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Kapitel 4

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Endlich traf ein Mann im Kloster ein.

„Kraudinger“, brummte er. „Ich werde sie über die Grenze bis nach Meran bringen. Natürlich nicht umsonst“, erklärte er und grinste Viktor Vossler frech ins Gesicht.

Der Mann war dünn, hatte schwarze glatte Haare, schmale dunkle Augen, die ständig misstrauisch umherwanderten. Mitte 50 schätzte Viktor sein Alter. Eine schlecht verheilte Narbe zog sich von der rechten Wange bis hinunter zum Hals. Fast ununterbrochen rauchte er und seine Finger waren vom Tabak gelblich gefärbt. Kraudinger und Vossler verließen das Kloster noch am selben Tag zu Fuß.

Kraudinger trug dicke Wanderstiefel an den Füßen, einen Rucksack auf den Schultern und hatte einen hölzernen Wanderstock bei sich. Sofort legte er ein ordentliches Lauftempo vor. Viktor Vossler war für eine Bergwanderung nicht ausgerüstet. Seine Schuhe waren normale Straßenschuhe und die Reisetasche war ebenfalls unpraktisch. Doch der Bergführer nahm wenig Rücksicht auf seinen Begleiter. Doch es dauerte nicht lange bis Viktor seinen Gehrhythmus gefunden hatte. Er war froh ausreichend körperlich fit für so eine Wanderung zu sein. Sie liefen schweigend, was Viktor Gelegenheit gab über die vergangenen Jahre nachzudenken und natürlich über die Zukunft in einem für ihn fremden Land in Südamerika.

Am ersten Tag kehrten sie abends in das Gasthaus „Zum Wolf“ ein. Dieses Mal hing nicht der Gekreuzigte über der Eingangstür, sondern ein handgemalter Wolfskopf. Kraudinger bestellte für sie beide beim Gastwirt eine Schinkenplatte mit Brot, die sie ebenso schweigend aßen. Selbst beim Essen rauchte der Mann. Er drückte seine Zigarette aus und schob ein Stück Schinken in den Mund. „Das Geld für heute“, forderte er kauend.

Viktor gab ihm angewidert das Geld. Selten war ihm so eine unsympathische Person begegnet. Wie froh würde er sein, wenn er diesen Mann in Meran los sein würde. Bis Meran waren es allerdings noch einige Tage Fußmarsch, wie ihn Kraudinger wissen ließ.

Nach einem deftigen Frühstück am nächsten Tag, mit Eiern und Speck, bezahlte Viktor den Wirt. Er zog einfach ein paar Scheine aus einem der Bündel, die ihm der Abt im Kloster gegeben hatte. Ob es sich dabei um gefälschtes Geld handelte, wusste er nicht und er hoffte, der Wirt würde es nicht überprüfen.

Vom Gasthaus machten sich Kraudinger und Vossler weiter auf Richtung Süden. Die Landschaft war herrlich. Sie kamen an einem kristallklaren See vorbei, auf dessen Oberfläche sich die Berge widerspiegelten, sie passierten Holzbrücken über sprudelnde Bäche, gingen durch dunkle Wälder und überquerten bunte Blumenwiesen.

Tagsüber wanderten sie, nachts schliefen sie in entlegenen Gasthäusern, in anderen Bergklöstern oder in verlassenen Berghütten.

Eines Tages hatten sie vorsichtig eine Wiese mit weidenden Kühen überquert, als Kraudinger auf einmal verkündete: „Jetzt sind wir in Südtirol!“

Die nächste Nacht verbrachten sie abermals in einer Hütte. Kraudinger wollte die Tür der Hütte auftreten, als er bemerkte, dass die Tür bereits einen Spalt geöffnet war.

Er gab Viktor ein Zeichen leise zu sein und holte aus seinem Rucksack ein Messer. Mit dem Messer in der Hand stieß er die Tür weiter auf und trat in die Hütte. Viktor wartete so lange draußen, bis Kraudinger ihm ein erneutes Zeichen gab eintreten zu können.

„Alles in Ordnung. Hier ist niemand“, grummelte er und steckte das Messer zurück in den Rucksack.

Die Männer standen in einem größeren Raum mit einem Tisch, um den sich eine Eckbank wandte, gegenüber befand sich ein Kachelofen.

„Was ist mit der Tür da?“, fragte Viktor und zeigte auf die niedrige Tür neben dem Kachelofen, die eher wie eine Luke wirkte.

