Читать книгу Hawks fall in love - Katherine Collins - Страница 5
Kapitel 2
Оглавление
Ein Lager voller Halsabschneider
Johanna sah auf. Sie hasste es. Sie war einfach zu klein und musste ständig zu jedem aufblicken. Man nahm sie einfach nicht ernst. Man verspottete sie und ganz besonders Wulf. Er nannte sie Zwerg oder Bübchen und traktierte sie mit gemeinen Angriffen. So wie gerade eben.
»Auf, Kleiner!«, befahl er hämisch grinsend. »Wir sind noch nicht fertig!«
Johanna rappelte sich auf. »Sam!«, zischte sie. »Ich habe einen Namen, benutzt ihn gefällig!«
Wulf wechselte die Schwerthand. »Schön, Kleiner. Ich sage dir was, wenn du mich schlägst, benutze ich deinen Namen, und damit du eine klitzekleine Chance hast, benutze ich nicht meine starke Hand.«
Johanna schnaubte ärgerlich. Er führte sie vor! Sie hob das Schwert, das viel zu schwer für sie war, und machte sich auf seinen Angriff gefasst. Er hob das Schwert und ließ es mit einem großen Bogen auf sie nieder donnern. Johanna ging in die Knie. Der nächste Hieb lähmte ihren Arm. Sie würde es nie schaffen. Sie war einfach nicht stark genug dafür. Der nächste Schlag zwang sie gnadenlos zu Boden.
»Also bleibt es wohl bei Kleiner!«
Er ließ sie liegen.
»Sam!« Gretchen kam auf sie zu geflogen und warf sich neben ihr auf den Boden. »Bist du verletzt?« Tränen standen in ihren Augen, Angst vibrierte in ihrer Stimme.
Johanna schüttelte den Kopf. »Es geht schon«, murmelte sie, obwohl sie ihren Schwertarm noch nicht wieder spüren konnte. Sie kam auf die Beine und zog Gretchen mit.
»Freut Ihr Euch wieder, weil Ihr einen Knaben besiegt habt?« Hawks Stimme barst vor Amüsement.
»Nun, der Kleine hält sich für einen Mann, soll er doch auch kämpfen wie einer!« Wulf warf einen Blick auf sie und grinste überheblich.
»Seid Ihr noch in einem Stück, Sam?«, fragte der Bandenführer und musterte sie kritisch. Johanna wäre lieber tot umgefallen, als die Wahrheit kundzutun, also log sie: »Mir geht es gut.«
»Sehr gut! Ich habe eine Aufgabe für dich.«
»Eure Hemden nähen, Hawk?«, frotzelte Wulf. »Oder Euer Zelt fegen?«
Johanna biss die Zähne zusammen. Sollte Hawk tatsächlich solche Aufgaben für sie bereithalten, würde er sein blaues Wunder erleben.
»Komm mit, Sam.« Er drehte ihr den Rücken zu, als bezweifelte er ihr Folgen nicht im Geringsten. Johanna drückte Gretchens Hand.
»Ich komme, sobald ich fertig bin«, versprach sie und trottete hinter Hawk her. Sie fragte nicht, was es zu tun gab, sondern folgte dem Anführer der Räuber wortlos.
»Was hältst du von einem Ausritt?«
Johanna stolperte bei der unerwarteten Anrede.
Hawk bedeutete ihr aufzuschließen. »Ich möchte dir etwas zeigen. Komm.«
Johanna folgte ihm zum Gatter, in dem die Pferde der Meute eingepfercht waren. Johanna suchte nach Hektor und fühlte sich gleich etwas besser, als ihr Hengst ihr zur Begrüßung zuwieherte.
Hawk befestigte einen Sack am Sattel seines Reittieres und schwang sich auf dessen Rücken, ohne ihr Hilfe anzubieten. Johanna führte Hektor zum Gatter und schwang sich mit etwas Mühe selbst auf das Pferd. Sie folgte ihm schweigend und warf ihm lediglich hin und wieder einen irritierten Blick zu. Nach gefühlten Stunden bedeutete er ihr leise zu sein und rutschte vom Pferd. Im Nu waren sie umrundet, und Johanna stockte das Herz. Hawk hingegen nickte lediglich zufrieden und übergab die Zügel.
»Komm, Sam«, flüsterte er und schlich los. Sie folgte noch verwirrter als zuvor und duckte sich, als sich die Bäume lichteten und eine breite Straße freigaben, die hinter einigem Gesträuch verborgen gewesen war. Johanna sah den Weg hinab und hätte beinahe erschrocken aufgeschrien, als ihr bewusst wurde, wo sie waren. Whitescorn. Hawk deutete auf die kleine Trutzburg. »Wir müssen dort hinein und die Wachen zählen.« Er sah sie an, und Johanna schüttelte den Kopf.
»Du wirst das übernehmen.«
Johanna klappte der Mund auf. Sie konnte unmöglich in die Burg spazieren und die Wachen zählen! Wenn ihr Vater dort war!
