Читать книгу Zeiten der Lügen - Kathrin Noreikat - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеDer Krieg in Europa war zu Ende. Kapitulation. Diese Nachricht hörte SS-Sturmbannführer Viktor Vossler in Berlin, wo er sich seit einem Jahr aufhielt. Er war, nachdem er angeschossen wurde, in das Reichssicherheitshauptamt versetzt worden, das aus mehreren Ämtern bestand. Er arbeitete im Amt I, das für Verwaltung und Finanzen zuständig war.
Das meiste Amtspersonal war allerdings bereits aus der Hauptstadt in die sogenannte Kernfestung Alpen abgezogen worden. Nur ein paar wenige Beamte waren noch vor Ort.
Viktor Vossler hatte die Aufgabe, die letzten Reserven zusammenzuziehen, die Kameraden zu motivieren und den Glauben an den Endsieg zu stärken.
An den Endsieg glaubte jedoch niemand mehr, nur gab das keiner zu.
Am 25. April 1945 begegneten sich die amerikanischen und sowjetischen Truppen bei Torgau an der Elbe. Wenig später marschierten die Russen in Berlin ein und Adolf Hitler beging in seinem Bunker unter der Reichskanzlei Selbstmord.
Der Krieg endete mit der Unterzeichnung der ratifizierten Kapitulationsurkunde am 8./9. Mai durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in Berlin-Karlshorst.
Eine Erlösung von all dem Schrecken und Greuel. Doch das würden der Sturmbannführer und seine Kameraden nie laut aussprechen.
Das Kriegsende bedeutete auch einen Neuanfang. Vossler war es bewusst, dass die Welt Deutschland neu ordnen und zur Rechenschaft ziehen würde. Dies hieß auch, dass man ihn jagen, fassen und vor Gericht stellen würde. Der 38-jährige SS-Sturmbannführer müsste sich für seine Taten verantworten, würde verurteilt und im schlimmsten Fall sogar hingerichtet werden.
Obwohl es verboten war, hatte Viktor Vossler den „Feindsender“ BBC gehört, in dem die Amerikaner in regelmäßigen Abständen verkündet hatten: „Wer immer als Mittäter oder Anstifter an Kriegsverbrechen, Massenmord oder Hinrichtung schuldig ist – mag er Offizier, Soldat oder Mitglied der NSDAP sein – die drei alliierten Mächte werden jeden Schuldigen bis in den letzten Winkel der Erde verfolgen und vor seinen Ankläger bringen, auf dass Gerechtigkeit geschehe.“
Viktor Vossler wusste genau, was er getan hatte – tun musste. Er musste es tun, um im System zu überleben, scherte jemand aus, war er sofort degradiert oder gar eliminiert worden.
Er wollte nicht von den Siegermächten vor Gericht gestellt werden, argumentieren und sich rechtfertigen. Ihm würde sowieso keiner glauben. Für die Welt war er ein SS-Sturmbannführer, ein Kriegsverbrecher, ein Schreibtischtäter, der mitgeholfen hatte, Hunderttausende in den Tod zu schicken.
Hätte er es nicht getan, hätte es ein anderer getan.
Er war nicht stolz auf seine Zugehörigkeit und Tätigkeit bei der SS. Doch als die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, gab es für ihn als Architekt nur wenige Möglichkeiten Karriere, zu machen. Also war er in die Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei eingetreten und rasch aufgestiegen. Eines Tages nämlich war er auf einer Parteisitzung Heinrich von Strelitz begegnet, der ihn ab da an förderte. Er war zu einem väterlichen Freund geworden, denn mit seinem eigenen Vater hatte Viktor Vossler seit Jahren keinen Kontakt mehr. Sein Aussehen verschaffte ihm Vorteile in der Partei, denn er war groß, 1,86 m, hatte eine durchtrainierte Statur, blondes kurzes Haar und wasserblaue Augen.
Es war SS-Standartenführer Heinrich von Strelitz, der Viktor Vossler Mitte Mai 1945 in seiner Wohnung anrief, die glücklicherweise unbeschadet geblieben war.
„Der Krieg ist aus und die bolschewistischen Schweine werden unser Land übernehmen“, begann von Strelitz das Telefonat.
„Wir lassen uns das nicht gefallen! Wir werden eines Tages unser geliebtes Vaterland zurückerobern und es von der Schmach befreien ...“
„Worauf willst du hinaus?“, unterbrach Viktor ihn, denn von Strelitz hatte eine Vorliebe für langatmige Propagandareden.
