten Jahrhunderten von weißen männlichen Eliten. Dies betrifft alle Sphären des Öffentlichen und Privaten: Männer förderten, produzierten und kritisierten Kunst und Kultur, Männer forschten über Inhalte, die für sie selbst interessant waren, Männer studierten männliche Körper, ihre Krankheiten und Heilungen, Männer führten ein männliches Stimmvolk an und repräsentierten dessen Interessen.

Sicherlich ist davon heute einiges obsolet. Der Feminismus ist nicht erst 2017 erfunden worden, ebenso wenig wie postkoloniale Strömungen, die anderen als europäischstämmigen Stimmen Gehör verleihen wollen. Aber die Fronten haben sich verhärtet. Der Ruf nach Diversität wird lauter und radikaler. Gleichzeitig erstehen auf der ganzen Welt neurechte Bewegungen.

Dieses Buch will einen Bogen zu den oft beschworenen antiken Wurzeln unserer Kultur schlagen. Es ist kein versöhnlicher Bogen. Die Antike wird gern als Wiege vieler schöner Dinge gelobt: Die Griechen, so weiß man, erfanden die Demokratie, die Philosophie und das Theater, die Römer bauten Straßen, die wir heute noch befahren, hielten ein phänomenal organisiertes Weltreich am Laufen und beeinflussen Europa bis heute in allen möglichen Bereichen, sei es Sprache oder Rechtsprechung. Aber die Antike ist auch die Wiege des Patriarchats, der Misogynie und Gewalt. Hier zeigen sich bisweilen erstaunliche Parallelen zu heutigen Phänomenen. Gleichzeitig weist die frühe patriarchale Welt der Antike auch so manche Brüche auf.

Das zeigt sich gleich in meinem ersten Kapitel: „Erzählte Frauen“. Einerseits ist die männliche Dominanz im antiken Erzählen ein offensichtliches Faktum: So sind die homerischen Figuren Briseis und Penelope praktisch ausschließlich über die Beziehungen zu ihren Männern definiert. Gleichzeitig setzen sich teilweise andere Stimmen durch, weil die Figuren eben nicht ausschließlich von Männern geschrieben sind, sondern auch Teil einer Mythenkultur, die sich fragmentarisch auch über Volkserzählungen oder bildliche Darstellungen konstituierte. Das 21. Jahrhundert muss nur zugreifen: Penelope und Briseis können auch ganz anders erzählt werden, wenn eine Margaret Atwood oder der Streaming-Service Netflix die Sache in die Hand nimmt. Aber auch in den antiken Bearbeitungen wird der männlichen Erzähler-Autorität bisweilen das Heft aus der Hand genommen. Die Figur der Helena entzieht sich ihren männlichen Biografen durch ihre kultische Stellung: Der Legende zufolge nimmt die Halbgöttin Einfluss auf die Erzählungen, die über sie kursieren.

Wenn Frauen nicht nur erzählt werden, sondern auch klassifiziert und eingeordnet, zeigt sich eine klarere männliche Zielsetzung – aber auch diese wird, je nachdem, durchbrochen. Wagen sich Frauen in die Politik, also in eine klar männlich konnotierte Sphäre, endet das nicht gut. Hier gibt es aber verschiedene Möglichkeiten: Der mythischen Figur der Antigone wird ihr Ausflug in die Männerwelt des Staates zwar zum Verhängnis. Ihr Gegner Kreon jedoch endet ebenso elend: Auch sein Versuch, weibliche und männliche Sphären gewaltsam zu trennen, kann nicht funktionieren. Einseitiger ist die Darstellung einer nicht-fiktiven weiblichen Figur, die in männliche Dominanzsphären eindringt: Die ägyptische Königin Kleopatra wird vom Chor der antiken Geschichtsschreiber ziemlich konsequent und verächtlich als unnatürlich porträtiert. An dieser Zeichnung politisch aktiver Frauen hat sich leider bis heute nicht viel geändert.

Frauen gehören in der Vorstellungswelt antiker Texte nicht in die Öffentlichkeit. Aber auch im Privaten können sie Fehler begehen. Verlieren sie ihren pudor, also ihre weibliche Ehre, so haben sie damit auch ihr Existenzrecht verwirkt. Es gibt einige Figuren in antiken Erzählungen, die nicht abwarten, bis ihre Familie ihnen eine standesgemäße Ehe arrangiert, und sich stattdessen ihren Angebeteten nähern. Diese Figuren werden fast ausnahmslos ins Elend gestoßen. Im Kapitel über das Schicksal der Verlassenen zeichne ich das an den Beispielen Dido und Medea nach. Es gäbe genügend andere, etwa Ariadne, die von ihrem Geliebten Theseus auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird, oder Skylla, die Minos hilft, ihren Vater Ninos zu besiegen, und die daraufhin von dem jungen Helden ertränkt wird. Dido und Medea haben aber gemeinsam, dass sie von ihren männlichen Biografen beeindruckend empathisch dargestellt werden: Vergil und Euripides referieren das Unglück der verlassenen Frauen voller Mitleid – ohne diese Realitäten des Frauenlebens jedoch infrage zu stellen.