»Keine Sorge, man wird dich nicht erkennen«, missinterpretierte Hawk ihr Erschrecken und grinste sie an, wie es sonst nur Wulf tat. Die eigentliche Schmähung hätte bei dem noch ausgestanden. »Du wirst Brot verkaufen.«
Johanna entließ langsam den angehaltenen Atem. »Mägde verkaufen Brot«, murmelte sie den Kopf schüttelnd. »Ich würde auffallen …«
Hawks Grinsen vertiefte sich. »Wulf hat in dem Punkt nicht unrecht, Sam, man wird dir die Magd abkaufen.«
Johanna fiel die Contenance aus dem Gesicht. »Nein!«, zischte sie und dachte mit Grauen an ihre Enttarnung.
»Na, komm schon, Sam«, lockte Hawk begütigend. »Denk an all die hübschen Mädchen, die sich ohne Scheu mit dir unterhalten werden.«
Johanna verkniff die Lippen. »Mich interessieren keine Mädchen!«, knirschte sie angespannt und setzte dann hintenan: »Außer Gretchen!«
»Fein«, murmelte Hawk, das Amüsement verlierend und mit sich verengenden Augen. »Dann, weil ich es dir befehle!«
Johanna schluckte. Sie hatte Gehorsam geschworen. Um Gretchen und ihr Leben zu bewahren, nicht, um der Bande beitreten zu dürfen. Nichtsdestotrotz blieb ihr keine Wahl, wenn sie überleben wollte. Wenn sie Gretchen beschützen wollte. Sie richtete ihren Blick zurück auf die Trutzburg. Eine Fahne flatterte im Wind. Es war nicht die von Whitescorn, und soweit sie es aus der Entfernung ausmachen konnte, auch nicht die von Knightsbridge, ihrem Vater. Warum wehte eine fremde Fahne auf den Zinnen von Whitescorn?
»Ich verkaufe Brot? Wie soll ich da die Wachen zählen? Ich bin an meinen Stand gebunden. Was ist, wenn man mich erkennt?«, presste sie hervor und wurde mit einem nachdenklichen Blick bedacht.
»Wer sollte dich erkennen?«, fragte Wulf nach.
»Das ist Whitescorn«, offenbarte sie und sah ihn an. »Es mag nicht das Whitescorn-Wappen sein, das gehisst wurde, aber die Burg …«
Wulf betrachtete sie vorsichtig. »Du kennst die Burg?«
Johanna rollte die Augen. »Sie gehört zu Knightsbridge«, gab sie an. »Ich war schon dort.«
»Wie viele Wachen?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Das ist Jahre her, und mich haben die Bewaffneten wahrlich nicht geschert.« Die halbe Wahrheit. Sie wusste, wie viele Mannen die Burg hielten. Sie kannte auch die ungefähre Zahl des Gesindes und den Verbrauch und das Einkommen der Güter, die sie erwirkte. »Du warst Knappe …«, hielt er ihr vor, und Johanna berichtigte umgehend: »Nur ein Laufbursche. Für die Ladys.«
Hawk nickte langsam. »Dann müssen wir das Risiko eingehen. Oder wir schicken Gretchen.«
Johanna stockte der Atem und er konnte ihr die Antwort aus dem Gesicht ablesen. Sie schluckte und äußerte das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie ist Magd der Lady Knightsbridge. Aus Berg, vom Festland. Deswegen ist ihr Englisch so holprig.«
Seine Brauen zogen sich zusammen und er musterte sie erneut, deutlich kritisch. Dann nickte er. »Ich brauche die Zahl der Wachen. Du wirst die Ohren aufhalten. Vielleicht hörst du etwas, das von Interesse ist.«
»Nun, Liebchen«, raunte die Wache und lehnte sich gefährlich weit über ihr schmales Auslagebrett. »Was bekomme ich für einen Gulden?«
Johanna verkniff sich ihren Ekel. »Drei Laib Brot«, gab sie gepresst zur Antwort und verfluchte Hawk für diesen Auftrag. Die Wache lachte auf und versuchte nach ihr zu haschen, aber Johanna wich aus. »Ihr behindert meinen Verkauf. Gehabt Euch wohl!«
Leider verstand der Bewaffnete den Hinweis nicht.
»Ein Leib genügt mir vollauf, Liebchen. Komm, dort hinten wird man uns nicht sehen.« Er deutete zum Ausfalltor, das hinter einer Mauer, einer Treppe und derzeit hinter einem Haufen Unrat verborgen war. Johanna kniff die Lippen zusammen. Ihr Onkel hätte diesem Kerl das Fell über die Ohren gezogen für sein Gebaren.
»Ich verkaufe Teigwaren!«, spie Johanna und griff nach einem harten Bauernbrot. Eine unzureichende Waffe, wenn es ernst wurde, aber besser als mit bloßen Händen dazustehen. Sie war die Tochter eines britischen Dukes, Enkelin eines Königs! Dieser Kerl würde sich nicht an ihr vergehen!