„Viktor, mein Freund. Eins musst du wissen: Unsere Kameraden lassen wir nicht im Stich. Wir müssen jetzt erst einmal unsere eigene Haut retten, untertauchen und im Verborgenen Pläne für die Rückeroberung unseres Vaterlandes schmieden. Es ist schon alles für dich veranlasst, mein Bester. Du wirst eine lange Reise machen müssen, aber am Ende bist du in Sicherheit. Wir werden dich sicher nach Argentinien bringen. Vertraue mir und befolge meine Anweisungen. Gravenwald wird bald bei dir vorbeikommen und dir Unterlagen geben. Du wirst mit dem nächsten Zug nach München fahren, dort wird dich ein Kontaktmann in Empfang nehmen ....“
Viktor lauschte gebannt den Erläuterungen des Standartenführers und staunte mal wieder über die Präzision und Detailliebe dieser SS-Organisation. Sein Weg sollte also nach Südamerika gehen.
Es war schon alles vorbereitet. Der Plan B für den Tag X musste nur noch aus der Schublade gezogen und in die Tat umgesetzt werden. Dieser Tag X war nun eingetroffen.
Heinrich von Strelitz riet ihm als erstes, seine schwarze Uniform zu verbrennen.
Anschließend sollte er die Tätowierung an der linken Achselhöhle unkenntlich machen. Viktor Vossler konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihm die zwei Buchstaben in die Haut eintätowiert worden waren. Es hatte weh getan, doch damals hatte er die Zähne zusammengebissen, um nicht als Schwächling vor seinen Kameraden dazustehen.
Die Buchstaben waren keine zwei S für die Organisation, sondern A und B, seine Blutgruppe.
Die Tätowierung der Blutgruppe sollte ihm und anderen SS-Angehörigen, falls sie verwundet werden sollten, in einem Krankenhaus eine vorrangige Behandlung garantieren.
Nun konnten diese beiden Buchstaben für ihn keine Rettung mehr sein, sondern ihm eher zum Verhängnis werden.
Viktor Vossler fand eine Flasche Schnaps im Schrank. Obgleich er Alkohol verabscheute und diesen Schnaps nur für Gäste aufbewahrte, trank er einen großen Schluck. Angewidert von dem Geschmack nahm er dann ein Messer zur Hand, reinigte die Klinge mit dem Alkohol und desinfizierte auch seinen Oberarm. Mit dem Messer in der rechten und einem Handspiegel in der linken Hand begann er so gut er konnte die Tätowierung zu entfernen. Mit zwei sichelförmigen Schnitten schnitt er sich das verhängnisvolle Hautstück vom Arm. Sofort begann es zu bluten und er band die Wunde rasch mit einem Tuch ab.
Da er alleine war, konnte er hemmungslos fluchen und sogar Tränen traten ihm in die Augen. Es tat verdammt weh. Doch er konnte nicht länger dasitzen und sich selbst leid tun, deshalb wischte er sich mit dem Handrücken die Tränen fort. Ihm blieb nicht viel Zeit für seine Flucht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht packte er seine Sachen, warf einige Kleidungsstücke und sein Rasierzeug in eine Reisetasche. Im Schlafzimmer nahm er das gerahmte Hochzeitsfoto vom Nachtisch in die Hand und betrachtete es. Wie hübsch sie gewesen war, er hatte ihr langes blondes Haar gemocht, dachte er wehmütig.
Während eines Heimaturlaubs hatte er Gertrud auf einer Gartenparty bei Freunden kennengelernt. Sie hatten sich den ganzen Abend unterhalten und anschließend ihre Adressen ausgetauscht. Von da an schrieben sie sich wöchentlich Briefe und Postkarten, lernten sich so besser kennen und schmiedeten bald Pläne für die Zeit nach dem Krieg. Als er ein Jahr später wieder auf Heimaturlaub war, hatten sie kurzfristig geheiratet.
Nur vier Monate später war Gertrud tot. Das Mietshaus, in dem sie wohnte, wurde bei einem Bombenangriff getroffen und er war zum Witwer geworden. Gertruds Briefe bewahrte er in einem alten Schuhkarton auf. Kurz überlegte er, ob er die Briefe mitnehmen sollte, doch dann rügte er sich: „Sentimentaler Quatsch!“
Zuletzt nahm er noch seine Dienstwaffe, eine P.38 mit passender Munition aus einer Schublade und steckte sie ein.
Die Briefe, das Hochzeitsfoto, wie auch andere Dokumente und Unterlagen fielen dem Feuer zum Opfer. Von Strelitz Worte: „Verbrenne alles, was deine Identität ausmacht“, waren nämlich sehr eindringlich gewesen.
Später musste Viktor mühsam sein Hemd wechseln, denn die Wunde hatte durch den Verband geblutet und das Hemd rot gefärbt.
