Читать книгу In der zweiten Reihe - Kathrin Thiemann - Страница 12

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Wer suchet, der findet?

Ernst hat Post von Wilhelm bekommen. Es war endlich so weit, sein Herz hatte ein Gegenüber gefunden. Anders als wir erwarteten, war es nicht Fräulein Ottsen, sondern eine Pfarrerstochter, die er schon von Kindesbeinen an kannte. Immer wieder einmal kehrte er bei seinen Wanderungen in seinen Ferien dort ein. In diesen Tagen waren sie sich näher gekommen, schrieb er. Verlobt hatten sie sich noch nicht, aber er stand kurz davor, sie zu fragen. Er war des Lobes voll über sie, wenn ihr auch eine höhere Schulbildung fehlte. Das sei zwar nicht ausschlaggebend für eine Pfarrfrau, aber er hatte das Empfinden, dass man manches nicht mit solchen Mädchen besprechen könnte, weil es Sprachkenntnisse und philosophische Bildung voraussetzte. Natürlich war ihm ein Mädchen mit liebem und treuem Herzen eher willkommen als eines, das einem Wörterbuch der allgemeinen Bildung glich. Doch solch ein Mädchen zu finden war sehr schwer. Wichtig war ihm vor allem Gesundheit an Leib und Seele, ein achtbares Elternhaus und ein Herz, das seinen Heiland kennt. Das fand er in Gertrude Holstemeier.

Wir sahen uns an.

»Wilhelm hat ziemlich hohe Ansprüche«, meinte Ernst und ich pflichtete ihm bei. Da war ich dann tatsächlich nicht die Richtige für ihn gewesen.

Allerdings war Gertrude nicht so stürmisch wie er, schrieb er noch, sie empfand nicht mit seiner Glut.

Wieder sahen wir uns an.

»Wenn das mal gut geht«, sagte ich und diesmal pflichtete Ernst mir bei.

Schürze statt Buch

Da ich bald heiraten würde, riet mir mein Vater, jetzt ganz praktische Dinge zu lernen, nämlich das, was ich wohl als Pfarrfrau brauchte. Damit war ich überhaupt nicht einverstanden. Doch er setzte sich durch. Mit meiner Verlobung war mir nun ein anderer Weg vorgezeichnet. Seufzend nahm ich mir vor, ihn anzunehmen und nach meinem Konfirmationsspruch geduldig und fröhlich in Hoffnung sein. Was das noch alles für mich bedeuten sollte, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.

Solange Ernst noch studierte, machte ich zunächst einmal ein Haushaltsjahr. Da meine Mutter so früh starb, hatte ich von ihr in dieser Hinsicht nicht viel lernen können. Niemand hat mich in solche Dinge eingewiesen, also schien das wohl nötig zu sein - fand mein Vater. Er schrieb ein Bewerbungsschreiben auf eine Anzeige und empfahl mich in einen Pfarrhaushalt.

»Sie wünschen sich ein gebildetes junges Mädchen«, sagte er. Gebildet? Vielleicht konnte es doch gut werden? Also machte ich mich auf den Weg nach Wehrendorf an der Weser. Dort kam ich tatsächlich in einen gebildeten Haushalt. Die Bibliothek war eindrücklich.

»Ja, du darfst dir gerne ein Buch ausleihen und lesen. Aber erst, wenn die Arbeit getan ist«, sagte die Frau des Hauses. So strich ich beim Abstauben die Bücherreihen entlang und suchte mir schon einmal eines aus. Doch zum Lesen kam ich kaum. Ich war neben allem, was ein solcher Haushalt alles an Kraft verbraucht, auch für die Kinder zuständig. Das war das Schönste in diesem Jahr. Die Kinder mochten mich und ich mochte sie. In erster Linie, das musste ich leider sehr schnell erkennen, war ich allerdings für die Wäsche verantwortlich, Stopfen, Bügeln und vor allem Waschen. Warum sollte ich dafür ein gebildetes junges Mädchen sein?

Ich fürchtete, dass ich wohl mein ganzes Leben lang, meine vom eisigen Wasser schmerzenden Finger spüren würde. Im tiefsten Winter musste ich nämlich die Wäsche im Wasser reiben, spülen und auswringen. Ich nahm mir fest vor, wann immer möglich diese Arbeit zu vermeiden und abzugeben. Vielleicht würde ich ja in unserem zukünftigen Pfarrhaushalt auch Hausmädchen bekommen. Zu ihnen würde ich immer freundlich sein. Unsere Bücher dürfen sie ausleihen und ich würde ihnen viel über Kunst erzählen.