»Gut«, murmelte der Bewaffnete. »Dann nehme ich ein Brot dazu. Ich habe immer Hunger … danach.« Er grinste zufrieden und sah bedeutsam an ihr herab.
Johanna verfluchte Hawk innerlich erneut und schloss Wulf gleich mit ein. Eine Magd aus ihr zu machen, war ganz sicher dessen Idee gewesen.
»Mein Herr?«
Die Wache drehte sich unwillig um, und auch Johanna schwenkte ihre Aufmerksamkeit auf den hinzugetretenen, alten Mann. »Dürfte ich einen Laib erstehen, solange Ihr feilscht?«
Johanna versuchte sich an einem Lächeln. »Drei Schilling für das Weizen und fünf für das Korn, mein Herr.«
»Ihr wartet!«, beschied der Wachmann und schubste den Alten zur Seite.
»So lasst ihn!«, ging Johanna dazwischen und verließ dafür ihren Verkaufsstand. »Schert Euch fort, wenn Ihr kein Brot kaufen wollt!«
Der Wachmann fing sie ein und drückte sie an seinen stinkenden Leib. Johanna verging der Atem, aber nicht ihre Wehrhaftigkeit. Sie stieß ihm den Ellenbogen in den Magen, so fest sie konnte und bohrte ihre Nägel gleichsam in sein Gesicht. Sie verfehlte das Auge und brachte ihm tiefe Kratzer über die Wange bei. Der Wachmann stieß sie aufschreiend von sich.
»Verfluchte Dirne!«, keifte er, sich die Wange haltend und gleichsam sein Schwert ziehend. »Dafür wirst du büßen, Hexe!«
Johannas Griff ging ins Leere. Das Kleid behindert ihren Rückzug und, obwohl sie durch jahrelanges Kleidertragen daran gewöhnt sein sollte, brachte es sie zu Fall. Der alte Mann stieß den Stand mit dem Brot um und riss sie mit überraschender Kraft auf die Füße.
»Kommt schon«, hisste er und schubste sie zum Tor.
»Haltet Euch zurück, alter Mann!«, warnte der Bewaffnete, dem ein Haufen Kinder in den Weg lief, die sich auf das Brot stürzen wollten. Johanna haderte mit sich. Sollte sie den alten Mann zurücklassen und ihn der Wut des Tölpels ausliefern?
»Nun kommt schon!«, knurrte der alte Mann und zog sie mit sich. Erstaunlich flink. Am Tor warteten zwei Pferde auf sie. Sie wurde gepackt und auf den Rücken geschwungen. Johanna starrte auf den erstaunlich kräftigen alten Mann herab in zwei nur zu bekannte Augen. Hawk. Er hatte sie nicht allein gelassen.
Johanna tauchte unter Wulfs Schwert durch und parierte den nächsten Schlag frontal. Ihr Arm erzitterte unter der Wucht und ächzte. Sie sprang zur Seite, als Wulf nachsetzte. Angreifen. Ein toller Rat. Wenn es mal so einfach wäre! Sie kam einfach nicht aus der Defensive heraus, so sehr sie sich auch bemühte. Sie wich ihm erneut aus und tänzelte außer Reichweite. Angreifen! Johanna wich erneut aus. »Kleiner, wir spielen hier nicht Fangen!«
Johanna verzog die Miene. Angreifen. Sie machte einen Schritt nach vorn und geriet wieder unter Beschlag. Sie blockte seinen Hieb erneut und wich wieder nach hinten aus.
»Nur Mut, Sam!«, rief Hawk. »Wulf bellt mehr, als dass er beißt.«
Johanna schluckte. Angreifen!, beschwor sie sich. Jetzt! Johanna tauchte erneut unter seiner Waffe hindurch, aber anstatt auf Abstand zu gehen, drehte sie sich auf dem Fuß. Sie hob ihr Schwert, schwang es nach oben und schlug Wulf mit der flachen Kante aufs Gesäß. Wulf fluchte und versuchte sich zu rächen. Johanna parierte, wich aus und schlug voller Verzweiflung nach seinem Knie. Wulf sprang zur Seite und drohte mit Vergeltung. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatte keine Chance. Sie war kleiner, schwächer und einfach nicht gewohnt, ein Schwert zu schwingen, das so groß war wie sie selbst! Trotz des harten Trainings der letzten Wochen. Ihre Muskeln protestierten schmerzhaft, als Johanna zu einem letzten Angriff ausholte. Wulf stolperte, seine fassungslose Miene war zu komisch, als er auf dem Boden aufkam. Man konnte es nicht unbedingt einen Sieg nennen, dennoch ließ sie sich die Gelegenheit nicht entgehen. Sie legte ihm das Schwert an die Kehle. Sie konnte nicht anders: Sie setzte eines jener süffisanten Grinsen auf, die Wulf für sie zu reserviert zu haben schien.
