Читать книгу Nur einmal - Kathleen Collins - Страница 6
Der Onkel
ОглавлениеIch hatte einen Onkel, der sich in den Schlaf weinte. Ja, diese Geschichte ist wirklich wahr, und sie ging schlecht aus. Eines Nachts weinte er sich nämlich in den Tod. Er war noch keine vierzig. Ein ehemaliger Sportler von olympischem Format. Im Haus meines Vaters hängen noch die goldenen Trophäen, die er irgendwann bei den Olympischen Spielen in England gewann. Er war ein schöner Mann. Schwarz. Und Marlon Brando wie aus dem Gesicht geschnitten. In meiner Familie erzählt man sich, mein Onkel und Marlon Brando seien sich eines Tages in Philadelphia auf der Straße begegnet und verblüfft über die Ähnlichkeit stehen geblieben. Er war ziemlich hell, hellbraun, und hatte die grüblerische Brando-Miene, den finsteren Zug um Mund und Augen, den verdrossenen, ruhelosen Blick. Er war mein Lieblingsonkel. Diese Geschichte lässt sich kaum erzählen, ohne die Requisiten der Rasse einzusetzen. Ich habe gesagt, er war schwarz. Ein Held der Aschenbahn. Ein Marlon-Brando-Doppelgänger. Er hatte außerdem eine hinreißend schöne Frau, die aufgrund ihrer gemischten Herkunft unbeschreiblich hell, fast weiß war, mit schwarzem, seidigem Haar und feinen Zügen. Als Kinder vergötterten meine Schwester und ich die beiden. So einen tollen Onkel und so eine tolle Tante zu haben! Und auch sie mochten uns sehr. Wir verbrachten viele Sommer in dem kleinen Ort im Süden von New Jersey, in dem Haus, das früher meiner Großmutter gehört hatte und jetzt ihnen gehörte. Sie waren immer ziemlich pleite. Ich weiß noch, dass meine Schwester und ich einmal unser letztes Taschengeld hergaben, als der Elektriker den Strom kappen wollte. Aber für uns machte sie das umso hinreißender. Pleite zu sein und trotzdem so anziehend und schön, so faul und großherzig. Es war nämlich so: Mein Onkel konnte keine Rennen mehr bestreiten, weil er seit einiger Zeit unter schweren Asthmaanfällen litt. Er hatte sich angewöhnt, tagelang im Wohnzimmer auf dem Sofa zu liegen, ohne sich zu rühren. Und meine Tante arbeitete nie. Ich glaube mich zu erinnern, dass meine Schwester und ich manchmal wochenlang jeden Morgen zu ihnen ins Schlafzimmer gingen, wo wir dann stundenlang zusammen im Bett lagen und uns lachend Geschichten anhörten. Meine Tante sprach unheimlich gern über Sex. Ohne sie wüsste ich vielleicht bis heute nicht, welche Rolle Sex bei der Fortpflanzung spielt. Und mein Onkel liebte es, beim Imbiss um die Ecke riesige U-Boot-Sandwiches, heißen Kakao, Doughnuts mit Puderzucker und Eis zu bestellen, im Bett zu essen und zu erzählen. Wenn ich die gemütlichen Sommertage ohne den Filter der Verklärung betrachte, erkenne ich, dass er den Kampf mit dem Leben schon damals aufgegeben hatte und dass meine Tante eine faule, verwöhnte Frau war, die sich einbildete, ihre helle, fast weiße Haut würde sie retten. Ich verlor früh den Kontakt zu meiner Familie. Ging für mehrere Jahre ins Ausland, kam verheiratet zurück und gründete eine eigene Familie. Doch aus den Briefen meines Vater erfuhr ich vom schleichenden Verfall meines Onkels, von seinen sporadischen Jobs als Leichtathletiktrainer in verschiedenen Colleges und Freizeitzentren, den lähmenden Phasen der Depression, in denen er wochenlang im Bett blieb und Tag und Nacht weinte.
Ich sah ihn nur einmal in diesen Jahren: Im Sommer- haus meiner Eltern, wo ich nach der Geburt meines ersten Kindes ein paar Wochen verbrachte. Er kam zur Tür herein, als ich die Treppe hinunterging. Für mich sah er aus wie immer, nur das Grüblerische in der Brando-Miene trat stärker hervor. Der traurige, düstere Ausdruck hatte Falten auf seiner Stirn und unter den Augen hinterlassen, und seine Mundwinkel zeigten noch ein bisschen mehr nach unten.