Ähnlich empathisch erzählt und gleichzeitig enorm schockierend sind die Geschichten von Frauen, die nach einer Vergewaltigung zum Schweigen gebracht werden, von denen wir etwa bei Ovid lesen. Gerade angesichts heutiger Dunkelziffern im Bereich von Sexualstraftaten wirken die antiken Erzählungen besonders frustrierend: Herausgeschnittene Zungen oder veränderte Gestalten hindern die Opfer am Sprechen. Das sind Bilder, die nach wie vor sehr berühren: Die Unfähigkeit, über das erlebte Leid zu sprechen, ist bis heute Thema, auch wenn die #metoo-Bewegung diesbezüglich einiges erreicht hat. Die Tradition dieses Schweigens, symbolisiert von Philomelas abgetrennter Zunge, gibt diesem Buch seinen Titel.

Ein Meilenstein, der an sich schon Geschichte ist, besteht in der Kriminalisierung der Vergewaltigung in der Ehe, die der deutsche Bundestag im Jahr 1997 beschloss. Es ist heute kaum mehr begreiflich, dass eine Gewalttat durch die Legalisierung eines Liebesverhältnisses entschuldigt werden konnte. Aber auch hier ist es zu einfach, sich auf dem erreichten Status quo auszuruhen. Die Ehe als Besitzverhältnis mit der Frau als Objekt ist nicht einfach eine heutzutage eliminierte, altertümliche Auffassung, sondern die eigentliche, Jahrtausende alte Definition der Institution Ehe. Ein Blick in die römische Komödie zeigt, wie tief verwurzelt diese Perspektive in unserer Kultur ist: Hat eine Vergewaltigung stattgefunden, kann das Unrecht durch Legalisierung des Verhältnisses wiedergutgemacht werden, so die Pointe fast aller erhaltenen Komödien des Dichters Terenz. Juristische Faktoren eliminieren emotionale: Wo Recht herrscht, kann es keine Opfer geben. Wir sind heute weiter als 1997, aber das quantitative Verhältnis zwischen dem kurzen Zeitraum der letzten 23 Jahre und den vorangegangenen Jahrtausenden ist aussagekräftig genug. Das Erreichte darf auch heute nicht als selbstverständlich gelten, zu tief ist die Prägung durch eine uralte Tradition.

In der zweiten Hälfte dieses Buches wende ich mich der männlichen Perspektive zu, beginnend mit der Frage nach männlichen Opfern. Die griechische Päderastie ist nach wie vor ein Dauerbrenner in vielen populären und wissenschaftlichen Diskursen über die Antike. Waren die alten Griechen tatsächlich alle pädophil? Wie gehen wir heute damit um? Auch diese Fragen sind heute brisanter geworden, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Konnten die Übergriffe an der berüchtigten Odenwaldschule noch bis Ende des letzten Jahrtausends über einen diffus antikisierenden ‚pädagogischen Eros‘ legitimiert werden, so haben im heutigen Klima Forschende, die antike päderastische Praktiken rechtfertigen wollen, drastische Konsequenzen zu befürchten.

Auf der anderen Seite existieren heute auch reaktionäre Narrative, die sich überraschend deutlich in Traditionen einreihen, die seit der Antike kursieren. So hat die selbstmitleidige Perspektive der sogenannten Incels, unfreiwillig zölibatärer junger Männer, die sich von der Frauenwelt zurückgestoßen fühlen und darauf mit Hass und Aggression reagieren, viel mit den Haltungen zu tun, die sich in der antiken Liebeselegie manifestieren. Dies erstaunt vor allem deswegen, weil die Liebeselegie traditionell als Ausdruck einer eher sanften Männlichkeit wahrgenommen wurde, die in starkem Gegensatz zur antiken römischen Machokultur steht. Tatsächlich zeigt sich in den Liebesgedichten jedoch eine tiefe Misogynie, die viel mit männlichen Ansprüchen und sehr wenig mit weiblicher Selbstbestimmung zu tun hat. Gleichzeitig lassen sich Zusammenhänge mit gegenwärtigen Vorstellungen von Romantik erkennen: Die Liebe wird in Hollywood zum Teil bis heute als hart erkämpfte Trophäe des Tapferen inszeniert, oder gar als Siegespreis im Kampf der Geschlechter.