Wulfs Wut war fast physisch fassbar. »Ich bin gestolpert! Du hast mich sicher nicht besiegt, Kleiner!«
Johanna sparte sich einen Einwand. Schüttelte nur den Kopf. Ihr Arm brachte sie fast um, da würde sie sicherlich nicht den Ausgang des Kampfes klein diskutieren, zumal Wulf dazu neigte, gegenteilige Meinungen mit Strafarbeiten zu ahnden. Sie wendete sich ab und begegnete Gretchens ungläubiger Miene. Sie konnte ihr nicht einmal böse sein, sie selbst hätte nie geglaubt, dass es mal dazu kommen könnte.
»Sam!«, flüsterte Gretchen. »Was habt Ihr getan?«
Johanna presste die Lippen aufeinander. Was war das für eine Frage? Der Schweiß lief ihr nur so über den Leib, ihr Körper schmerzte wieder Mal zum Erbarmen, und nun sollte sie sich auch noch Vorwürfe anhören? »Was habe ich denn getan?«, knirschte sie, wobei sie ihr Schwert in den Boden rammte und sich am Heft abstützte.
»Ihr könnt doch nicht … das geht doch nicht!«
»Es geht«, widersprach Johanna und schaffte es zu grinsen. »Sehr gut sogar!«
»Ich bin gestolpert!«, knurrte Wulf, der wieder auf den Beinen war. »Sonst hättest du keine Chance gehabt!«
Johanna drehte sich zu ihm um. Er schlug sich den Dreck von der Hose.
»Darum geht es doch.« Johanna nahm das Schwert und warf es dem Kontrahenten vor die Füße. »Ich habe keine Chance! Die Waffe ist zu schwer und zu lang für jemanden meiner Statur. Ihr seid größer und schwerer als ich, und ihr nutzt dies, um mich zu attackieren.« Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Glaubt mir, mit etwas mehr Chancengleichheit würdet Ihr ständig vor mir im Staub liegen!«
Wulf trat auf sie zu. Sein Finger deutete auf ihre Nase. »Hab Acht, Bübchen …«
»Wulf, lasst den Jungen.«
Johanna fuhr zum Sprechenden herum.
»Er hat ja nicht Unrecht. Sam ist im Nachteil durch seine Größe und seine fehlende Stärke.« Hawk sah an ihr herab und zuckte die Schultern. »Allerdings, Sam, werdet Ihr möglicherweise immer im Nachteil bleiben. Vielleicht werdet ihr nicht mehr größer. Vielleicht werdet Ihr ständig auf Gegner treffen, die stärker sind, besser ausgebildet, oder die eine Waffe besitzen mit einer perfekten Balance.« Er trat näher und hob das Schwert auf, das Johanna zuvor fortgeworfen hatte. »Das Leben fragt nicht nach Chancengleichheit. Überleben tut jener, der sich den Begebenheiten am besten anpasst.« Er warf ihr das Schwert zu. »Wenn Ihr leben wollt, müsst Ihr Euch ob Eurer mangelnden Kraft und Größe stärker anstrengen.« Er deutete auf die Waffe. »Bringt es weg. Wulf …« Mit dem Kopf deutete Hawk zu seinem Zelt. »So bald wie möglich.«
Johanna folgte Wulf zum Zelt, um das Schwert dort abzulegen.
»Sam, schärfe mein Schwert und den Dolch.« Er warf ihr seine Stichwaffe zu und deutete hinaus.
Grummelnd stampfte sie davon.
Er lauschte seinem Atem. Sam schlief für gewöhnlich wie ein Toter, nun nach all den Anstrengungen, die er sich täglich auflud, meist, weil er Wulf aufbrachte, war es auch kein Wunder. Hawk indes bekam immer größere Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen. Sam bestand darauf, dass sein Weg ihn und Gretchen nach London geführt hätte, zum Bruder ihrer Gnaden, der Duchesse of Knightsbridge, aber eben nicht zum König an sich. Damit konnten sie nicht viel anfangen, was ihn ärgerte und Wulf sicher sein ließ, dass Sam nicht die Wahrheit sprach. Ein Graf vom Festland sei Gretchens Dienstherr, beziehungsweise sie stamme von dort und begleite die Lady of Knightsbridge zu ihrer Familie. All dies ergab kein Bild, das sich mit seinen Informationen zusammenfügte.
Dann wiederum waren seine Beobachtungen in Whitescorn sehr akkurat gewesen und mit seinen eigenen abdeckbar.
Wulf nannte ihn einen Narren, und nicht selten kam er sich auch wie einer vor, wenn er Sam beim Training beobachtete oder dabei, wie er das Zelt in Ordnung brachte. Dummerweise bekam er seinen Anblick nicht aus dem Kopf. In der Kleidung einer Magd hatte er eine wesentlich bessere Figur gemacht als in Hemd und Hosen. Mit dem gefüllten Leibchen, von denen Hawk schließlich wusste, dass es Backwaren gewesen waren, hatte er ihr mühelos das Mädchen abgekauft und nicht nur er. Hawk hatte ihn im Auge behalten, für den Fall, dass er einen der Wachen auf sich oder ihn aufmerksam machte und bemerkt, wie voll der Stand zu jederzeit war. Kein Wunder. Wann immer Sam sich abgewendet hatte, um ein Brot aus der Ablage hinter sich zu holen, waren seine Röcke geschwungen, und es hatte den Anschein gehabt, er wiege mit den Hüften – verführerisch lockend, wie ein Weib.