„Sie klemmt!“, antwortete Kraudinger.

„Dahinter ist sicher der Stall, aber Vieh wird wohl nicht mehr darin sein.“

Er ging ein paar Schritte und deutete auf einen Nebenraum, in dem ein Bett und ein Schrank standen.

„Hier können sie schlafen“, bestimmte er.

Aus einer Speisekammer nahmen die Männer ein paar Lebensmittel und aßen davon. Reich gefüllt war sie allerdings nicht, aber es reichte um den Hunger zu stillen. Danach ging Viktor in den Nebenraum. Er entkleidete sich nicht, sondern zog lediglich seine Jacke aus und deckte sich damit zu. Das stundenlange Wandern hatte ihn erschöpft. Seine Füßen schmerzten vom Gehen. Die Stelle, wo die Tätowierung am linken Arm gewesen war, tat vor allem abends weh, besonders wenn er lange die Reisetasche auf der linken Seite getragen hatte. Kaum hatte Viktor die Augen geschlossen, schlief er aber, trotz der Schmerzen, sofort ein.

„Wen haben wir denn da? Aufstehen, sofort!“, weckte ihn eine brüllende Stimme.

Erschrocken fuhr Viktor im Morgengrauen aus dem Schlaf. War er damit gemeint?

Doch im Raum war niemand. Es musste also in dem anderen Raum sein. Er hörte ein Poltern und dann den Schrei einer Frau. Viktor wollte wissen, was da los war und ging nach nebenan. Dort bemerkte er, dass die niedrige Tür, die zum Stall führte, offen stand. Auf dem Tisch lag eine Frau, ihr Kleid war bis zur Hüfte hoch geschoben und entblößte ihre Beine.

Sie musste in dem Stall gewesen sein und Kraudinger hatte sie dort entdeckt, vermutete Viktor. Jetzt wollte er sich an der Frau vergehen. Kraudinger hatte sich über sie gebeugt und schlug ihr immer wieder kräftig, mit dem Handrücken ins Gesicht: „Jetzt hab' dich doch nicht so!“

Viktor Vossler riss den Mann von der wehrlosen Frau fort. Kraudinger fiel rückwärts, schlug mit dem Kopf gegen die Kante des Kachelofens und blieb reglos liegen.

Die Frau, befreit von ihrem Peiniger, glitt vom Tisch und richtet ihr Kleid, das an der Schulter eingerissen war. Ängstlich schaute sie zu dem Fremden, der sich zu dem am Boden liegenden Mann hinunter gebeugt hatte und diesem den Puls fühlte. Vossler schüttelte den Kopf - Kraudinger war tot. Viktor schleifte den leblosen Körper aus der Hütte. Draußen durchsuchte er die Kleidung des Toten, fand eine Landkarte und das Geld, das er ihm zuvor gegeben hatte. Beides steckte Viktor ein um dann anschließend mit einem Stein das Gesicht des Toten zu zertrümmern.

Zurück in der Hütte fand Viktor die verängstigte Frau auf der Eckbank sitzend vor.

„Keine Sorge. Ich tue ihnen nichts“, versicherte er ihr.

Er durchwühlte Kraudingers Rucksack und beschloss, dass er zu gebrauchen war.

„Wir müssen hier verschwinden. Nehmen sie alles Essbare aus der Speisekammer mit und tun sie es hier in den Rucksack.“

Seine Stimme hatte einen bestimmenden Ton. So hatte er immer zu seinen Untergebenen gesprochen, die den jeweiligen Befehl sofort ausführen mussten. Diese Rolle gefiel ihm besser als die des Bittstellers.

Die Frau starrte auf die Stelle, wo der Tote gelegen hatte. Blut klebte dort.

„Was ist? Oder wollen sie etwa hier bleiben?“, fragte Viktor ungeduldig, als er bemerkte, dass die Frau sich nicht rührte. Sie schüttelte heftig den Kopf und ging zur Speisekammer.

Ein paar Äpfel waren noch darin, die sie in den Rucksack packte. Danach holte sie ihren Wollmantel, den sie im Stall liegen gelassen hatte und zog ihn an.

„Fertig?“, wollte Viktor wissen und hielt seine Reisetasche in der Hand. Die Frau bejahte leise und sie verließen gemeinsam die Hütte.

Der Weg führte talabwärts, und als sie schon einige Zeit schweigend gegangen waren, fragte Viktor wie ihr Name sei.

