Читать книгу In der zweiten Reihe - Kathrin Thiemann - Страница 13

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Vorwärts geschaut!

Mein Bruder fand Wilhelm einen beeindruckenden Mann und bat ihn, in sein Album zu schreiben. Das tat er gerne. Erich zeigte es mir später.

»Paderborn, 24.10.1922

Ein treuer Freund kann Dir sein, wer Deine Sehnsucht teilt und ein Bruder, der den gleichen Weg mit Dir gehen will. Aber der beste Freund und der liebste Bruder kann keinen Schritt für Dich gehen. Darum bist Du am Ende immer allein – mit Deinem Gott.

Zum Anfang unser Freundschaft

Wilhelm«

Ich ließ es mir nicht nehmen und bat darum, in sein Tagebuch schreiben zu dürfen, was er mir freudig gestattete. Nach allem, was er mir erzählte, war er ein Zweifler vor allem an sich selbst. Ich wollte ihm Mut und Gelassenheit geben.

»Willst Du ein Ziel erreichen,

ein schweres ohnegleichen,

darfst Du nicht ängstlich schwanken,

nach rechts, nach links nicht wanken:

Nein, vorwärts geschaut!

Auf Gott vertraut!

Dann wird’s gelingen,

Du wirst’s erringen!

(E.Schütze)

Dir, lieber Wilhelm, und Deiner Arbeit wünscht Gottes Segen

Helene«

Zum Abschied schenkte ich ihm mein Hebräisch-Wörterbuch. Er konnte es gut brauchen und bei mir stand es bloß auf dem Bücherbrett herum.

»Auf ein recht baldiges Wiedersehen«, verabschiedete Vater ihn, als er am nächsten Morgen weiter nach Bethel fuhr. Ich horchte auf. Mochten die beiden Männer sich?

Schon zwei Wochen später kam Wilhelm wieder. Diesmal hatte er einen anderen Vorwand. Wir hatten beim letzten Besuch über ein Muster für Stickereien gesprochen und über Bänder und Spitzen. Sogleich hatte er bei seinem Vater nachgefragt und kam mit einem kleinen Beutel voll an. Er musste gleich am nächsten Tag wieder zurück, aber auch diesmal hatten wir schöne Stunden miteinander. Er erschien mir nicht mehr so redselig und leidenschaftlich wie früher. Mein Gefühl sagte mir, er hatte sich ein wenig ausgetobt und ruhte mehr in sich.

Ich wusste selbst nicht so recht, was ich wollte. Es zog mich zu ihm. Meine Sorge war jedoch groß, dass ich wieder enttäuscht würde. Diesmal wollte ich mich gründlich prüfen, nicht wieder voreilig ja sagen. Immerhin hatte er schon für so manches Mädchen geschwärmt. Ich musste sicher sein, dass es ihm wirklich um mich ging und nicht darum, nicht mehr einsam zu sein.

Der nächste Brief kam aus Bethel. Tatsächlich hatte sich Wilhelm dort an der Theologischen Schule für sein vorletztes Semester eingeschrieben. Weil in Bethel eine meiner Tanten wohnte, nutze ich einen Besuch bei ihr als Anlass, mich mit ihm zu treffen.

Er hatte sich sehr gefreut, als ich mich ankündigte, allerdings war an diesem Wochenende auch seine Mutter da.

Bertha Simon, ich hatte sie schon kennengelernt, damals, als ich mit ihm und Ernst nach Hause in die Weihnachtsferien fuhr. In Barmen hatte sie uns ein blitzschnelles Frühstück gezaubert. Vielleicht wäre es gut, auch sie einmal wieder zu sehen. Vielleicht würde ein Treffen etwas mehr Klarheit bringen in meine Gedanken? Eine Mutter ist ja ein wesentlicher Mensch für einen Mann.

So saßen wir zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer des Studentenwohnheimes und Wilhelm ließ uns Kakao bringen. Es war November und kalt, da tat das heiße Getränk gut. Nur Ernst fehlte in dieser Runde. Diesen Gedanken scheuchte ich schnell beiseite. Er hatte sich selbst ausgeschlossen.

Als ich aufbrach, wollte Wilhelm mich unbedingt die kurze Strecke durch den Wald begleiten und ließ dafür sogar seine Mutter eine halbe Stunde alleine. Da es so dunkel war, hängte ich mich bei ihm ein, natürlich nur, um nicht zu fallen. Die etwas ängstliche Tante stand schon am Fenster und hielt Ausschau.

