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Kapitel 2
ОглавлениеViktor Vossler kam in München nach über einer Woche an. Auch München war während des Krieges bombardiert worden. Die imposanten Gebäude des NS-Regimes hatten allerdings, unter Tarnnetzen versteckt, die Bombardierungen unversehrt überstanden. Doch es gab auch zahlreiche Häuserruinen, Schutthügel und unpassierbare Straßen, die es Viktor Vossler schwer machten, seinen Kontaktmann zu treffen. Schließlich fand er den kleinen dicken Mann, in Lederhose und kariertem Hemd am vereinbarten Treffpunkt.
„Franz Breitenhuber“, stellte er sich dieser vor.
Vossler stellte sich ebenfalls vor und überreichte dem Mann das Geld.
Breitenhuber antwortete etwas mürrisch: „Sie komma spad. Von Strelitz hod sie für letzte Woch angekündigt“.
Sein bayrischer Dialekt war für Viktor Vossler kaum verständlich.
Vossler wäre gern schneller nach Bayern gereist, doch dies war ihm nicht möglich gewesen. Die Zugfahrt war die reinste Odyssee gewesen. Natürlich fuhr der Zug nicht von Berlin nach München durch. Die Gleise waren an unzähligen Stellen unterbrochen und Brücken waren zerstört. Der Zug musste immer wieder auf Nebenstrecken ausweichen, bis er schließlich auf offener Strecke bei Landshut stehen blieb. Von dort an musste jeder Passagier selber zusehen, wie er an seinen Zielort kommt. Für das letzte Stück nach München hatte Viktor drei Tage gebraucht. Er war auf Pferdefuhrwagen, oder – auf offenen Ladeflächen von Lastkraftwagen mitgefahren – oder er war zu Fuß marschiert. Auf den Straßen waren zahlreiche Menschen unterwegs, Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurück wollten oder Vertriebene aus den Ostgebieten, die irgendwo eine neue Existenz aufbauen wollten.
Das Gehen war beschwerlich gewesen, denn Vosslers Wunde am Arm hatte sich entzündet und schmerzte. Immer wieder hatte er Alkohol organisieren müssen, um die Wunde zu desinfizieren. Eine Heilung stellte sich allerdings nicht ein. Er musste somit dringend zum Arzt, sonst wäre seine Flucht schneller beendet als ihm lieb war.
Franz Breitenhuber und Viktor Vossler stiegen in einen alten Opel und verließen die Stadt in südlicher Richtung.
„Warn sie scho moi in München gewesen?“, erkundigte sich Breitenhuber und schaltete in den dritten Gang hoch.
Sein Beifahrer war vor ein paar Jahren einmal in München gewesen. Viktor erinnerte sich an die schönen Erlebnisse, wie an die Spaziergänge im Englischen Garten, an die Weißwürste mit süßem Senf, die er mit einer Brezel gegessen hatte, aber auch an die weniger schönen Erlebnisse. Sein Vorgesetzter bei der SS hatte ihn für eine Weile ins Lager nach Dachau geschickt, das nordwestlich der Stadt lag. Das Konzentrationslager Dachau war das erste seiner Art und wurde bereits 1933 errichtet. Es war ein Ausbildungsort für SS-Wachmannschaften und SS-Führungspersonal. Hier hatte er Methoden und Vorgehensweisen gelernt, die er später im Krieg und in Riga angewandt hatte.
Der alte Opel rumpelte über die Straßen. Sie fuhren nicht auf Hauptstraßen, da Breitenhuber befürchtete an Checkpoints der Alliierten gestoppt zu werden. München lag hinter ihnen, und bald waren die Alpen am Horizont zu sehen.
„Da müssen sie rüber“, sagte der Bayer und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Bergkette.
Viktor wusste nicht wie, denn mit seinem verletzten linken Arm würde die Alpenüberquerung schwierig werden.
„Ich habe eine Kriegsverletzung, die sich wohl entzündet hat, und ich muss dringend zu einem Arzt“, bat er.
Franz Breitenhuber nickte. Stundenlang fuhren sie durchs Alpenvorland. Die Berge türmten sich immer höher vor ihnen auf. Auf den Spitzen lag sogar noch etwas Schnee. Der Fahrer kämpfte sich den ersten Berghang hinauf und folgte der steilen Straße.
Abends kamen sie in einem Bergdorf an und quartierten sich in einem Gasthaus ein.
Breitenhuber konnte einen Arzt auftreiben und kehrte mit diesem zu Vossler zurück.
„Wundbrand, das sieht gar nicht gut aus“, stellte der Doktor fest.
„Ich muss das infizierte Gewebe herausschneiden. Leider habe ich kein Morphium. Das muss reichen,“ sagte der Arzt und drückte Viktor Vossler eine Flasche Schnaps in die Hand.
„Selbst gebrannt von meinem Bruder. Nehmen sie ein paar kräftige Schlucke.“
Widerwillig trank der Patient. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war Viktor gezwungen, Alkohol zu trinken, den er sonst verabscheute.
Das Zeug war hochprozentig und benebelte ihn. Nichtsdestotrotz schmerzte es furchtbar, als der Arzt das infizierte Fleisch herausschnitt.
„Verdammt“, schrie Viktor und nahm freiwillig einen weiteren Schluck aus der Flasche.
In der Nacht schlief er unruhig, wachte immer wieder auf, weil sein Arm schmerzte. Hoffentlich würde sich die Wunde nicht ein weiteres Mal infizieren.
Mit müden Gliedern brachen Franz Breitenhuber und Viktor Vossler am nächsten Tag in aller Frühe auf. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Sie fuhren den ganzen Tag, nur durch eine Brotzeit unterbrochen.
Die zweite Nacht mussten sie im Wagen schlafen. Mit steifem Nacken und einem Frühstück aus einem Stück Brot und Käse reisten die beiden Männer weiter durch die Berge.
Endlich erreichten sie ein Kloster. Es war einige Jahrhunderte alt und passte sich gut in die Landschaft ein. Es war ein imposantes Gemäuer. Im Zweiten Weltkrieg war das Kloster ein Lazarett gewesen, doch nun waren die verwundeten Soldaten verlegt worden und der Klosteralltag zurückgekehrt. Es war vereinbart, dass Franz Breitenhuber Viktor Vossler bis hierher begleiten würde. Breitenhuber parkte das Fahrzeug vor dem großen Tor.
„Grüßen sie mir unseren gemeinsamen Freund Heinrich von Strelitz, wenn sie ihn einmal wieder sprechen“, verabschiedete sich der Mann. Vossler stieg aus und während er zum Klostereingang ging, brauste der Opel davon.