Читать книгу Adlerherz - Katica Fischer - Страница 5
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ОглавлениеDer Morgen begann mit einem spektakulären Sonnenaufgang. Und da es nach seiner Rechnung ein Sonntag sein musste, beschloss Eric nach dem Frühstück, dass er sich einen Tag des Nichtstuns verdient hatte. Also sattelte er sein Pferd und ritt ohne ein bestimmtes Ziel los. Dem Hengst überlassend, wo er langgehen sollte, ließ er ihn am langen Zügel laufen und hing dabei seinen eigenen Gedanken nach. Dabei merkte er zunächst gar nicht, dass er allmählich in einen Schlaf ähnlichen Zustand abdriftete. Immer noch den Rücken seines Hengstes zwischen den Schenkeln spürend, fühlte er sich gleichzeitig seltsam losgelöst und frei. Die ungewohnte Leichtigkeit, die er dabei empfand, verwirrte ihn zwar ein bisschen, machte ihn aber auch irgendwie kribbelig. Als er schließlich erkannte, dass er gerade einen sogenannten Tagtraum erlebte, ließ er sich bereitwillig darauf ein, insgeheim überzeugt, dass er schon wach werden würde, wenn Gefahr drohen sollte. Und so ließ er sich weiter aufwärts treiben. Sich um sich selbst drehend, meinte er immer höher zu steigen, bis er sich plötzlich eingefangen und festgesetzt fand. Allerdings war dies keine unangenehme Erfahrung, sondern eine Tatsache, über die er gar nicht weiter nachdachte. Was in diesen einzigartigen Moment zählte, war allein die sinnliche Wonne, die ihm gerade geschenkt wurde.
Seine Arme verharrten reglos in der Haltung, in der sie sich gerade befanden, während sich sein Leib in ständiger Bewegung befand. Er wusste, er hatte sich nicht willentlich bewegt, dennoch gab es da plötzlich eine Veränderung. Allein darum öffnete er die Augen, um zu sehen, wo genau er sich befand. Doch hatte er kaum die Lider gehoben, da presste er sie sogleich wieder zusammen, innerlich starr vor Schreck, weil seine Umgebung völlig anders war, als erwartet. Die Augen fest zusammengekniffen, versuchte er zu ergründen, ob er nun träumte oder nicht, und konnte sich doch nicht entscheiden, weil die Empfindungen seines Körpers immer noch dieselben waren, wie kurz zuvor.
Endlich, nachdem sich sein Herzschlag einigermaßen normalisiert hatte, wagte er es erneut die Lider zu heben. Vorsichtig, als könne ihn bereits der erste Lichtstrahl erblinden lassen, hob er erst ein und gleich darauf auch das andere, nur um den gleichen Anblick vorzufinden, den er schon beim ersten Mal wahrgenommen hatte. Vor und über ihm spannte sich ein strahlend blauer Himmel, aus dessen Mitte eine gleißend helle Sonne heiße Strahlen in alle Himmelsrichtungen sandte.
Während er so immer weiter hinauf glitt, irrte sein Blick zunächst ziellos umher, um sich schließlich nach unten zu richten. Als er jedoch realisierte, dass er sich mindestens an die fünfhundert Fuß über dem Erdboden in der Schwebe befand, kniff er wiederum die Lider zusammen, nur um sie im nächsten Augenblick wieder weit aufzureißen, damit ihm nicht das kleinste Detail entging.
Unter ihm lag jetzt eine Landschaft, die so schön war, dass es ihm buchstäblich den Atem verschlug. Prachtvolle Wälder hoben sich in herben Kontrast zu den Wiesen und Feldern ab, die in verschiedenen Grün-und Gelbschattierungen miteinander wetteiferten. Silbrig schimmernde Fluss-Schlangen wanden sich zwischen sanft ansteigenden Hügeln hindurch und durchschnitten schroffe Felsenformationen, um hier und da in große und kleine Teiche und Seen zu münden, oder in irgendeinem geheimnisvollen Erdloch zu versinken. Er sah große und kleine Tiere, die sich auf weiten Steppen tummelten. Als ihm jedoch klar wurde, dass er selbst Mäuse ausmachen konnte, die sich zwischen den hohen Grashalmen duckten, um nicht entdeckt zu werden, begann er sich zu wundern. Zudem wurde ihm nun auch bewusst, dass irgendetwas sanft an seinen Seiten vorbeistrich, sodass er interessiert hinsah, nur um wiederum den Atem anzuhalten.