»Du brauchst keine Angst haben, Tante Gerda, ich bin unter männlichem Schutz gekommen.«

»Jaja, ich hab es mir doch beinahe gedacht.«, erwiderte sie. Wir verabredeten noch, dass Wilhelm und seine Mutter uns beide am nächsten Tag zum Spaziergang abholten. Es wurde zwar ein recht kalter und nebeliger Spaziergang, aber so haben wir uns doch wenigstens noch einmal sehen können. Wenn auch ein Spaziergang zu viert etwas ganz anderes war als einer zu zweit.

1923

Wie weiter?

Ernst hatte sich wieder verlobt, hörte ich. Das machte mir mehr aus, als mir lieb war. Er war immerhin meine erste Liebe gewesen. Doch weg mit dem Gedanken. Ob aus Wilhelm und mir etwas wurde, bezweifelte ich. Immer wieder kamen mir seine hohen Ansprüche in den Sinn und ich glaubte kaum, dass ich die Richtige dafür war. Und nur um unter die Haube zu kommen, ging ich bestimmt nicht noch einmal eine Verlobung ein. Es gab gewiss etliche, die durch Leid gute Menschen wurden. Ich glaubte nicht, dass ich dazu gehörte. Ich fürchtete, Leid und Sorgen hätten mich eher schlechter gemacht. Ich fand mich manchmal ungeduldig mit meinen Kolleginnen im Büro meines Vaters und auch mit meinen Geschwistern. Entgegen meinem Naturell hatte ich in diesen Tagen eine eher missmutige Stimmung. Im neuen Jahr 1923, das gerade begann, sah ich für mich keinen Lichtblick. Die Arbeit forderte mich nicht heraus, um mich herum geschah eine Verlobung nach der anderen und ich saß als alte Jungfer dazwischen. Was hatte ich schon vorzuweisen? Ein abgebrochenes Studium und eine abgebrochene Verlobung. In den Zeitungen konnte ich davon lesen, was Frauen jetzt alles leisteten. Sie wurden Pilotinnen und Ärztinnen, wir konnten wählen gehen und uns die Haare kurz schneiden. Wir durften Hosen tragen und ohne Ehemann leben. Für mich schien das alles nicht zu gelten.

Zum Glück hatte ich genügend Dinge, an denen ich mich erfreute. Ich las schon immer gerne oder ich setze mich ab und zu an unser Klavier. Viel konnte ich nicht, aber einige Lieder spielte ich immer wieder. Oder ich nahm die Gitarre, um die Volkslieder aus dem Zupfgeigenhansel zu singen. Dieses Liederbuch der Wandervogelbewegung kannte ich schon seit ein paar Jahren, im Laufe der Zeit wollte ich das gesamte Buch auswendig lernen. So könnte ich jederzeit und überall singen.

Auch meine Briefmarkensammlung, mit der ich mich schon seit meiner frühen Jugend beschäftigte, machte mich zufrieden. Ich hielt regelmäßigen Kontakt zu anderen Briefmarkenfreunden, zu Schulfreundinnen und Verwandten, denen ich fast täglich Briefe schrieb.

Mein reger Briefwechsel mit Wilhelm tat mir gut. Er schrieb so viel über sein Studium, ich konnte mich in seine Überlegungen, seinen Glauben und auch seine Zweifel gut hineinfühlen. Manches Mal versuchte ich auch mein Wissen mit einzuflechten, das schien er anzuerkennen. Dieser Austausch war vor allem für meinen Verstand eine Wohltat.

Anlässlich meines nächsten Besuches bei Tante Gerda ließ ich es darauf ankommen und ging auf dem Weg von der Bahn auf gut Glück bei ihm vorbei. Einen ganz anderen Wilhelm fand ich so vor. Ich entdeckte ihn auf dem Schulhof beim Turnen, bei seinen Freiübungen, in Hemd und Hose. Das war ihm ein bisschen unangenehm, doch was ich sah, gefiel mir. Ein durchtrainierter, stattlicher Mann, dem die Bewegung sichtlich Freude machte. Ich konnte nicht lange bleiben, es wurde nur ein kurzer Gruß, den ich ihm geben konnte.

Wenig später kam er wieder nach Paderborn. Vater hatte nichts dagegen und so wurden es einige Besuche, oft sogar zwei im Monat.

Erst nach einer Weile begriff ich es. Vater hatte nichts gegen eine Verbindung zwischen uns und hoffte sogar, dass ich so endlich unter die Haube käme. Dass Wilhelm bei ihm sogar schon um meine Hand angehalten hatte, wusste ich allerdings nicht. Beide schwiegen dazu.