Auffällige Konstanten zeigen sich auch in Texten, die ich in Ermangelung einer besseren Vokabel als ‚mackerhafte Selbstinszenierung‘ bezeichnen würde. Wenn der antike Dichter Catull seine Rivalen wüst beschimpft oder ihnen sexuelle Gewalt androht, wenn er Frauen, von denen er sich zurückgewiesen fühlt, auf groteske Art und Weise beleidigt, so spiegelt sich das in aktuellen Hip-Hop-Texten wider: Bis in den Wortlaut gleichen sich die Formulierungen antiker und zeitgenössischer Polemik, wobei die heutigen Texter die antiken Vorlagen vermutlich nicht einmal kennen. Die Klischees bleiben die gleichen, fern jeder bewussten Intertextualität.

Ganz besonders virulent ist dies bei einem Sonderfall der Beleidigung, der Inhalt meines letzten Beitrags ist: Alte oder hässliche Frauen, die womöglich sogar sexuell aktiv sind, werden in der Antike als groteske Scheusale wahrgenommen und hemmungslos beschimpft, nicht anders als heute. Hier sind wir an einem Punkt, wo das Stereotyp von der grausamen Antike und der aufgeklärten Gegenwart nicht mehr greift. Gerade im Zeitalter der sozialen Medien dürfen wir uns von einem antiken Dichter wie Horaz einen Spiegel vorhalten lassen, was Grausamkeit und Hohn gegenüber äußerlich weniger Begünstigten angeht.

Ein klarer Blick auf diese Beispiele lohnt sich: Der Satz von der Zukunft, die Herkunft braucht, kann sich eben nicht nur auf unsere zivilisatorischen Errungenschaften beziehen, sondern muss auch die Faktoren miteinbeziehen, die uns heute Bauchschmerzen bereiten. Eine Rezeptionshaltung, die nicht klassizistisch-idealisierend ist, hilft bei der Erkenntnis, dass männliche Dominanz unsere kulturelle DNA seit Jahrtausenden prägt, inklusive Sexismus, Misogynie und sexueller Gewalt. Sich dieser Tatsache zu stellen, kann zu einem realistischeren, auch zu einem kreativeren Umgang mit unseren Traditionen führen.

Leider ist dies bisher zu wenig geschehen. Zwar haben die Gender Studies auch die Klassische Philologie längst erreicht und stellen innerhalb der Alten Sprachen mittlerweile ein ge- und beachtetes Forschungsfeld dar. Meist beschränkt sich die Diskussion aber auf rein akademische Kreise. Immerhin finden sich hier Auseinandersetzungen auch mit ganz zeitgenössischen Problemen. Melanie Möllers 2020 erschienener Sammelband Gegen / Gewalt / Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption beleuchtet den lateinischen Autor aus einer sehr gegenwärtigen Perspektive und thematisiert auch die Probleme eines heutigen Publikums mit den antiken Texten. Auch in den USA gibt es Beispiele für diese offene Konfrontation der antiken Traditionen mit modernen Problemen. Schon 2004 publizierte Madeleine Kahn, eine Dozentin für Vergleichende Literaturwissenschaft am Mills College in Oakland, Kalifornien, einen Lehrbericht, in dem sie offenlegte, wie schockiert sich ihre Studierenden über die sexuelle Gewalt in Ovids Metamorphosen zeigten – wie aber auch gerade dieser Schockeffekt eine äußerst produktive Diskussion anregte.4

Auch die klassische Philologin Rosanna Lauriola von der Universität Idaho schilderte bereits 2013 eine fruchtbare Unterrichtseinheit, ebenfalls in Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema Vergewaltigung.5 Sie widmete sich der Geschichte der Lucretia in den Versionen verschiedener antiker Autoren. Diese Geschichte bietet viel Zündstoff für Diskussionen heutiger Studierender: Lucretia wird vergewaltigt und begeht Selbstmord, um ihre Ehre zu bewahren. Im ersten Teil des Kurses las Lauriola die lateinischen Texte mit einer Gruppe Studierender der klassischen Philologie und man recherchierte antike Vorstellungen von sexueller Gewalt im ethischen, sozialen und juristischen Bereich. Den zweiten Teil öffnete Lauriola für Studierende anderer Fachrichtungen zu einer Art Podiumsdiskussion: Die Studierenden der klassischen Philologie berichteten von den gelesenen Texten und den Diskussionen innerhalb ihrer Gruppe; andere Studierende fragten nach und ergänzten. Die Lektüre wurde so zu einer Art Debattierforum: Die antike Erzählung wurde aktualisiert und einem breiten Publikum vermittelt. Zeitgenössische Perspektiven auf das Thema der Vergewaltigung konnten so in eine Diskurstradition eingeordnet werden, die sich bereits in jahrtausendealten Texten findet.