Der angekündigte SS-Mann Gravenwald erschien noch am selben Tag. Er überreichte dem Sturmbannführer einen dicken Umschlag.
„Darin ist ihre Fahrkarte in die Freiheit. Das Geld geben sie dem Kontaktmann in München. Der Treffpunkt steht hier drauf“, sagte Gravenwald und gab Vossler ein paar Geldscheine und einen Zettel mit einer Adresse darauf.
„Viel Glück!“, wünschte er und eilte dann wieder davon.
Viktor Vossler warf einen Blick in den Umschlag und pfiff anerkennend. Heinrich von Strelitz hatte an alles gedacht, denn unter anderem befand sich darin ein Zeugnis auf einem bedruckten Briefkopf. Er las die Ausführungen der harmlos klingenden Dienstaufträge, die er scheinbar in den letzten Jahren getätigt haben sollte. Anschließend legte er den Umschlag mit dem Inhalt ebenso in die Reisetasche. Er vergewisserte sich, dass er nichts vergessen und alle Spuren beseitigt hatte. Dann verließ Vossler die Wohnung im Norden Berlins und machte sich auf den langen Weg zum Bahnhof.
Auf den Straßen Berlins herrschte Angst und Chaos. Die Stadt hatte sehr unter den Bombardierungen der Alliierten gelitten. Häuserruinen und Schutthügel wohin man blickte. Einige Straßen waren durch herumliegende Trümmer unpassierbar, andere Straßen waren von den sowjetischen Truppen mit Kontrollstationen versehen. Menschen mit Handkarren, Rucksäcken und Koffern schleppten sich vorwärts, andere räumten Steine zur Seite oder besserten zerbrochene Fensterscheiben notdürftig aus. Leichen und Pferdekadaver lagen herum, der Gestank, der von ihnen ausging, war entsetzlich.
Soldaten marschierten im Gleichschritt vorbei und Panzerfahrzeuge schoben Schutt und Geröll beiseite. Niemand schien auf den anderen zu achten, jeder war mit sich selbst beschäftigt. Diesem Umstand verdankte es Viktor, dass er unbehelligt zum Bahnhof gelangen konnte.
Von Strelitz hatte ihn gewarnt, dass ihm, sollte er von den Russen aufgegriffen werden, das sibirische Arbeitslager drohe. Außerdem würde der amerikanische Geheimdienst bereits nach SS-Angehörigen fahnden. Im schlimmsten Fall gäbe es nur noch eine Möglichkeit. Diese würde sich in dem Umschlag befinden, meinte sein Freund, und sei eine kleine Giftkapsel.
Am Bahnhof herrschte ebenfalls Chaos. Spuren von Plünderungen waren deutlich zu erkennen, denn die Waggons von Güterzügen waren aufgebrochen worden. Auf den Gleisen lag der Inhalt zerstreut.
In der teilweise beschädigten Bahnhofshalle und an den Gleisen standen und saßen wartende Menschen. Es schien so, als ob ganz Berlin weg wollte.
Die Anzeigetafel für die Züge war zerstört und niemand wusste, wann der Zug nach München abfahren würde. So blieb Viktor Vossler nichts anderes übrig, als ebenso zu warten.
In der Menge entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Es musste Hellmann sein, der ebenfalls bei der SS gewesen war. Mit einem kurzen Kopfnicken signalisierte Hellmann ihm, dass auch er ihn erkannt hatte. Viktor nickte kaum merklich und wendete dann rasch den Kopf in eine andere Richtung. Niemand sollte mitbekommen, dass sie sich kannten, und schon gar niemand sollte sie als ehemalige SS-Angehörige erkennen.
Nach einigen Stunden des Wartens kam eine Durchsage:
„Achtung, Achtung! Demnächst wird ein Zug kommen. Nach einem Aufenthalt von ca. einer Stunde wird dieser Zug voraussichtlich weiter nach München fahren! Ich wiederhole: nach München!“
Als endlich der Zug im Bahnhof hielt, kämpfte sich Viktor Vossler durch die Menge und ergatterte sogar einen der wenigen Sitzplätze im Zug. Es saßen bereits Passagiere in dem Abteil, aber der Platz am Fenster war noch frei. Seine Reisetasche stellte er zwischen seine Beine, rollte die Jacke zu einem Bündel zusammen und lehnte damit seinen Kopf an die Scheibe. Das lange Warten und die ungewisse Zukunft hatten ihn erschöpft. Kaum hatte er die Augen geschlossen, war er eingeschlafen. Der Zug setzte sich nach einer Weile in Bewegung und verließ die zerstörte Hauptstadt Deutschlands.