»Die Milch!«

Über Pfingsten kam er wieder zu Besuch. Zwischen uns war eine immer deutlichere, durchaus angenehme Spannung gewachsen. Entgegen seiner Art schwieg er oft an meiner Seite, wenn wir uns nicht gemeinsam mit einem Bild oder Buch beschäftigten. Ob er sich nicht stürmisch zu meinen Füßen werfen wollte, sich lieber zusammen riss? Ob er Sorge hatte, frühere Fehler zu wiederholen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder.

An den Feiertagen hatten wir viel Zeit und wenig Arbeit. Obwohl er mitten in seiner Examensarbeit steckte, hatte er gut vorgearbeitet, damit er diese Tage freihalten konnte. Wir saßen am Nachmittag in der guten Stube auf dem Sofa und lasen in alten Briefen meiner Brieffreundinnen. Ich war in der Küche gewesen und hatte Milch für einen Kakao aufgesetzt. Walters rechter Arm lag wie zufällig hinter mir auf der Sofalehne und wir saßen recht dicht beieinander. Da fand ich die Postkarte von Ernst und ihm, die sie mir zum ersten gemeinsamen Neujahrstag geschrieben hatten. Dort stand zum ersten Mal dieser Satz Glück auf den Weg!

»Kennst du die noch?« fragte ich ihn und sah ihn an.

»Aber natürlich«, antwortete er und blickte mir tief in die Augen.

»Hast du denn damals mit einem Gruß von uns gerechnet?«

»Ich hatte schon Weihnachten darauf gewartet«, erwiderte ich. Es klang wie ein Bekenntnis.

Da spürte ich seine Hand an meinem rechten Arm und wie er meine linke Hand mit seiner linken nahm.

»Ach du, jetzt kommt es also heraus.«

Eine Weile saßen wir so ganz still, ohne ein einziges Wort. Mir wurde eng um die Brust. Plötzlich sprang ich auf.

»Die Milch!« rief ich und lief hinaus in die Küche.

Zum Glück kochte sie noch nicht über, ich kam im allerletzten Moment, um sie vom Feuer zu ziehen. Damit war auch der Zauber vorbei. Es war noch einmal gut gegangen. Blitzschnell flogen die Gedanken durch meinen Kopf. Die Verlobung mit Ernst war schief gegangen. Bitte nicht nochmal diese Schmach. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt in der Lage war, richtig zu lieben. Wilhelm war so unglaublich romantisch. Würde ich ihm geben können, was er haben wollte, vielleicht sogar brauchte? Wenn ich es wagte, wenn ich mich ihm hingab, wurde vielleicht auch klarer, was aus mir werden sollte, nämlich doch eine Pfarrfrau.

Ich musste schon viel zu früh selbstständig sein, jetzt würde ich die Verantwortung für mein Leben teilen können. Mit diesem klugen Mann an meiner Seite, der schon viel erlebt hatte und über das Leben Bescheid wusste, bliebe ich auch dicht an der Theologie. Das alles sprach für ihn. Wie oft hatten wir über biblische Texte gesprochen und uns gegenseitig inspiriert. Wilhelm schien mir zwar ein schwärmerischer, aber auch ein ernsthafter Partner auf Augenhöhe zu sein.

Am nächsten Spätnachmittag fanden wir uns erneut auf dem Sofa wieder. Zog es uns so stark dorthin? Diesmal zeigte ich ihm einen kleinen selbst gefalteten Papierball. Draußen regnete es ununterbrochen und warm war es auch nicht. Er nahm meine linke Hand, um sie zu wärmen, und ich hielt mich spielend an dem kleinen Papierball fest. Als er mir wieder seinen rechten Arm umlegte, hatte ich nur den einen Gedanken. Soll ich oder soll ich nicht? Lange saßen wir ganz still. Da fasste sich Wilhelm ein Herz: »Helene«, sagte er, »dass wir nun hier so sitzen, was hat das zu bedeuten? Ich wage nicht, dich zu fragen ...«

Weiter kam er nicht. Ich gab mir den letzten Ruck und ließ mich in seine Arme sinken.

»Wenn du mich nehmen willst, wie ich bin, wenn du noch Geduld mit mir haben willst?«

»Natürlich«, flüsterte er.