Positiv ist auch das Fazit von Sara Hale und Arum Park, klassischen Philologinnen an der Universität Arizona.6 Sie haben sich mit dem Raub der Sabinerinnen auseinandergesetzt, der mythischen Erzählung über die ebenso pragmatische wie gewaltvolle Lösung der Ur-Römer für ihr Problem des Frauenmangels.

In einer allzu distanzierten Haltung gegenüber den antiken Texten sieht Sara Hale zu Recht ein Problem: Beim Umgang mit problematischen Inhalten antiker Texte beruft man sich gern auf seine kulturelle Überlegenheit und ignoriert problematische Faktoren in der heutigen Welt. „Wir gehen davon aus, dass wir ‚besser‘ sind, aufgeklärter als die alten Römer“, so Hale. „Diese Auffassung trübt unser Verständnis dieser Texte. Folglich werden die mythologisierten Akte sexueller Gewalt und der darin enthaltene wahre Kern der Erfahrungen römischer Frauen als unglücklicher Nebeneffekt einer Kultur vermittelt, die Frauen als Besitz ansah. Wir sagen uns, dass Frauen in der Antike sexuelle Gewalt leider regelmäßig erleben mussten und dass das einfach eine Realität ist, die wir anerkennen müssen. […] Aber ich bin es müde, diese Version der Geschichte zu erzählen. Ich bin nicht länger in der Lage, diese Geschichte zu erzählen, mitten in einer kulturellen Abrechnung, die den Vorhang vor unserer kollektiven Schande beiseitezieht, die zeigt, dass wir gar nicht so viel aufgeklärter als die Römer sind, wie wir dachten.“7

Dass Sara Hale der Position der moralischen Überlegenheit gegenüber ‚der Antike‘ überdrüssig ist, ist nachvollziehbar. In einer Zeit, in der sexuelle Gewalt in unserer eigenen Gesellschaft als mediales Thema derart präsent ist, funktioniert diese Abgrenzung von einer ‚primitiven Vorzeit‘ nicht mehr. Hale entscheidet sich, die Geschichte der Sabinerinnen einmal anders zu lesen und den Fokus auf die Stärke der sabinischen Frauen zu richten, die ihr schreckliches Schicksal schließlich überwinden und Frieden zwischen Römern und Sabinern stiften.

Als Lehrerin für Latein und Griechisch habe ich jahrelang immer wieder ein spannendes Experiment beobachten dürfen: Was passiert, wenn man zeitgenössische Pubertierende ohne großes Vorwissen an antike Inhalte heranführt? Erst einmal nicht viel; zu beschäftigt sind die Jugendlichen mit dem Entziffern der lateinischen und griechischen Texte. Das macht es übrigens sehr leicht, unbequeme Inhalte einfach zu ignorieren: Sie gehen beim Übersetzen verloren, verschwinden im Nebel des Unverständnisses. Ich selbst habe als Schülerin jahrelang lateinische Texte übersetzt, ohne den leisesten Schimmer von deren Inhalten zu haben, und viele berichten aus ihrem altsprachlichen Unterricht Ähnliches. Ist diese Hürde jedoch einmal überwunden, sei es durch genügend Zeit im Unterricht, sei es durch die Zuhilfenahme von Übersetzungen, zeigt sich bei den Lernenden oft blankes Erstaunen: Steht in diesem Text wirklich das, was ich glaube?

Die #metoo-Bewegung muss nicht zu Zensur und Prüderie führen. Stattdessen kann sie neue Lesarten ermöglichen, die antiken Texten auf neue und ehrliche Art gerecht werden. Ich habe mich hier auf dieses Abenteuer eingelassen. Ausgewählt habe ich die Texte, die gesellschaftlich am breitesten gewirkt haben und wirken.8 Sicherlich fehlen einige wichtige Beispiele – meine Versäumnisse dürfen gerne als Einladung begriffen werden, Lücken zu füllen und zusätzliche Texte und Phänomene mit einzubeziehen. Bitte verstehen Sie das Buch in diesem Sinne: als Einladung, zeitgenössische Erscheinungen in ihre Traditionen einzuordnen.

Die abgetrennte Zunge

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