Trugschluss

Als wir uns an Weihnachten endlich wiedertrafen, war es plötzlich aus mit Ernst und mir. Er löste die Verlobung, weil ich ihm zu kalt war und zu unnahbar, sagte er. Immer wieder hatte er deshalb auch Augen für andere Mädchen gehabt und verließ mich dann endgültig. Obwohl wir uns doch einander versprochen hatten, hielt ihn das nicht von einer Trennung ab.

»Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber ich schaffe es nicht«, sagte er. »Kaum kommt ein Anstoß von der Seite, ist es mit meinem Entschluss vorbei.«

Was war an mir so schwierig? Liebte ich nicht tief genug? War ich nicht leidenschaftlich genug? Nein, leidenschaftlich war tatsächlich nicht meine Sache, aber ich war treu und blieb es auch. Ich hatte schon immer den berühmten langen Atem, der mich durch Höhen und Tiefen getragen hat. Vielleicht hätte ich die Leidenschaft noch lernen können. Hatte ich ihm etwa vorschnell mein Wort gegeben? Ich versuchte, Ernst keine Vorwürfe zu machen, aber es gelang mir nur schwer. Ich war sehr gekränkt. Zum einen, weil er mich vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Zum anderen war es eine Schmach, verlassen zu werden. Sollte ich die Trennung vor meiner Familie mit der fehlenden Leidenschaft begründen? Nein, da würde ich mich schämen.

Nun kam mir ein anderer Gedanke, der mich erstarren ließ. Für das Leben mit ihm hatte ich mein Studium aufgegeben, das war das Schlimmste. Zurück an die Universität war jetzt vermutlich nicht mehr möglich. Vater wollte davon nichts mehr wissen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich auf Ernst. Wie hätte mein Leben ohne diese dämliche Verlobung aussehen können? Ich weinte aus Enttäuschung und aus Wut – wenn mich niemand sah. Die Blöße gab ich mir nicht.

1922

Listen statt Schürze

Endlich war dieses schreckliche Jahr geschafft. Nein, die Arbeit im Haushalt war nichts für mich. Ohne einen Mann an meiner Seite musste ich ohnehin Geld verdienen. Zurück in Paderborn bekam ich bei Vaters Arbeitgeber, dem Reichswehrministerium, eine Anstellung, in der Abteilung Heeresunterkunftsamt. In diesem Büro war es schön warm und insgesamt sehr viel angenehmer als in einer Waschküche. Dort wurde ich Büro- und Kassengehilfin, meine Aufgaben waren das Aufstellen von Lohnlisten, Krankenkassen, Invalidenversicherung und verschiedene Steuerangelegenheiten.

»Sie müssen die Ihnen übertragenen Arbeiten mit Sorgfalt und Fleiß pünktlich und gewissenhaft ausführen und Ihre volle Arbeitskraft den dienstlichen Pflichten widmen«, sagte mein Vorgesetzter. Darauf wurde ich mit Handschlag verpflichtet.

»Gleichwohl verpflichten Sie sich, über dienstliche Tätigkeit strengste Verschwiegenheit zu bewahren, das gilt auch noch nach Ausscheiden aus dem Dienst.«

»Jawohl, verstanden.«

Jeden Monat klebte ich mir gewissenhaft eine Steuermarke für meine Angestelltenversicherung in ein kleines Heftchen. In dem dafür vorgesehenen Feld musste ich diese handschriftlich mit dem jeweiligen Datum entwerten. Manchmal fragte ich mich, ob die Vorlesungen der Nationalökonomie dafür gut gewesen waren. Ich war froh, überhaupt eine Arbeit zu haben. Solch kleine Tätigkeiten sorgfältig zu erledigen, machte mich zufrieden. Es erinnerte mich ein wenig an meine Briefmarken-Sammlung. Auch damit konnte ich mich lange beschäftigen.

Manchmal wurde ich gefragt, ob mir diese Arbeit gefiel. Auf jeden Fall fand ich sie besser als das Haushaltsjahr. Immerhin entsprach sie meiner Sorgfalt und meinem Ordnungssinn im Kleinen.