Aber diese tiefe Traurigkeit faszinierte mich, vielleicht weil ich noch jung genug war, um Leid anziehend zu finden. Dann geschah etwas Sonderbares. Mitten in der Nacht weckte er mich auf, riss mich unter heftigem Schluchzen aus dem Schlaf und bat mich, nach unten zu kommen und mich mit ihm zu unterhalten.
Ich folgte seiner Bitte.
Wir blieben die ganze Nacht auf, und er weinte ununterbrochen, abgesehen von kurzen, klaren Momenten, in denen er leise über meine Tante sprach, dass sie sich als dumm und faul entpuppt habe, ihm keine richtige Hilfe sei; dass er es zu nichts gebracht habe, sich nie auf andere habe verlassen können. Und er konnte weinen! Er gab sich seinem Schluchzen hin, ließ sich von seiner Trauer überwältigen, als wäre das Leben eine riesige Tränenquelle, in die man nur eintauchen konnte, indem man weinte! Mein Vater, der durch uns wach geworden war, kam herunter, außer sich vor Wut, dass sein Bruder mir derart zusetzte.
Ich sah ihn nie wieder. Als der Anruf mit der Nachricht von seinem Tod kam, saß ich mit meinen Eltern beim Essen. Mein Vater war tief erschüttert. Das erste seiner sieben Geschwister war gestorben. Dabei war sein Bruder das jüngste Kind gewesen, der Kleine, von allen am meisten geliebt, gehätschelt und verwöhnt. Ich bot meinem Vater an, ihn zum Haus meines Onkels zu fahren. Unterwegs erzählte mein Vater von seinen letzten Lebensjahren, den Jahren, in denen er das Bett überhaupt nicht mehr verließ. Jede Nacht hielt er die anderen (denn irgendwie war es ihm gelungen, in dieser Zeit drei heute fast erwachsene Kinder zu zeugen) mit seinen Klagen wach, seinem lauten, herzzerreißenden Schluchzen, das sich unerbittlich hinzog, bis er am Morgen endlich eindöste, den ganzen Tag verschlief, um dann am Abend von Neuem seine Klage anzustimmen. Seine Kinder waren mit seinem Kummer aufgewachsen. Seine Geschwister kamen regelmäßig vorbei und versuchten, ihn mit aufmunternden Worten zurück ins Leben zu holen. Sie standen unten an der Treppe und baten ihn, doch wenigstens ins Wohnzimmer zu kommen, brachten schmackhafte Speisen mit und beknieten ihn, aufzustehen und mit ihnen zu essen, versprachen, ihm eine Stellung als Cheftrainer an einer renommierten Universität zu besorgen. Aber er blieb im Bett, hielt an seinem traurigen, verkehrten Leben fest, weinte in sein Kissen, bis der Tod ihn mit sich nahm.
Meine Tante kam an die Tür. Sie hatte sich ihre Schönheit über die Jahre bewahrt, nur nicht um die Augen – die stumpfen Augen einer Frau, die zu viel hat hinnehmen müssen. Alles war beinahe so wie in meiner Erinnerung. Das Sofa im Wohnzimmer, auf dem er mit seinen riesigen U-Boot-Sandwiches und zuckerbestäubten Doughnuts gelegen hatte. Das Esszimmer, in dem jetzt nur fast-weiße Frauen, ältere Ausgaben meiner Tante, Sherry schlürfend und flüsternd, beisammensaßen. Ich ging nach oben in sein Schlafzimmer. Das breite, altmodische Bett, in dem er gelebt hatte, beherrschte den Raum, thronte darin wie ein Denkmal für sein groteskes Streben nach Demütigung und Leid. Natürlich war das grotesk, sicher hatte das mit seiner Hautfarbe und ihren lausigen Möglichkeiten zu tun. Doch sein Weinen, sein Wehklagen und sein Zähneknirschen waren von einer überbordenden Kraft, und ich weinte um ihn, weinte vor Stolz und Freude darüber, dass er sein Leben so gründlich in Leid ertränkt und auf ein uraltes Ritual zurückgegriffen hatte, das über die offene Demütigung seiner Haut und ihre beschränkten Möglichkeiten hinausging; sich beharrlich weigerte, sein Leid zu überwinden wie eine Krankheit, wie einen Stolperstein, den man ihm in den Weg gelegt hatte, um seine Geduld auf die Probe zu stellen; sich beharrlich weigerte, dagegen anzukämpfen, sein Leben in die Hand zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen. Nein. Er hatte seinem Leid alle Ehre erwiesen, sich ihm mit tief empfundenen, nie versiegenden Tränen so rückhaltlos ausgeliefert, dass er mir, während ich in seinem Zimmer stand, wie der tapferste Mensch erschien, den ich je gekannt hatte.