In der nun folgenden Ruhe, Herz an Herz und Wange an Wange, verschwand die Zeit. Bis wir die Augen hoben und Walter mich bat:

»Helene, gib mir den Brautkuss.«

Unsere Lippen fanden sich. Er küsste anders als Ernst, seine Lippen waren viel weicher, aber auch fordernd.

Anschließend saßen wir lange schweigend umschlungen und hörten den Glocken der Franziskanerkirche zu, die unsere Zeugen wurden.

Marthas Gesicht hellte sich auf, als sie hereinkam und uns so sitzend fand. Auch Erich tat ganz überrascht, als er abends kam und uns Hand in Hand sah.

»Na endlich«, brummelte er.

Am nächsten Morgen gingen wir gemeinsam zu Vater und standen Arm in Arm vor seinem Sessel.

»Was wollt ihr denn?«

»Das, was Sie sehen, Ihnen sagen«, meinte ich.

Vater hob seinen Blick und musterte uns. Seine Augen blieben an unseren Händen haften.

»Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich dachte schon, was ihr wohl Besonderes habt.«

So war er, aus allem machte er einen Scherz oder stellte sich so dumm, dass es ein Scherz werden musste.

Nun setzten wir uns hin und schrieben auch einen gemeinsamen Brief an Wilhelms Eltern nach Barmen. Auch für sie war es vermutlich keine Überraschung, meinte er.

Die feurige Mor

Nun kam er offiziell jeden zweiten Samstag am Nachmittag nach Paderborn und fuhr am frühen Montagmorgen wieder zurück. Er brauchte die restliche Zeit dringend für sein Examen. Deshalb war ich überrascht und auch erschrocken, als er eines Morgens schon früh um sieben Uhr in meinem Büro auftauchte. Was war passiert?

»Wilhelm!« entfuhr mir und die Kolleginnen sahen auf.

Er zog mich kurz hinaus und erklärte mir, warum er gekommen war. Er hätte die Chance bekommen, noch ein Semester in Dänemark anzuschließen, und müsste sich dazu schnell entscheiden. Aber ohne eine Zusage von mir würde er diese Möglichkeit ausschlagen. Für das Examen könnte und müsste er natürlich auch dort lernen.

»So viel Schönes darfst du doch nicht ausschlagen. Nein, fahr bloß hin. Ich freue mich für dich!«

Mit einem Kuss und einer Umarmung bedankte sich der frohe Student und sprang winkend vor Freude um die Ecke auf den Weg zum Bahnhof. Ich ging zurück an meine Listen und merkte erst jetzt, was das für mich bedeutete. Kaum hatten wir uns gefunden, sollte er schon wieder weg. Schade. Ich hatte es dennoch ernst gemeint, was ich ihm sagte, denn seine Freude über die Chance blitzte ihm aus den Augen.

Bevor er fuhr, war mir wichtig, ihn meiner Familie vorzustellen, auch Mutters Verwandtschaft in Rheda. Wir zeigten ihm ihr Grab. Auch von hier musste er bald wieder zurück an den Schreibtisch.

Dann war er weg.

Er schickte mir regelmäßige Briefe und erzählte von seinen Erlebnissen und Gedanken. Wie gut, dass ich auch selbst so gerne Briefe schrieb, so blieben wir in Verbindung. Er war in einer Pfarrfamilie untergebracht und nannte den Pastor und seine Frau Mor und Far, wie in Dänemark Kinder ihre Eltern nannten. Er tat es deren kleinen Kindern nach und fühlte sich schnell heimisch. Zwischen kleinen Aufgaben für die Gemeinde von Pastor Severinsen musste er auch dort natürlich fleißig lernen. Das Examen wartete nicht. Von Mor bekam er viel Mutterliebe, schrieb er, bei Pastor Severinsen erlernte er auch das Buchbinden mit großem Eifer. Für seine eigene Zukunft als Pastor fand er eine Menge Anregungen.

»Ich spreche mit Mor viel über dich, liebe Helene«, las ich. »Ich freue mich, wenn wir uns wieder durch’s Haar fahren können, deine Arme mich festhalten und ich ruhig werden kann. Du bist mein Hafen.«