„Ich heiße Hannah. Und wer sind sie?“

Der Name Hannah klang jüdisch, fand er. Aber sie sah gar nicht nach einer Jüdin aus.

„Ich bin Viktor.“

Er betrachtete die Frau und schätze ihr Alter auf Ende 20. Ihre Figur war mager und ihre kurzen Haare waren haselnussbraun. Unter dem grauen Wollmantel trug sie ein blaues Kleid. Der Wollmantel war für diese Jahreszeit viel zu dick. Dennoch schien die Frau darin nicht zu schwitzen, obgleich es Ende Juni und es selbst in den Bergen angenehm warm war.

In der einen Hand hielt die junge Frau einen Beutel, sonst hatte sie keinerlei Gepäck bei sich. Er fragte sie: „Woher kommst du?“

Hannah war sich unsicher, ob sie diesem fremden Mann vertrauen konnte.

Nach kurzem Zögern antwortete sie nur, dass sie aus Breslau in Niederschlesien sei.

In Breslau war sie zuletzt vor drei Jahren gewesen. Doch dies verschwieg sie dem Fremden. In den ersten Kriegsjahren hatte sie mit ihren Eltern und ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Jakob in einer Wohnung gelebt, bis sie später in ein Ghetto zwangsumgesiedelt wurden. Dort mussten sie sich mit einer anderen Familie zwei kleine Zimmer teilen. Als das Ghetto 1942 aufgelöst wurde, begann ihre Odyssee durch verschiedene Sammel- und Arbeitslager in Schlesien. Zuletzt war sie nach Auschwitz deportiert worden.

„Das ist ganz schön weit weg von hier“, staunte Viktor Vossler.

„Ja, ich bin mit einem Flüchtlingstreck erst nach Brünn und dann weiter nach Wien gezogen“, erwiderte sie. Es war nicht ganz die Wahrheit. Aber Hannah verschwieg lieber ihren eigentlichen Herkunftsort. Am 27. Januar 1945 hatte die Rote Armee, die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreit. Zuerst wusste Hannah nicht was sie mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen sollte, denn von ihrer Familie war niemand mehr da. Eines wusste sie jedoch: Sie wollte weg aus Schlesien und hatte sich deshalb einem Treck aus Überlebenden, Flüchtlingen und Vertriebenen angeschlossen.

Im Treck hatte es sich schnell herumgesprochen, dass von Genua aus Schiffe nach Palästina fahren würden. Die Idee, ins gelobte Land auszuwandern, gefiel ihr. Es schien ihr ein guter Plan zu sein.

Je weiter sich der Flüchtlingstreck nach Westen bewegte, je mehr Menschen verließen ihn. Einige starben auch vor Erschöpfung, und blieben am Wegesrand liegen. Am Ende waren nur noch Hannah und ein Mann namens Gavril übrig, die weiter nach Genua wollten. Gemeinsam traten sie den beschwerlichen Weg über die Alpen an. Nachts schliefen sie unter freiem Himmel, in Gasthäusern, in Scheunen oder verlassenen Berghütten. Geld hatten Gavril und Hannah kaum und waren daher auf Almosen der Bergbewohner und auf das was die Natur hergab, angewiesen.

Manchmal stahlen sie auch auf Bauernhöfen ein paar Eier oder Obst. Bei ihrem letzten Diebstahl starb ihr Begleiter. Ein wütender Bauer hatte Gavril erschossen. Hannah konnte entkommen und wanderte wie in Trance weiter. Als sie diese Berghütte entdeckte, wollte sie einfach nur noch schlafen und nie wieder aufwachen. Sie brach die Tür auf und suchte ein Versteck. Mit Mühe konnte sie die niedrige Tür zum Stall öffnen und legte sich dort ins Stroh. Dieser Stall kam ihr sicherer vor als die Schlafstube. Doch irgendwie hatte der Mann mit der hässlichen Narbe die Stalltür aufbrechen können. Er hatte sie herausgezerrt, mehrmals geschlagen und versucht sie zu vergewaltigen. Zum Glück war dieser andere Mann ihr zu Hilfe gekommen.

„Danke, dass du mir geholfen hast“, sagte sie leise, denn es war ihr unangenehm über die Situation zu sprechen. Sie war ihm sehr dankbar, er hatte sie vor Schlimmerem bewahrt. Wäre er doch nur damals bei einem anderen Übergriff auch dagewesen, dachte sie traurig.

„Schon gut“, murmelte Viktor Vossler.

Zeiten der Lügen

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