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„Mein Gott!“, stößt er aus und seine Stimme klingt zugleich panisch und entsetzt. „Was ist dir widerfahren mein Freund?“ Er beugt sich hinunter zu dem fremden Mann, wischt ihm die strähnigen, langen Haare aus dem Gesicht, in dem das Blut des Fremden klebt. Behutsam wischt er mit einem staubigen Tuch seine aufgesprungenen Lippen ab. Die Haut dieses Mannes, der dort unten im U-Bahnschacht kauert, ist grau und rissig.

Müde öffnet der Fremde die Augen. Er hat keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein langer, grauer Mantel ist zerschlissen und hat Risse. Seine schmalen Finger wirken alt und faltig. „Du lebst. Gott sei Dank!“, stößt der alte Obdachlose aus. Mühevoll und vorsichtig legt er seinen Arm um den Hilfebedürftigen, der so schlimm zugerichtet wurde.

„Kannst du gehen?“ Besorgt stützt er den Fremden, doch er ist nicht in der Lage, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Es kostet den Alten seine ganze Kraft, seinen fremden Straßenbruder in den ehemaligen Bahnschacht zu schleppen. Mit jeder genommenen Stufe, die von der Bibliothek in den geschlossenen Schacht hinunterführt, weicht mehr Kraft aus dem so zugerichteten Mann. „Halte durch Bruder!“, flüstert der Alte.

Endlich erreichen sie die Behausung, die dem hilfsbereiten Retter seit Jahren als Obdach dient. Behutsam legt er den verletzten Mann auf sein spärliches Bett aus alten Lumpen und Decken. Erneut schließt der Fremde schwach die Augen. Kraftlos lässt er den Kopf sinken und seufzt kaum hörbar. Besorgt streicht der Alte über diese faltige, schwitzende Stirn. Er greift in die Taschen des Mannes, doch er hat keine Papiere dabei. „Ich werde mich um dich kümmern mein Freund!“ Der Verletzte atmet schwer.

Er ist nicht allein. Argwöhnisch begutachtet die Gruppe, in der er lebt, den Fremden. „Was ist passiert?“ Verwundert beobachten sie den Zugerichteten.

Sein Haar ergraut plötzlich. „Was ist mit ihm?“ Schockiert schaut die Gruppe ihn an. Nie haben sie ein Bild gesehen, das sie fassungsloser machte. Noch immer hört die Wunde an seiner Lippe nicht auf zu bluten. Die Haut seines Gesichtes wirkt so gespannt und rissig, das man meinen könnte, sie würde jeden Moment abblättern wie alte Farbe.

Stumm nimmt der Alte seine Hand. „Sie ist eiskalt und starr.“, raunt er besorgt in die Runde. Der schwache Fremde wimmert stumm, als wolle er einen letzten Hilferuf ausstoßen. „Er braucht einen Arzt!“

„Lass ihn in Ruhe und lass ihn schlafen.“, flüstert der Große und Jüngste der Truppe, die im Untergrund zu einer Familie zusammen gewachsen ist. Doch der Alte lässt seinen Schützling nicht aus den Augen. Er wacht über seinen Halbschlaf. Unruhig versucht der Verletzte sich zu wenden, doch es gelingt ihm nicht. Er stößt Worte aus, die der Alte nicht versteht.

„Die Hexe. Sie kommt. Ich muss zurück ins Schloss.“, stammelt der Kranke und öffnet schwach die Augen. „Was sprichst du mein Freund? Du bist verwirrt. Erinnere dich! Woher kommst du?“ Angestrengt richtet dieser Mann mit den so langen Haaren, die so schnell an Farbe verloren haben, sich auf. Väterlich hilft der Alte ihm aus seinem staubigen, befleckten Mantel und hinein in einen seiner wenigen, warmen Wollpullover. Er streicht sein Haar in den Nacken und reinigt sein Gesicht mit einem Tuch.