Wilhelm wirkte unruhig in seinen Briefen, häufig erwähnte er Mor. Einmal traf mich fast der Schlag, als er schrieb, sie habe ihn geküsst. Ich kenne doch ihn und seine schwelende Leidenschaft, was war da passiert? Seine Beteuerungen glaubte ich ihm durchaus, es habe nichts mit mir zu tun, die um ein paar Jahre ältere Mor habe eben so ein feuriges Wesen. Auf jeden Fall hatte er heftige Sehnsucht nach mir, schrieb er – oder überhaupt nach einer Frau? Ich hatte zwar das Gefühl, ihm und seiner unruhigen Natur gutzutun. Doch zu oft tauchte der Gedanke in mir auf, ob ich dieser Aufgabe gewachsen sein konnte. Manchmal wollte er mehr, als ich zu geben in der Lage war. Bei seiner starken Leidenschaft fiel ich immer wieder wie in mich zusammen und wurde ganz passiv. Ja, ich gab mich ihm hin, soweit ich es durfte, solange wir noch nicht verheiratet waren. Hätte ich mich ihm ebenso stürmisch an den Hals geworfen, wäre es um uns geschehen. Hier trug ich die Verantwortung, weil nur ich diejenige war, die uns bremsen konnte.

Ende September kam er endlich aus Dänemark zurück. Ich hatte mich sehr beeilt, um pünktlich aus dem Büro auf dem Bahnsteig stehen zu können. Ich hielt Ausschau und reckte den Hals. Ganz hinten stieg er aus, ließ sein Gepäck fallen und flog auf mich zu. Ich musterte ihn so unauffällig wie möglich. Hatte sein Erlebnis mit Mor ihn verändert? Er war mir gegenüber ausgesprochen herzlich und freute sich so sehr, mich zu sehen, dass ich beschloss, diese Episode zu vergessen. Das Gute im Menschen zu sehen, das kann ich.

Drei Tage konnte er bleiben. Er lernte, während ich im Büro war, und wir genossen heimliche Abendstunden unter dem Sternenhimmel, bei einer Kutschfahrt oder Spaziergängen. Viel zu schnell waren die gemeinsamen Tage auch schon wieder vorbei. Wilhelm fuhr zu zwei letzten Paukwochen, wie er sie nannte, zu seinen Eltern nach Barmen und ich versuchte, so gut es ging weiter zu sparen für meine Aussteuer.

Wie gewonnen, so zerronnen

Inzwischen war die Inflation im vollen Gange. Bei Wilhelms Reisebeginn hatte eine dänische Krone bereits 30.000 Mark gekostet und bei seiner Rückreise ein Vierteljahr später schon 18 Millionen. Ein Dollar kostete 7.194.000.000 Mark. Wo sollte das alles hinführen? Mein selbstverdientes Geld stellte mich zwar zufrieden, jedoch die Entwertung machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Von dem Lohn, den ich mittags ausbezahlt bekam, konnte ich am nächsten Morgen höchstens noch ein Brot kaufen. Wie sollte ich denn so weiter für meine Aussteuer sparen?

Eines Tages überlegte ich zusammen mit meiner dreizehnjährigen Schwester, was wir mit den Mengen an Papiergeld bloß machen sollten. Martha war schon immer pfiffig, natürlich hatte sie einen Einfall. Am nächsten Sonntag gingen wir zusammen in den Gottesdienst. Zum Glück schienen wir die Einzigen zu sein, die diese Idee hatten, als der Klingelbeutel vorbei gereicht wurde. Wir entleerten meine Handtasche und alle vier Manteltaschen auf Marthas Schoß. Ich hielt den Klingelbeutel gut fest und sie stopfte, so fest sie konnte, die Milliarden hinein.

Inzwischen war Wilhelm zu seinem ersten Staatsexamen in Bonn gewesen. Ich nahm mir ein paar freie Tage und fuhr nach Barmen. Dort wollte ich ihn willkommen heißen, wenn er nach Hause kam. Seine Mutter hatte mich eingeladen, um ihm eine Freude zu machen. Bei Simons kam mir in den Sinn, dass auch ich jetzt diejenige hätte sein können, die von der Prüfung kam. Diese Gedanken kamen und ließen sich zum Glück wieder beiseiteschieben. Was nutzte das Hadern? Warum sollte ich mir Gedanken über etwas machen, das nicht sein konnte? Es würde nur Kummer daraus wachsen. Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Frieden damit zu haben, dass mein Leben nun doch ein frauliches sein würde. Ich wollte mich für Wilhelm freuen, und das gelang mir auch.

Da kam er in die Stube, entdeckte mich, hob mich hoch und drehte sich mit mir im Kreis.

»Dich hält ein angehender Vikar in den Armen!« rief er und strahlte vor Stolz.