Da, wo sein rechter Arm hätte sein sollen, gab es nur ein mit Federn bewachsenes Gebilde, an welchem der Wind zupfte. Ein Blick auf die andere Seite seines Körpers bescherte ihm die gleiche Wahrnehmung. Doch trotz dieser unerklärlichen und eigentlich gruseligen Erfahrung fand er es nicht erschreckend, dass seine Arme plötzlich verschwunden waren. Auch seine Beine vermisste er nicht ein einziges Mal, obwohl er an ihrer Stelle bloß zwei mit Federn bewachsene dünne Stelzen mit langen Krallen daran vorfand. Allein sein Rumpf, der ebenfalls über und über mit Federn bedeckt war, schien irgendwie außer Kontrolle, denn er zuckte und schaukelte unaufhörlich hin und her. Nichtsdestotrotz schien er völlig mühelos durch die Luft zu gleiten, getragen von einer warmen Thermik, ohne sich dabei selbst anstrengen zu müssen.
Die Bahn seines mittlerweile sinkenden Gleitfluges befand sich jetzt auf gleicher Höhe wie die obersten Gipfel eines Felsmassivs. Und eines dieser Grate kam nun mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Er wusste, er musste jetzt irgendwie stehen bleiben, oder umkehren. Die Frage war nur, wie! Erst die aufsteigende Panik, besser gesagt, die Angst vor einem schmerzhaften Aufprall, veranlassten ihn endlich, willentlich die mit Federn besetzten Schwingen zu bewegen, die seine Arme ersetzten. Und im selben Augenblick, in dem er dies tat, veränderte sich auch seine Flugbahn. Die Steinbarriere verschwand in einem steilen Winkel aus seinem Blickfeld. Allerdings war er noch längst nicht außer Gefahr, denn nun raste eine andere Felswand auf ihn zu. Also bewegte er wiederum seine Flügel, veränderte dadurch die Flugbahn seines Körpers, und atmete schließlich erleichtert auf, weil er sich nun erneut über der offenen Fläche der Feld-und Wiesenlandschaft befand. Doch nur einen Atemzug später kroch die Angst in ihm hoch, weil er sich nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich bloß einen Traum erlebte. Es schien alles so real! Aber … Wie, um alles in der Welt, sollte er diese Situation meistern, fragte er sich jetzt. Wie steuerte man einen Körper, der einem nicht vertraut war? Besser gesagt, wie sollte er auf den Erdboden zurückkommen? Er konnte ja schließlich nicht auf immer und ewig in der Luft bleiben!
Während er noch über sein Problem nachdachte, geriet er in eine kühlere, wesentlich ruhigere Luftschicht, sodass sein Gleitflug jäh unterbrochen wurde. Im nächsten Moment wie ein Stein abwärts fallend, weil er sich nicht bewegte, sah er den Boden auf sich zu rasen und versuchte dann in letzter Sekunde seine Flugbahn zu ändern. Allerdings konnte er den unkontrollierten Aufprall bloß ein wenig abfangen, aber nicht verhindern. Und so kullerte er am Ende wie ein mit Federn besetzter Ball über den Boden, bis ihn ein Busch stoppte.
Überglücklich, weil er noch einmal davongekommen war, stellte er sich auf seine Füße und schüttelte sich, um das Gras loszuwerden, welches sich in seinen Federn verfangen hatte. Doch dann konzentrierte er sich erneut auf die Problematik seiner misslichen Lage. Er steckte momentan im Körper eines Vogels, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Wie das passieren konnte, war jetzt nicht wichtig. Viel wichtiger war, was er jetzt machen sollte!