Vermutlich nahm Wulf Sam deswegen nicht für voll, weil er auch im Kampf eher tänzelte, als Standhaftigkeit bewies. Aber seine Taktik ging nichtsdestotrotz auf. Obwohl Sam kaum eine Chance hatte, Wulf zu besiegen, war er heute verdammt nah dran gewesen. Fein, Wulf war gestolpert, aber der Bursche hatte dafür gesorgt und seinen Vorteil genutzt. Er war ein geborener Kämpfer und wenn er so weiter trainierte, würde aus ihm ein ernstzunehmender Gegner, sobald er ausgewachsen war und endlich etwas Muskulatur aufbaute. Wenn er erst einmal zum Manne geworden war. Leise Wehmut beschlich ihn. Sam wäre nicht mehr so nett anzusehen, wenn es erst einmal so weit war. Hawk drehte sich auf seinem Lager und blinzelte in die Dunkelheit. Sams Atem war immer noch tief und gleichmäßig.
Er schlief im hintersten Ende des Zeltes eingerollt zu einer Kugel, fast versteckt hinter Hawks Waffentruhe. Sein blondes Haar starrte vor Dreck, der Bub verwehrte das gemeinschaftliche Bad. Nur in Begleitung seiner Herzdame nutzte er den Fluss, um sich zu säubern, vermutlich nicht nur dazu, aber Hawk hatte Anweisung gegeben, den beiden nicht zu folgen. Sie sollten sich sicher und angenommen fühlen und nicht bedrängt und unter Beobachtung. Das Lager war gesichert und ihr unbemerktes Verschwinden damit so gut wie unmöglich. Nicht, dass er sich sorgte, Sam und Gretchen könnten flüchten wollen. Beide hatten sich gut eingefügt, auch wenn Wulf das gerne anders bewertete und immer noch eine Gefahr in dem Burschen sah.
Hawk drehte sich erneut und schloss die Augen. Schlafen. Leider blitzte ihm Sam in Gewandung einer Magd entgegen. Unwirsch und zutiefst verärgert, dass man ihn dazu zwang, Frauenkleidung zu tragen. Verlangen schoss durch ihn und schreckte ihn auf. Das ging zu weit. Zwar wusste er nicht, was er mit diesem Gefühl anfangen sollte, das so gar nicht seiner üblichen Neigung entsprach, aber es war schlicht abnorm. Nichts, worauf er sich einließe, komme, was da wolle. Er mochte den Jungen, das konnte er zugeben, aber sonst hatte er keinerlei Verwendung für ihn.
Hawk rutschte aus dem Bett. Etwas körperliche Betätigung sollte ihn läutern und von aberwitzigen Ideen fortreißen. Trotzdem galt sein letzter Blick dem friedlich schlummernden Sam.
Der Pfiff war das Zeichen zum Angriff. Wie befohlen hielt sich Johanna im Hintergrund. Ihr lag ohnehin nichts daran, Reisende zu überfallen. Sie sah sich nach John und Gilbert um. Die beiden Gauner waren ihr am nächsten positioniert worden und sollten den Rückzug sichern. Beide starrten konzentriert auf das Szenario vor ihnen. Johanna streckte sich nach einem Ast, zog ihn zu sich und nutzte ihn als Treppe. Mit einem Sprung rollte sie sich um einen weiteren, dickeren Ast und zog sich hoch. Johanna vergewisserte sich, dass Gilbert und John noch immer den Kampf auf der Straße verfolgten, bevor sie sich leise auf den Weg machte. Nach einem kleinen Umweg befand sie sich schließlich über dem Schauplatz. Die Halunken hatten die Gegenwehr der Überfallenen niedergerungen, und Hawk befahl den Insassen der Reisekutsche auszusteigen. Ein rundlicher Mann mit kahl rasiertem Kopf lugte aus dem Fenster.
»Was versündigt Ihr Euch! Lasst Gottes Abgesandte in Frieden reisen, Ihr Rüpel!«
»Sire, Eure Reise wird alsbald friedlich weitergehen, sofern Ihr meinem Wort Folge leistet.« Hawk ließ sein Schwert zurück in die Scheide gleiten und stieg von seinem Ross. Wulf hingegen blieb wachsam. Er behielt die Umgebung ebenso im Auge wie die Kutsche und warnte: »Lasst sie nicht aussteigen.«
Hawk ignorierte ihn und öffnete den Wagenschlag. »Sire, wenn ich bitten darf.« Hawk deutete eine Verbeugung an.