Theorien aus Österreich

Wie sollte es nun mit uns weiter gehen? Während ich weiter im Heeresunterkunftsamt arbeitete, suchte er eine Arbeit. Bis das Vikariat begann, musste er von etwas leben, denn seine Eltern konnten ihn nicht mit durchfüttern. Erst wollte er wieder in der Bank arbeiten, die ihn in den Semesterferien immer genommen hatte, doch er bekam das Angebot, ein paar Monate in St. Pölten bei Wien in einer Gemeinde als Assistent zu arbeiten. Das war wirklich weit weg. Er war doch gerade erst wieder aus Dänemark zurück.

Ich hatte mich auf die gemeinsame Zeit gefreut und musste tief durchatmen. Diesem reiselustigen Mann, dem seine Begeisterung für das nächste Abenteuer anzusehen war, konnte ich diese Möglichkeit nicht abschlagen. Er fragte mich zwar wie damals vor der Dänemarkreise nach meiner Meinung, aber die Frage erschien mir eher rhetorischer Art. Er fuhr natürlich lieber mit meinem Segen als gegen meinen Willen. Welche Möglichkeiten hatte ich denn? Wollte ich seinem Glück im Wege stehen? Wäre ich kleinlich, wenn ich ihn für mich haben wollte? Schon in der nächsten Woche hatte er seinen Koffer gepackt und war wieder weg, und ich wartete brav auf seine Wiederkehr.

Vor seiner Abreise hatte er mich gebeten, ein schönes Foto von mir machen zu lassen. Ich hatte ein neues Kleid in gerader Linie und ohne Gürtel bekommen. Die Taille war ganz modern bis auf die Hüfte gerutscht. Es war dunkelblau und hatte einen V-Ausschnitt mit Revers aus Satin. Natürlich zog ich es für das Foto an und war selbst zufrieden mit dem Ergebnis. Vielleicht guckte ich ein bisschen zu ernst. Wilhelm hatte mir gesagt, dass er eines davon seiner Mutter als Neujahrsgruß schicken wollte. Vielleicht war es deshalb besser, nicht zu heiter zu gucken? Ich kannte sie schließlich nur als eine sehr ernsthafte Frau. Anderseits schaute ich auch so, weil der Fotograf ein großes Theater um mich machte. So etwas verunsicherte mich eher. Wilhelm freute sich jedenfalls sehr darüber.

An dem Nachmittag seiner Abreise hatte ich frei bekommen und begleitete ihn zum Bahnhof. Es war für mich eine traurige, aber auch feierliche Stunde, die wir noch miteinander hatten. Zum Glück war ich nie zimperlich. Wann immer er gehen musste, war ich stark. Keine Träne rollte mir aus den Augen. Diesmal war es eine lange Zeit der Trennung. Es war Anfang Dezember und vor Mai sollte er nicht wiederkommen, die Reise wäre einfach zu teuer geworden. Eineinhalb Millionen Mark für eine Strecke, das war für ihn und auch für mich nicht möglich.

Mal wieder war es gut, dass ich so gerne Briefe schrieb. Noch viel besser war, dass die Währungsreform endlich diese furchtbare Inflation gestoppt hatte. Zuletzt musste ich mir gut überlegen, ob ich Wilhelm überhaupt noch einen Brief schreiben konnte. Ein Jahr vorher, im Oktober 1922 kostete das Porto von Paderborn nach Tübingen immerhin schon sechs Mark. Dann stieg es allmählich immer höher. Anfang November dieses Jahres sogar binnen einer Woche von 100 Millionen auf eine Milliarde, für einen einzigen Brief. Dann kam der Schnitt. Heute kostete das Briefporto nur noch zehn Pfennige.

Dadurch schrieb ich noch viel lieber. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit, von Vater und Martha, von den Veränderungen nach der Inflation und dem Wetter. Auch er meldete sich in Briefen häufig und ausführlich. Manchmal kam eine kleine Postkarte zwischendurch, wie neulich. Auf der Rückseite stand einfach nur: »Kann i auch nicht immer bei dir sein, hab i doch mei Freud an dir.« So war er.

Immer wieder schrieb er auch über unsere Liebe. Er konnte so kunstvolle Worte schreiben, sie waren oft viel schöner als die gesprochenen. Allerdings hatten sie manchmal eine Klarheit, dass ich beim Lesen nach Luft schnappte. Es waren viele ernste Worte und ich merkte, wie viele Gedanken er sich um uns und sich in Bezug auf mich machte. Ein wenig jagten sie mir Angst ein. Mein Leben kam mir neben dem seinen dann so klein vor. Anderseits war ich mit meinem Leben, mit den Menschen um mich herum und unserm Zusammensein, dem Lachen und Singen beim Stopfen und meiner Büroarbeit meistens ganz zufrieden. Überhaupt fand ich Zufriedenheit eine gute Sache. Das Gute zu finden ist ein hilfreicher Weg zur Zufriedenheit. Wilhelm dagegen war oft getrieben, ein Suchender. Könnte das der Sinn meines Lebens sein? Ihm Halt zu geben? Damit wäre klar, dass ich ein ganz klassisches Frauenleben führen würde, das einer Pfarrfrau. Das heißt bekanntermaßen überwiegend Dienen.