Vorsichtig tupft er über das zerkratzte Gesicht. „Ich fürchte, du brauchst einen Arzt mein Freund.“ Fragend sieht der Fremde ihn an. „Ich muss zurück in mein Schloss, bevor die letzte Kraft aus mir weicht.“, flüstert er verzweifelt und versucht nach dem Arm des Alten zu greifen. „Die Hexe, sie hat mich sonst.“ - „Wovon sprichst du mein Freund? Du bist im 21. Jahrhundert. Es gibt keine Hexen.“ Er sieht ein letztes Funkeln in den Augen des Fremden. Doch es erlischt. Die plötzliche Alterung des Verletzten schockiert den Alten erneut. Und tatsächlich reißt die Haut seiner erschöpften Hände.

„Ich muss zurück in ihren Garten. Ich muss zurück zu dem Tor, durch das ich gekommen bin, bevor die Hexe mir ganz die Kraft geraubt hat. Ihr Fluch tötet mich. Ich muss zurück in meine Welt, bevor sich das Tor schließt. Die Sonne geht unter. Es ist schon viel zu spät.“

So sonderbar und tief und so schwach klingt die Stimme des fremden Bruders. „Bring mich in ihren Garten zurück!“, fleht er so verzweifelt. Mit letzter Kraft greift er hilflos nach der Hand seines Retters. „Glaube mir! Hilf mir bitte!“

Verstört starrt der Alte auf die Nägel des Fremden, die ganz plötzlich wachsen. Die kalte Hand in seinen Fingern erschreckt ihn. Er weiß nicht, was ihn dazu bewegt, doch er hilft diesem verzweifelten Mann erneut auf. Er stützt ihn und noch einmal wendet er all seine Kraft auf, um ihn wieder hinauf vor den Eingang der Bibliothek zu bringen. Er gibt seine letzten, so hart erkämpften Münzen für ein Taxi aus.

Mit panischen Atemzügen will der Fremde vor dem Fahrzeug fliehen. „Was ist mit dir?“ Seine plötzliche Angst kann sich der Alte nicht erklären. „Hattest du einen Autounfall?“ Er sieht, dass der Verletzte den Wagen genau unter die Lupe nimmt. „Du willst in deinen Garten! Ich bin bei dir.“ Missmutig lässt sich der Fremde hineinhelfen. Schützend hält der Alte ihn, während der Fahrer argwöhnisch den Wagen startet. Was immer in den Worten dieses Hilflosen liegt, er will in diesen Garten und er würde ihn dort hinbringen.

Panisch bemerkt der Alte, dass sein verletzter Bruder weiter an Kraft verliert. So etwas hat er noch nie gesehen. Er spricht zu ihm, um ihn wach zu halten. Er erzählt ihm von der Welt, in der er lebt und die ihm in seiner Verwirrtheit so fremd geworden zu sein scheint.

Als er ihn endlich aus dem Auto schleppt, zögert der Alte kurz. Der besagte Garten gehört zu einem gepflegten Grundstück. Hinter dem Fenster des weißen Hauses kann er eine junge Frau am Herd stehen sehen. Sein junger Freund hat keine Augen für sie. Sein schmerzender, schwacher Blick stoppt die Zweifel seines Retters. Angestrengt stützt er ihn und hilft ihm auf den Rasen und dann geschieht, was er nie zu träumen gewagt hätte.

Tatsächlich richtet sich der Fremde auf. Es ist, als würde sich die Luft spalten und pulsieren. Der Verletzte strebt auf das pulsierende Etwas zwischen den ganzen Gewächsen und Büschen zu. Er verschwindet. Er ist weg! Die Luft scheint sich wieder zu schließen. Fassungslos starrt der Obdachlose ins Leere und verschwindet panisch, als sich die junge Frau dem Fenster zuwendet. Wer würde ihm das jemals glauben?