»Ihr werdet Gottes Zorn auf Euch laden, solltet Ihr Euch an meiner Wenigkeit oder meinem von Gott gewollten Besitz vergreifen!«, warnte der Insasse der Kutsche, ohne Anstalten zu machen, Hawks Befehl nachzukommen.
»Dies ist meine letzte Bitte, Sire: Steigt aus dem Wagen!« Hawks Wunsch wurde mit stählerner Härte vorgetragen, die Johanna einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Gespannt hielt sie die Luft an.
»Gott in seiner Gnade …«, hob der Geistliche an und blieb noch immer versteckt im Dunkeln seines Reisewagens.
Hawk knirschte: »Das genügt!«, und stieg auf die niedrige Stufe der Kutsche. Wulfs Warnung verpuffte ungehört, und Augenblicke später stolperte ein feister Mann im kirchlichen Habit aus dem Gefährt und fing sich noch gerade so.
Was Johanna wesentlich mehr überraschte, war jedoch der zweite Insasse. Hawk war nach dem Geistlichen wieder aus der Kutsche gestiegen und hatte seine Hand in den Wagen gehalten. Nun stieg eine in teuren Stoffen gewandete Lady aus, wobei sie die Hilfestellung des Vogelfreien huldvoll annahm.
Johanna hielt den Atem an. Die Lady war bei weitem keine Unbekannte.
»Mylady«, grüßte Hawk mit einer ehrfürchtigen Verbeugung, und Wulf pfiff beeindruckt.
»Ihr werdet des Herrn Unmut auf Euch ziehen!«, prophezeite der Geistliche, wobei seine feisten Wangen waberten.
»Dann steht die Lady in Eurem Besitz, Hochwürden?«, erkundigte sich Hawk, wobei er den Mann keines Blickes würdigte. Dieser verweilte auf der Lady, die bei der Bemerkung kokett die Lider senkte.
»Lady Eversham reist unter meinem Schutze!«, ereiferte sich der Geistliche und plusterte sich auf. Allerdings wagte er es nicht, seinen Schutz auch zu demonstrieren.
»Lady Eversham«, raunte Hawk und Johanna runzelte die Stirn. Sie sah dem Paar nach, als Hawk die Lady von dem Schauplatz des Überfalls fortführte. An seiner Stelle übernahm es nun Wulf, dem Hochwürden um seinen Reichtum zu bringen.
»Der Teufel wird sich Eure Seele holen!«, keifte der Mann. »Und seine Gnaden wird sich Eure wertlosen Leben …«
Wulf brachte ihn zum Schweigen, indem er den leeren Geldsack in dessen Mund schob.
Der Geistliche spuckte ihn aus. »Seine Gnaden werden Euch aufbringen und Euch zu Ehren der Hochzeit seiner Tochter richten!«
Johanna hielt den Atem an. Unter dieser Voraussetzung bekam die anstehende, wenn auch unerwünschte Vermählung, tatsächlich einen angenehmen Aspekt.
»Welch blutiges Spektakel für eine vor Gott geschlossene Verbindung«, höhnte Wulf und gab dem Hochwürden einen Schubs. »Steigt in Euer Gefährt!«
Hawk führte die Lady zurück in Johannas Blickfeld. Die Tante war nur wenige Jahre älter als Johanna selbst, aber scheinbar wesentlich dümmer, hing sie doch mit hingebungsvollen Augen an Hawk. Er küsste ihre Hand, flüsterte ihr etwas zu, was sie zum Lachen brachte, Johanna aber nicht verstehen konnte.
Die Lady stieg in die Kutsche, und Hawk schloss den Verschlag.
Johanna schob sich zurück zum Stamm des Baumes, auf dem sie hockte und sprang dann auf einen tiefer liegenden Ast, der den eines nahestehenden zweiten Baumes kreuzte. Auf dem Weg schaffte sie es zurück zu ihren beiden Bewachern. Vorsichtig ließ sie sich auf den Boden herab und lehnte sich gegen den borkigen Stamm, gerade rechtzeitig, um den Rückzugspfiff mitzubekommen.
John fuhr herum und bedeutete ihr voranzugehen. Sie folgte sinnend.
Hawk wanderte in seinem Zelt auf und ab, während sich Wulf auf seinem Stuhl fläzte und Sam nach Wein anging.
Der Bursche folgte sichtlich widerstrebend der Order, was den Hauptmann zu Beschimpfungen veranlasste.
»Wulf!«, unterbrach er ihn deswegen knapp. »Bleibt bei der Sache!« Und die war nun mal nicht, sich Gehorsam zu erzwingen.