»Wir sind zwei sehr verschiedene Menschen, wenn wir auch im Innersten unseres Lebens den Glauben an die Gnade gemeinsam haben. Doch in unserm Wesen sind wir völlig unterschiedlich. Unser beider Leben wird von zwei Polen aus bestimmt, vom leidenschaftlichen Ich und dem Du sollst der Pflicht. Bei mir wird das Erste vom Zweiten in Schranken gehalten. Bei Dir sollte das Du sollst ein wenig mehr von der wallenden Leidenschaft bewegt werden. Bei mir überwiegt das Impulsive, der starke Trieb, die Wucht des Ich. Bei Dir die stille alltägliche Art, das selbstverständliche Tun, die Nüchternheit. Damit ist uns die Hauptaufgabe für unser gemeinsames Leben gegeben. Du schreibst nie: ,Wie ich so lieb, so lieb Dich hab.‘ Statt dessen: ,Ich bin nicht verliebt in Dich.‘ Kalt, ohne Teilnahme erzählst Du, was Du so erlebt hast, kein Wort von der Freude auf das Wiedersehen, keine Spur von Sehnsucht, so scheint es. Aber ich müsste Dich schlecht kennen, wenn ich Dich danach beurteilen wollte. Ich mit meiner brennenden Leidenschaft, die ich im täglichen Kampfe bremsen muss, mein starkes Verlangen zur Zweiheit.

Ob Ernst deshalb von Dir ging? Ich bleibe bei Dir, liebe Helene. Ein Narr wäre ich und ein Verbrecher, wollte ich Dich von mir schicken. Gott hat uns einander als Aufgabe gegeben. Liebe haben wir beide viel. Ich habe die vom Sturm gepeitschten Wellen, Du hast die tiefe, ruhige See. Uns beiden fehlt etwas, mir die Tiefe, Dir die Leidenschaft. Was ist schwerer zu erwerben? Die völlige Verbindung wird Dir rasch geben, was Dir fehlt. Mein Erwerben muss lange, heiße Arbeit an mir sein.«

Zum Glück waren nicht alle Briefe so. Ich glaube, das hätte mich überfordert. Lieber erfuhr ich, was er machte und worüber er sich freuen konnte. Ab und zu fand ich in einem Brief tatsächlich ein bisschen Humor. Diese waren mir am liebsten, denn so erfuhr ich, dass es ihm gut ging. Humor machte das Leben eindeutig leichter. So berichtete er einmal von einer Zugfahrt nach Wien. Ihm gegenüber saß ein Paar. Er hatte ein wenig im Halbschlaf vor sich hin gedöst und wurde auf ein leises Tuscheln aufmerksam. Durch die Augenlider blinzelnd beobachtete er, wie das Paar seine Beine in den Kniebundhosen betrachtete. Auf eine Zeitung notierte der Mann etwas und schob sie hinüber zu seiner Frau, die daraufhin leise lachte. Nach einer Weile erwachte er demonstrativ, schaute ein wenig aus dem Fenster und tat gelangweilt. Schließlich fragte er sehr freundlich, als hätte er gerade den Einfall gehabt:

»Darf ich mir Ihre Zeitung einmal ausleihen?«

Da konnten sie natürlich nicht nein sagen. Gründlich arbeitete er sich Seite für Seite hindurch und fand schließlich die geschriebene Notiz: »Hat der Mensch Waden!«

1924

Zweiter Versuch

Es wurde Frühling. Von Wien aus fuhr Wilhelm direkt nach Soest ins Predigerseminar. Das war zum Glück nicht weit entfernt von Paderborn, allerdings wurde er dort sehr stark eingespannt. Sonntags konnte er erst am Mittag zu mir kommen und musste Montag in der Frühe schon wieder zurück. Aber immerhin, wir sahen uns fast jeden Sonntag, was für ein Unterschied zu Dänemark und Wien.