Geleitet durch eine langsam wieder aufsteigende Erinnerung, begann er sich schließlich bewusst zu bewegen, und schaffte es dann tatsächlich, sich wieder in die Luft zu erheben. Dabei wurde er immer sicherer. Gleichzeitig fühlte er euphorische Freude in sich aufwallen, weil das Gefühl der scheinbaren Schwerelosigkeit so schön war.
Zufrieden mit seinem Können und der Situation im Allgemeinen, dehnte er seinen Flug aus, denn die Landschaft unter ihm hatte viele High Lights zu bieten. Eine Gestalt zwischen den Bäumen unter ihm fesselte schließlich seine Aufmerksamkeit. Es handelte sich offenbar um ein großes Tier, welches sich dort zwischen den Stämmen bewegte. Weil es sich aber immer wieder vollständig in den tiefen Schatten der großen Holzgewächse verlor, war alsbald auch das Interesse an ihm verflogen.
Er zog noch ein paar enge Kreise über der betreffenden Stelle, und setzte dann seinen Flug fort. Dabei erinnerten ihn die wärmenden Strahlen der Sonne wieder an das unbändige Gefühl der Freiheit und Freude. Also schloss er die Augen und überließ sich der Führung des Windes. In einem Anfall kindlichen Spieltriebes zog er schließlich die Flügel eng an den Körper, und ließ sich einfach fallen. Sich immer wieder überschlagend, purzelte er durch die unterschiedlich temperierten Luftmassen, und genoss das Gefühl der Ungebundenheit. Doch dann veranlasste ihn der unerwartete Schreckensschrei eines Menschen die Lider wieder zu öffnen. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, die Flug-, besser gesagt, die Fallrichtung seines Körpers zu beeinflussen. Er sah gerade noch die Äste eines Baumes auf sich zu rasen, als ihn einer davon auch schon streifte. Der heftige Schmerz in seiner Flanke raubte ihm zunächst den Atem, und eine Sekunde später auch die Sinne.
Die vom Alter gebeugte Gestalt der Greisin stand zunächst wie erstarrt. Sie hatte den Flug des Adlers beobachtet, der anfangs seine Kreise hoch am frühsommerlichen Himmel gezogen hatte. Als er dann plötzlich Richtung Erde absackte, hatte sie gemeint, er hätte eine Beute erspäht und würde sich diese holen wollen. Dass er dann aber mit leeren Fängen wieder aufgestiegen und anschließend wie toll durch die Lüfte geschossen war, hatte sie mit Befremden aufgenommen. Den unkontrollierten Absturz des großen Raubvogels hatte sie denn auch atem-und bewegungslos verfolgt, nicht fähig, zu verstehen, was genau da vor sich ging. Kurz bevor er in die Baumkrone gekracht war, hatte sie geschrien, um ihn aufzuschrecken. Allerdings war das vergeblich gewesen. Das Tier schien zwar kurzzeitig zur Besinnung gekommen zu sein, war aber offenkundig nicht mehr in der Lage gewesen, rechtzeitig und richtig zu reagieren.
So schnell die alten Beine laufen konnten, trugen sie Geisterfrau vorwärts. Dabei kümmerte es sie nicht, dass dornige Sträucher ihre Haut aufrissen und Brennnesseln rote Striemen darauf hinterließen. Beseelt von dem Wunsch, den Adler zu finden, der vom Himmel gefallen war, strebte sie dem alten Baum entgegen, unter dessen ausladender Krone sie das abgestürzte Tier vermutete. Als sie schließlich ihrem Ziel nahekam, verlangsamte sie ihren Schritt, um mit den Augen die nähere Umgebung abzusuchen.