Benommen fällt der Verletzte auf den Boden, der ihm so vertraut war und ihn zugleich anwidert. Er regeneriert sich sofort. Sein Haar nimmt wieder den tiefen, dunklen Ton an. In seine Augen kehrt ein trauriger Glanz zurück.

Wie kann er diesem fremden Mann nur danken? Er hat sich für ihn aufgeopfert, um sein Leben zu retten. Er hat ein gutes Herz. Er wird ihn für alles entschädigen, mit allem, was er hat. In seinem Kopf verschwimmen die Bilder. Er ist durcheinander und schwebt zwischen Traum und seiner dunklen Wirklichkeit.

Reglos liegt er nur da. In seinen schwachen Tränen spiegelt sich die Welt, in der er dazu verdammt ist, alleine zu leben. Alles was ihm von seinem einstigen Leben geblieben ist, ist ein Schloss aus Stein, keine Menschenseele, kein Tier. Alles ist eingefroren, zeitlos.

Er ballt seine Hände zu Fäusten und spürt all seine Kraft zurückkehren. Er greift nach dem grünen Gras unter seinen Gliedern und starrt auf die immer blühende Hecke aus Flieder, an der sein Leben hing.

Wie hat er diesen Ort einst geliebt? Wie viele Stunden hat er hier zwischen den Fliederbüschen gemalt, voller Sehnsucht, voller Mut und Freude? Er hat diesen Ort geliebt, seinen vertrauten Flieder. Und dann kam sie. Sie hat ihn genau deshalb verflucht, weil er diesen Ort und seine Malerei und Träumerei ihr vorzog, statt sie zu lieben. Aber ist nicht die wahre Liebe Sinn eines Jeden, die Suche nach ihr, ihre Erfüllung und nicht diese erzwungene?

Nun ist er dazu verdammt, jeden Tag aufs Neue ihr hämisches Lachen zu hören, wenn sie in diese erstarrte Welt kommt, um sich an seinem Elend zu laben. Und die schlimme Erkenntnis, dass dies für die Ewigkeit ist, beginnt ihn zu zerstören. Denn nicht nur diese Hexe altert nicht. Was immer sie mit ihm getan hat, ihr Fluch geht für ihn über jede Lebenszeit hinaus. Das Alter und die Zeit können ihm nichts mehr anhaben. Er braucht keine Nahrung. Alles was er kann, ist es, einfach nur noch zu existieren.

Schlagartig kehrt seine Erinnerung zurück. Entsetzt richtet er sich auf und fühlt sich in die erschreckende Szene zurückversetzt. „Ich habe mit ihr gekämpft!“, schreit er ins Nichts. Panisch springt er auf. Er erinnert sich genau. Sie hat sich gewehrt. Und dann fielen sie. „Wir sind durch dieses Tor gefallen, durch ihr Tor! Ich fiel in eine andere Welt! Sie hat sich den Kopf aufgeschlagen! Es war überall Blut. Ich habe sie liegen lassen. Sie rührte sich nicht.“

Verstört dreht er sich um, als würde sie ihn beobachten. Aber sie kommt nicht. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr wird ihm bewusst, dass die täglichen Besuche der Hexe ein Ende haben. Ist sie tot?

Und noch eine Frage stellt er sich. Wenn ihre Tür in diese andere Welt sich jeden Tag aufs Neue öffnet und schließt und er einmal hinaus- und wieder hineingekommen ist in diese ferne, lebendige Welt einer anderen Zeit, in der es so viele unbekannte Dinge gibt, kann er dies nicht noch einmal tun?

Die Frage lässt ihn nicht los, während er auf den schmalen Bach schaut, dessen Lauf die Lebendigkeit in diesem leeren Tal ohne Wind und ohne Regen ist. Die Zeit steht still. Stumm lauscht er dem Plätschern. Nur das Schlagen seines Herzens erinnert ihn daran, dass er lebt.

Lila Flieder

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