Wir beschlossen mit dem Kauf unserer Ringe, unsere Verlobung bekannt zu geben. Die Verwandtschaft wartete schon darauf und kam auf unsere Einladung gerne zusammen. Den 25. Mai 1924 hatten wir als Verlobungstag festgelegt. Vor lauter Vorbereitungen fanden wir erst am späten Abend endlich einen Moment der Stille. Wir legten unsere Hände ineinander und steckten uns die Ringe an.

Am nächsten Tag feierten wir mit der Verwandtschaft. Natürlich hatte ich dafür eine Menge zu tun. Wilhelm beschwerte sich, dass er an diesem Wochenende so wenig von mir hatte. Aber der Kuchen musste ja gebacken, der Tisch gedeckt und der Kaffee gekocht werden. Johanna, unsere langjährige gute Seele, half mir dabei und Martha auch. Vater und Erich rückten die Möbel. Tante Elschen, Mutters Schwester, Onkel Hugo und Tante Jutta kamen aus Rheda und Onkel Robert und Tante Gerda aus Bethel. Von Wilhelms Seite kam seine ganze Familie, seine Eltern Fritz und Bertha, sein Bruder Alfred mit seiner neuen Braut Anne und seinem kleinen Töchterchen Rita aus erster Ehe, Wilhelms Patenkind. Martha, seine erste Frau starb kurz nach ihrer Geburt. Friedrich mit seiner Braut Emmy, Roland und Heinrich und die Schwestern Erna und Lore. Es wurde ein fröhliches Fest mit einem großen Gedränge in unserm Wohnzimmer.

Wir mussten allerdings noch eine ganze Weile warten, bis wir endlich heiraten konnten. Denn wir hatten fast nichts. Vater wollte uns einen Anschub geben und kaufte uns ein Schlafzimmer und ein Esszimmer mit Schreibtisch. Das war schon mal ein gutes Stück unseres künftigen Zuhauses.

Jetzt gehörte ich mit zur Familie Simon. Meine Schwiegermutter feierte im September ihren 50. Geburtstag und ich fuhr ganz selbstverständlich mit nach Barmen. Wilhelm kam am Abend vorher nach Paderborn, um mich abzuholen. Wir hatten am Abend ein gemütliches und sehr sinnliches Stündchen miteinander. Wieder musste ich als die tiefe, ruhige See, wie er mich genannt hatte, alleine die Verantwortung tragen und ihm als vom Sturm gepeitschter Welle die Grenze aufzeigen. Er war solch ein leidenschaftlicher Mann, dass es mir schwerfiel. Es gefiel ihm nicht, aber anders ging es nicht. Hier wurde ich sehr klar, denn unsere Hochzeit war noch nicht in Sicht. Als er sich wieder besinnen konnte, dankte er mir dafür.

»Danke, dass du mich warten lässt. Auch darin liegt ein Segen. Denn sich sehnen bringt Leben, ist Leben. Haben ohne Sehnsucht ist Tod.«

Meist kam Wilhelm zu uns nach Paderborn, doch ich habe ihn auch einmal im Predigerseminar besuchen dürfen. Es war in einem alten Kloster und natürlich durfte ich nur tagsüber in sein Zimmer. Er hatte sich große Mühe gegeben und es extra für mich zurechtgemacht. Alle Spuren der Arbeit beseitigte er, soweit es ging. Einen neuen Lampenschirm hatte er angeschafft und saubere Decken besorgt. Damit wollte er es mir gemütlich machen.

»Verlobt oder verheiratet zu sein ist eine Aufgabe und nicht allein ein gedankenloses Genießen«, fand er.

Im Gegensatz zu mir hatte er sich wieder viele Gedanken um uns gemacht.

»Es ist Geben, Helfen und Dienen, nicht Nehmen, Befehlen und Haben. Da gibt es noch viel zu lernen. Einer passt sich den Besonderheiten des anderen an. Um es einmal modern auszudrücken: Wir erziehen einander. Das sehen und sich gefallen zu lassen, das ist Glück.«

Meist schwieg ich zu solchen Aussagen, sie kamen mir so theoretisch vor. Ich hatte das Gefühl, es gefiel ihm selbst, sich zuzuhören. Doch wenn diese Theorien drohten, mich zu sehr einzuengen, legte ich klar und eindeutig mein Veto ein. Das gefiel ihm längst nicht immer, entsprach es doch nicht seiner romantischen Sicht. Vielleicht könnten wir einander einfach lieben und sich alles entwickeln lassen? Es sollte sich doch gewiss das Meiste fügen, hoffte ich.

In der zweiten Reihe

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