Endlich entdeckte die Greisin den Adler – und stand mit einem Mal stocksteif. Als würde sie mit aller Macht festgehalten, fühlte sie sich unfähig, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Gefangen in dieser eigentümlichen Starre konnte sie dem großen Vogel nur zusehen, während er sich mühsam in eine bestimmte Richtung schleppte. Sein Zustand war erbärmlich, stellte sie voller Mitleid fest. Beide Flügel schienen gebrochen zu sein, denn sie hingen kraftlos an seinem gerupft wirkenden Körper herunter. Der hinkend hopsende Adler zog sie hinter sich her, wie zwei lästige Anhängsel, wobei er eine breite Blutspur hinterließ. Offenbar hatte das Tier weit größere Verletzungen, als sie zunächst angenommen hatte. Aber, obwohl er wahrscheinlich sehr starke Schmerzen litt, schien er unbeirrt ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Dabei kümmerte ihn selbst die Anwesenheit eines Menschen nicht, den er doch sonst mied, weil er ihn fürchtete. Der edle Kopf war weit nach vorne gestreckt, und drehte sich mal hierhin, mal dorthin, so als würde er etwas Bestimmtes suchen. Dann, ganz plötzlich, blieb er stehen und beäugte das hüfthohe Farnkraut vor sich. Gleich darauf stieß er einen langen klagenden Ton aus und machte er einen gewaltigen Satz in das undurchdringlich erscheinende Grün, welches ihn sogleich verschluckte.
Jetzt, endlich, konnte sich Geisterfrau wieder rühren. Sie wollte gerade dem verletzten Vogel folgen, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht länger alleine war. Hinter ihrem Rücken erklang nämlich ein wütendes Schnauben, welches ihr augenblicklich gebot, sich ruhig zu verhalten. Also stand sie still und lauschte auf das angestrengte Atmen, welches einem schweren Körper entsprang, und das unleugbar die Folge von einem schnellen Lauf war. Da es keine Raubtierlaute waren, verspürte sie keine Todesangst. Trotzdem wollte sie nicht riskieren, dass sie vor lauter Panik überrannt wurde. Erst als sich das Keuchen in ihrem Rücken ein wenig verlangsamte, drehte sie vorsichtig den Kopf, um in die entsprechende Richtung schauen zu können.
Das Pferd hatte die Ohren eng an den Kopf angelegt und stieß wiederholt knurrende Laute aus. Dabei machte es einen drohenden Schritt auf den Menschen zu, der ihm den Durchgang versperrte. Zudem warf es den Kopf von einer Seite auf die anderen, und peitschte den Schweif hin und her.
Die alte Frau kannte sich mit den Geschöpfen der Natur gut aus, denn als Heilerin musste sie nicht nur kranken Menschen, sondern auch allen anderen Wesen helfen, wenn sie in Not waren. Doch nicht nur sie wusste, wie man sich im Wald und in Gefahrensituationen richtig verhielt. In der uralten Schule der Naturvölker lehrte man nämlich schon die Kleinsten, wie sich bestimmte Tiere in für sie bedrohlichen Situationen verhielten, und was man bei einer unverhofften Begegnung mit einem aggressiven Waldbewohner tunlichst sein lassen sollte. Dass dieses Pferd eindeutig wütend war, hätte daher selbst ein Kleinkind erkannt.
Langsam, um das aufgebrachte Tier nicht noch mehr zu verärgern, wich Geisterfrau immer weiter zurück. Dabei prüfte sie zunächst mit den Zehenspitzen den Untergrund, bevor sie den ganzen Fuß aufsetzte. Eine ganze Ewigkeit schien zu vergehen, während sie sich behutsam fortbewegte. Erst als sie auf ein weiches Hindernis stieß, löste sie den Blick von den funkelnden Augen des Pferdes und schaute kurz hinter sich. Allerdings hatte sie die Szene kaum erfasst, da schnappte sie erschrocken nach Atem und drehte sich dann vollends herum, wobei sie nun nicht mehr auf das Pferd achtete.
Der Mann lag völlig verkrümmt auf dem Waldboden und rührte sich nicht. Und der verletzte Adler, dessen Kopf neben dem des Mannes lag, rührte sich auch nicht mehr. Allein der blutende Flügel, den der Vogel über die linke Brustkorbhälfte des Menschen gelegt hatte, so als wolle er dessen Herzschlag ertasten, zuckte ein wenig.
Unglaublich, dachte die alte Frau. Da lagen die zwei, als wollten sie nebeneinander schlafen. Dabei war zumindest einer von ihnen mit Sicherheit schon in den ewigen Jagdgründen!