Wilhelm sagte später über mich: »Die Mutter ist in den kleinen Dingen ganz groß und in den großen Dingen ganz klein.« Dazu schwieg ich dann.

Leises Anklopfen

Eine Postkarte von Wilhelm kam vom Bodensee. Er studierte inzwischen in Tübingen und war zu Beginn der Semesterferien ein paar Tage auf Schusters Rappen unterwegs. Er dachte an mich, freundlich war die Postkarte. Ich fragte mich, ob Ernst ihm von der Auflösung unserer Verlobung berichtet hatte. Standen die beiden noch in Kontakt, waren sie noch Freunde?

Kurz darauf kam ein ausführlicher Brief. Hier schrieb er über sein bevorstehendes Examen und dass er auf der Suche nach einem Platz für ein letztes, ein besonderes Semester war. Utrecht stand zur Debatte. Er würde überall in Europa hingehen, am liebsten bliebe er allerdings in Deutschland. Und dann kam sein noch immer aktuelles Thema. Er schrieb mir ganz offen, wie es seine Art war, über die Einsamkeit. Er berichtete von seiner Unfähigkeit, ein Mädchen in Liebe an sich binden zu können, im Gegenteil, sie mit seiner Leidenschaft eher zu erschrecken. Dass er ausgerechnet mich zu diesem Thema als Ziel seiner Gedanken auswählte, überraschte mich.

Gleich setzte ich mich an den Sekretär und griff zu Papier und Feder.

»Lieber Wilhelm.

Ich würde mir an Deiner Stelle nicht so viel den Kopf darüber zerbrechen, wer einmal Deine Weggenossin sein wird. Lege alles in Gottes Hand. Wenn er Dich glücklich machen will, dann wird er Dir schon zur Zeit die Augen öffnen und Dir die Richtige in den Weg schicken. Binde Dich nur nicht eher, als bis Du die frohe Gewissheit hast: ,Sie ist die mir von Gott bestimmte‘, und als bis Du die Kraft in Dir fühlst, auch für sie die Verantwortung übernehmen zu können. Helene.«

Er ging mir immer wieder durch den Kopf. Auch die Worte von Elisabeth Dauner, dass er das ganze Leben mit mir gehen wollte. Damals ahnte ich nicht, wie kurz mein Weg mit Ernst werden würde. Der hatte mich verzaubert mit seinem Strahlen, seinem Charme. Nun verzauberte er eine andere.

In Wilhelms Antwortbrief las ich, dass er demnächst auf dem Weg nach Bielefeld sei. Er wollte sich Bethel ansehen, den Stadtteil, in dem die Anstalten lagen und mich gerne auf dem Weg dorthin besuchen. Ob mir das recht sei? Das war es natürlich. Ich freute mich auf den Besuch, denn ich hatte ihn lange nicht gesehen, gewiss eineinhalb Jahre. Zuletzt im Mai 1921, als Ernst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und er uns zum Bahnhof brachte.

Er strahlte, als er aus dem Zug stieg. Er sah gut aus, zufrieden und stattlich. Vater gestattete es, ihn bei uns einzuquartieren. Ich zeigte ihm meine Bücher und wir saßen stundenlang zusammen und blätterten darin herum. Dann ließ er sich von mir durch die Stadt führen, wir gingen zusammen spazieren und holten Vater vom Büro ab.

Beide umschifften wir das Thema Ernst, bis Wilhelm irgendwann tief Luft holte:

»Ernst hat mir deinen Abschiedsbrief gezeigt.«

Also wusste er jetzt Bescheid. Jahre später erzählte er mir, dass Ernst ihm auch gesagt hatte:

»Jetzt kannst du gehen, der Weg ist frei.«

Wie gut, dass er jetzt schwieg.

Doch neugierig war ich auch.

»Wie geht es Fräulein Ottsen?«

»Das weiß ich nicht, ich habe sie seit dem Winter nicht mehr gesehen.«

Also hatte ich mich damals geirrt, als ich dachte, mit ihnen beiden könnte es etwas werden.

Jetzt schwieg Wilhelm wieder und ich fragte nicht weiter. Er hatte es also in dem Brief wirklich ernst gemeint, als er von seiner Einsamkeit sprach.

In der zweiten Reihe

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