Wulf knirschte verdrossen und prostete ihm zu. »Die da wäre?«
»Lady Eversham.« Sam wieselte an ihm vorbei. Schnell fing er ihn ab, umklammerte seinen schmalen Oberarm und zog ihn zurück, um ihn vor sich abzustellen. Seine Augen gleißten, aber er verkniff sich jedes Wort, wie üblich. »Verzeih, aber ich habe Fragen, und die lassen sich nicht weiter aufschieben.«
Sam seufzte und verlor einen Teil seines Ärgers. »So stellt Eure Fragen, Hawk.«
»Lady Eversham?« Zugegeben, es war keine Frage, mit der man viel anfangen konnte, aber eine spezielle Frage zu der Lady entglitt ihm, während er in die blauen Untiefen in dem noch immer blassen Gesicht vor ihm starrte. Verblüfft, festzustellen, dass der Knabe Sommersprossen hatte. Es waren kleine, blasse Pünktchen, die sich vornehmlich auf Nase und Wangen verteilten, aber sie waren aus der Nähe sehr gut auszumachen.
Sam atmete tief durch. »Die Schwester seiner Gnaden. Sie ist mit dem Jarl of Eversham verheiratet und hält sich für gewöhnlich am königlichen Hofe auf.« Er zuckte die Achseln. »Viel weiß ich nicht über sie.«
Dann war dies schon alles? »Die Tochter des Dukes?«
Sam hielt den Atem an und brach den Blickkontakt. Seine Zunge huschte über die vollen Lippen, bevor er einen Ton hervorbrachte. »Welche?«
Hawk blinzelte verwirrt. »Wie meinen?«
Seine Lider hoben sich wieder, und er begegnete seinen Augen mit offensichtlicher Vorsicht. »Es gibt zwei Ladys of Knightsbridge. »Die Ältere, Lady Johanna of Knightsbridge, weilt gewöhnlich bei ihrem Onkel auf dem Festland. Die Jüngere, Lady Samantha of Knightsbridge, hingegen verlässt die väterliche Festung nie.«
Wulf pfiff. »Zwei! Das macht es schwierig.«
Hawk war gefesselt von Sams Lippen.
»Welche wird nun wohl an den Altar treten?«
Sam versteifte sich und warf einen entsetzten Blick zurück. »Wie meinen?«
»Es steht eine Hochzeit an«, offenbarte Hawk mit einem Kratzen im Hals. »Lady Eversham wurde in den Norden gerufen, um ihr beizuwohnen. Sie wird wohl bald stattfinden.«
»Lady …« Sams Stimme brach, und er brauchte zwei Anläufe, um sicher weitersprechen zu können. »Der Graf von Berg wird dies verhindern. Die Braut steht unter seinem Schutz!«
»Der Onkel, zu dem ihr wolltet«, murmelte er verwirrt. Es war verdammt schwer, bei der Sache zu bleiben, obwohl sie endlich wichtige Informationen erhielten. Irgendwie war es ein verdammt warmer Nachmittag. Ein ungewöhnlich warmer …
»Ja«, bestätigte Sam und hob das schmale Kinn. »Er zweifelt an der Legitimität der anberaumten Eheschließung und wird sich vor König Stephan verwenden.« Der Atem entwich ihm und mit ihm einiges seiner Anspannung.
»Dann wird es die Jüngere treffen«, stellte Wulf lapidar fest. »Die ist bei Hand und solange kein Wort durchsickert …«
Ein Zucken ging durch den Burschen, und er verlor an Farbe. Ein Zittern ließ ihn beben, seine sonst so lockenden Lippen öffneten und schlossen sich, ohne einen Ton zu fabrizieren.
»Sam?«
»Warum …« Er brach ab und senkte auch den Blick. »Mein Gott.«
»Den letzten Informationen nach befindet sich der Bräutigam in spe noch auf Whitescorn, also womöglich eine Finte?«
Möglich. Hawk riss sich los und nahm die Hand von dem bebenden Burschen, der ihn irgendwie die Konzentration stahl. »Hol uns Essen«, befahl er knapp und drehte sich brüsk weg. Er musste seine Gedanken beisammenhalten, denn endlich machten sie hier Fortschritte, und die durfte er um nichts in der Welt gefährden!
»Wir brauchen eine Bestätigung. Wir müssen unbedingt herausfinden, ob Leverham Anstalten macht, Whitescorn zu verlassen.« Was fatal wäre, denn für diesen Fall fehlten ihnen die Order. Wie sollten sie verfahren, wenn es tatsächlich zu dieser Eheschließung käme?
»Wollt Ihr Order einholen?«
Was bedeuten würde, das Lager für eine gute Woche, wenn nicht fast zwei, zu verlassen. Aber war es nicht der einzige Weg, sich über zukünftige Aktionen bewusst zu werden?
»Wir machen einen Ausfall. Solange Leverham Whitescorn nicht verlassen kann, findet auch keine Eheschließung statt.« Mit oder ohne des Königs Genehmigung. »Dann sehen wir weiter.«
Johanna sah sich aufmerksam um. Jeder Baum, jeder Strauch wurde von ihr ausgiebig gemustert, bevor sie Gretchen das Zeichen gab, in den Fluss zu waten. Johanna folgte, die Umgebung im Auge behaltend.
Gretchen begann augenblicklich, sich zu waschen. »Brr!«, murmelte sie und Johanna seufzte leise. Das Wasser war noch immer fürchterlich kalt, obwohl sie inzwischen Sommer war. Sie selbst zitterte unter ihrem Hemd nicht weniger als die Freundin.
