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ОглавлениеKathleen Strobach
Lila Flieder -
Er aus dem Märchen
Angestrengt starrt er auf die Seiten des vergilbten Buches, das schon durch so viele Hände gegangen ist. Er stützt seinen Kopf verzweifelt auf die Platte des alten Tisches. Sein panischer Atem erfüllt die staubigen Gänge zwischen den Buchregalen. Gedankenverloren streicht er durch sein langes, schwarzes Haar. Seine Finger zittern. Er gräbt seine gepflegten Nägel in die Buchseiten. Er spürt wieder diese Schwäche, diese Schwäche, die sein Leben bestimmt.
Seine Stirn legt sich in tiefe Falten, während er immer wieder die gleichen Worte liest. Zärtlich streicht er über das Buch. Er sieht dieses Paar vor sich, das sich glücklich in den Armen liegt. Er spürt die Wärme dieser Liebe, ihre Geborgenheit und doch ist sie ihm schmerzlich fremd. Der Blick seiner dunklen Augen verändert sich. Wütend springt er auf und feuert das Buch auf den Boden. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!“ Die Liebe! Es gibt sie nicht! Sein Leben ist kein Märchen. Sein Leben ist die Realität! Und es gibt in ihr kein glückliches Ende.
Er fegt durch die Gänge. Sein langer, grauer Mantel, der ihn älter und sonderbar aussehen lässt, wirbelt den Staub zwischen den Gängen auf. Suspekt sieht die ergraute Dame ihm nach, der die Obhut über die Bibliothek der Kleinstadt obliegt. Dieser merkwürdige Fremde ist ihr schon lange ein Dorn im Auge. Argwöhnisch mustert sie ihn und seinen antiken, so reich bestickten Mantel. Sie sieht die großen Ringe an seinen Fingern. Seine Haut ist blass wie Kreide. „Das können sie nicht machen!“, ruft sie ihm ärgerlich hinterher.
Er dreht sich um. Wütend blitzen seine Augen sie an. Sie verstummt. Was sie in seinen Augen liest, ist Verzweiflung, eine wütende Verzweiflung, die ihn die Bibliothek fluchtartig verlassen lässt. Seine altmodischen, viel zu sauberen Schuhe, hallen bei jedem Schritt auf dem Boden des Gebäudes wieder. Laut wirft er die Tür ins Schloss.
Fassungslos sieht die alte Dame zum Ausgang und tritt verstört in den Lesesaal. Interessiert hebt sie das Buch vom Boden auf, dessen er sich so wütend entledigt hat. Was hat ihn so wütend gemacht? Sie dreht das Buch herum. Es ist das Märchenbuch der Gebrüder Grimm. Ihr irritierter Gesichtsausdruck verstärkt sich.
Als er auf die Stufen zur Treppe tritt, die zur U-Bahn hinunter führt, wandelt sich sein finsterer Blick in ein seliges Lächeln. Er nickt dem alten Obdachlosen zu, der ungepflegt am Bahnschacht kauert. Er trägt alte, graue Lumpen. Sein letzter Friseurbesuch muss Jahre her gewesen sein und doch senkt der Fremde freundlich seinen Kopf. Gütig greift er in die tiefen Taschen seines Mantels. Er holt goldene, glänzende Münzen heraus. Der alte Mann ist nicht überrascht. Dankbar nimmt er die Spende entgegen. Er erhebt sich. Doch der Fremde winkt ab.
„Ich muss gehen.“ Seine Finger wirken jetzt starr und seine Haut spröde. Verständnisvoll nickt ihm der Obdachlose zu. „Danke.“, flüstert er, als wolle seine Stimme den Schmerz und die Verzweiflung des Fremden abfangen. Er weiß wie wertlos diese Münzen für ihn sind, doch er weiß, wie viel es ihm bedeutet, dass er helfen kann. Er ist der Einzige, der seinen Schmerz und all seine Sehnsucht kennt, der ihn kennt und ihm glaubt.
Es dauert nicht lange, bis er den Garten wieder erreicht, ihren Garten. Er verharrt einen Moment still. Seine Finger sind fast steif. Er streicht sich angestrengt eine der grauen Haarsträhnen von der Stirn, die jetzt vermehrt sein Haupt zieren. Und nur allein weil er wieder an diesem Ort ist, schlägt sein Herz wie verrückt. Es lebt! Es pulsiert! Es schlägt so voller Kraft und doch weicht langsam alle Kraft aus ihm.
Die milde Abendluft dieses Sommers will seine Nase sanft kitzeln, doch alles was er spürt, ist diese Sehnsucht. Er hört die Vögel bei ihrem lieblichen Abendgesang, riecht all die Sträucher, Blumen und Gehölze, hinter denen er sich verbirgt, doch nichts kann den Schmerz brechen.
Und dann sieht er sie. Sie steht dort am Fenster, sieht gedankenverloren hinaus und spricht in die Apparatur, die er als Telefon kennengelernt hat. Wie schön sie ist! Sein Herz bebt. Kurz hat er das Gefühl, die Kontrolle über seine starren Finger zurück zu erlangen. Er spürt die Energie wie ein kurzes Aufflammen. Sein Körper pulsiert. Er wünscht sich, er könne über ihr langes, schwarzes Haar streichen, so glatt, so glänzend.
Er sieht sie lächeln und dieses Strahlen, diese schmalen Grübchen, die ihn schon so oft verzaubert haben, lassen ihn einen Moment lang ganz erblühen. Wie groß ist der Drang, ihre schmale Gestalt in dem weißen, langen Nachthemd in die Arme zu schließen, ihre Wärme zu spüren, ihre Geborgenheit. Doch dann versetzt es ihm einen Stich ins Herz. Er ist da! Und er steht an ihrer Tür, weil er zu ihr will.
Er sieht den jungen Mann vor der Haustür des weißen Kleinstadthauses warten. Er sieht ihm an, dass er nervös ist. Er trägt dieses weiße Hemd und die hellblaue Hose. Er hat ihr Blumen mitgebracht. Wie alt mag er sein? Dreißig? Anfang Vierzig? In seinem blonden Haar klebt viel zu viel Spray. Der Duft seines Parfüms dringt bis zu ihm herüber und erfüllt ihn mit Widerwillen. Er ist es.
Wütend wendet er sich ab. Sein Körper will ihm kaum noch gehorchen. Er muss zurück. Er muss zurück, ehe die Sonne hinter seinem Portal über seinem Bach versinkt.