»Jo … Sam, ich wünsche mir so sehnlichst ein heißes Bad!«, flüsterte Gretchen mit aufeinanderschlagenden Zähnen und entlockte der Angesprochenen damit ein schwaches Grinsen. Sie selbst würde morden für einen Zuber heißen Wassers. »Ich wünsche mir mehr als ein temperiertes Bad«, gab sie zur Antwort und warf Gretchen einen mokierenden Blick zu.
Gretchen seufzte herzergreifend und tauchte ihr langes hellbraunes Haar in das kühle Nass. Johanna rollte die Bahnen ihrer Bandage ab, die sie den ganzen Tag lang fürchterlich gejuckt hatte. Befreit tauchte sie in das Wasser ab und reinigte sich vom Schweiß und Dreck der letzten Tage. Es war zugleich der erste Moment seit geschlagenen drei Wochen, den sie mit Gretchen mutterseelenallein verbringen konnte. Wulf hatte Gretchen zu unendlich vielen Verpflichtungen eingeteilt, so dass kaum ein Moment zum Schwatzen geblieben war, geschweige denn des Alleinseins.
»Soll ich dein Haar waschen?«, bot Johanna an und watete zu der Freundin. »Geht es dir gut?«, fragte sie leise. »Ich komme kaum zur Ruhe, seit dieser Hundsfott dich …«
»Sam!«, unterbrach Gretchen sie atemlos. »Du darfst ihn nicht aufbringen!« Sie wendete sich zu Johanna um und ergriff ihre Hände. »Ich fürchte um dein Leben!«
»Gretchen, ich werde nicht zulassen, dass dieser Barbar dich entehrt!«, zischte Johanna und sah der Freundin bezwingend in die Augen. »Himmel, er ist ein Verbrecher! Wüsste mein Onkel von diesem Nest, er würde es niederreiten!«
»Ja«, murmelte Gretchen mit niedergeschlagenen Lidern und einem leisen Seufzer.
Johanna ließ es darauf bewenden. »Sie haben meine … Lady Eversham aufgebracht. Vor zwei Wochen.« Johanna runzelte die Stirn. »Ich fürchte einen Angriff.«
Gretchen riss die Augen auf. »Einen Angriff?« Ihre Furcht troff aus ihren Worten.
Johanna nickte. »Ein Hochwürden war mit ihr wohl auf dem Weg nach Knightsbridge zu … zur Vermählung seiner Tochter.«
Gretchen sperrte den Mund auf. »Samanthas?«
Johannas Herz stockte. Die Frage war nicht dumm. Sie selbst war seit Monaten verschollen, welchen Sinn ergäbe es, die Familie und einen Geistlichen nach Knightsbridge zu beordern, wenn die Braut säumig war? Ihr schwindelte und so tapste sie näher zum Ufer, um sich zu setzen. Gretchen folgte ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wir müssen«, murmelte Johanna und musste schlucken, bevor sie fortfahren konnte, »fort.«
Gretchen erbleichte umgehend, was Johanna aber nicht mitbekam. Sie tauchte unter, um ihr kurzes Haar zu waschen. Als sie wieder hoch kam, sprang sie auf die Füße, um sich abzutrocknen. Gretchen folgte ihr langsam.
»Komm!«, rief Johanna ihr zu, kaum dass sie angezogen waren, Gretchen in einfachen Leinen, einem leichten Kleid mit engem Mieder und Johanna in Strumpfhose und Hemd. Ihr Gürtel fasste einen kleinen Dolch und auf der anderen Seite die Scheide zu einem Schwert. Sie lief, Gretchen an der Hand hinter sich her zerrend, tiefer in den Wald. Abseits des Lagers blieb sie stehen und sah sich um, bevor sie an einem der Bäume in die Knie ging. Sie befanden sich nicht weit von dem Ort, an dem sie vor so langer Zeit aufgebracht worden waren. »Wir sollten heute Nacht aufbrechen«, bemerkte sie und suchte in dem Loch unter den Wurzeln nach einem in Tuch eingewickelten Gegenstand. Erleichtert zog sie ihn heraus und schob ihn in den Bund ihrer Hose. Die anderen Gegenstände beließ sie vorerst in ihrem Versteck. Alles andere war nicht bedeutend. Als sie sich wieder der schweigsamen Freundin zuwendete, erklärte sie ihren zugegebenerweise unausgegorenen Plan: »Wir schleichen uns des Nachts hinaus. Ich werde Hektor vorher frei lassen, damit wir ihn später nicht … Gretchen?«
Die Freundin war bleich, in ihren aufgerissenen Augen stand blanke Angst.
»Gretchen, sei unbesorgt, wir schaffen das!« Sie drückte Gretchens Hände. »Wir schaffen das!« Obwohl sie es immer wieder wiederholte, verblieb ein Rest an Zweifel nicht nur in Gretchens Augen.