Plötzlich wurde die Medizinfrau von hinten geschubst und fuhr überrascht herum, nur um sich Auge in Auge mit dem Pferd wiederzufinden. Allerdings schien sich das Tier mittlerweile beruhigt zu haben, denn es verhielt sich nicht mehr bedrohlich. Ganz im Gegenteil wirkte es nun eher ein wenig hilflos. Es hob und senkte den schönen Kopf, und schnaubte in die Richtung des unbeweglichen Mannes. Zwischendurch machte es immer mal wieder eine Art Buckel, so als wolle es den verrutschten Sattel auf seinem Rücken zurechtschieben.
Mit einem verstehenden Lächeln wandte sich Geisterfrau erneut dem besinnungslos daliegenden Menschen zu. Es handelte sich um den Hengst des Pferdemannes. Sie hatte es nur nicht gleich erkannt, da das normalerweise fuchsfarbene, stets glänzende Fell des Tieres heute ungewohnt dunkel und fleckig wirkte, weil es völlig schweißnass und mit Schlamm verschmiert war. Die Mähne war wild zerzaust und mit kleinen Ästen sowie Schlammbrocken besetzt. Der Abdruck des Zaumzeugs war aus der Nähe deutlich erkennbar, obwohl es nichts Derartiges trug. Sicherlich waren die Lederriemen gerissen und abgefallen, während es durch das Dickicht des Waldes gestürmt war.
Die alte Frau beugte sich nun über den Mann, murmelte dabei aber immer wieder beruhigende Worte in die Richtung des Pferdes. Das Tier gab zwar jetzt keinen hörbaren Laut mehr von sich, doch seine Anwesenheit war ihr in jedem Augenblick bewusst. Während sie den Besinnungslosen fachkundig untersuchte und schließlich auf den Rücken rollte, damit sie ihn besser betrachten könne, rechnete sie jederzeit mit einem Angriff des Hengstes, welcher für sein Temperament berühmt-berüchtigt war. Nicht, dass das Tier bösartig gewesen wäre. Nein, das nicht. Aber so unglaublich es klingen mochte, dieses Pferd schien nicht nur ein Last-und Reittier für seinen Besitzer zu sein. Sie hatte es bereits einige Male zu sehen bekommen, ohne die wahre Bedeutung zu erkennen. Aber erst heute wurde ihr klar, dass der Verrückte seinen Herrn beschützen wollte. Ja, beschützen! Und dabei vergaß es sogar seine natürliche Scheu vor uneinsehbarem Gelände.
Geisterfrau schüttelte den Kopf, weil sie so viele merkwürdige Dinge auf einmal nicht fassen konnte. Doch dann richtete sie ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf den bewusstlosen Mann. Außer einer großen Beule am Kopf schien er keinerlei ernsthafte Verletzungen davongetragen zu haben. Die Lederjacke hatte ihn wohl vor schlimmen Schürfungen bewahrt, obwohl er sicherlich einige schmerzhafte Prellungen aufzuweisen hatte.
Weil der Ohnmächtige nicht von sich aus aufwachen wollte, tätschelte Geisterfrau zunächst seine Wange. Anschließend hob sie eines seiner Augenlider an, um nach der Pupille zu schauen, und rüttelte schließlich ziemlich kräftig an seine Schulter. Am Ende gab sie ihre Bemühungen auf und stellte sich stöhnend vor Anstrengung aufrecht hin.
„Du wirst mir helfen müssen“, sagte sie leise, während sie zu dem geduldig wartenden Pferd trat, um dessen Hals zu klopfen. „Wir müssen ihn zu meinem Zelt bringen. Er braucht unbedingt meinen Kräutertee und einen heilenden Zauber.“
Als hätte der Hengst sie verstanden, hob und senkte er den schönen Kopf. Mit einem leisen Schnauben schien er der alten Frau zu antworten, was dieser ein heiser klingendes Kichern entlockte. Gleich darauf rückte sie den verrutschten Sattel zurecht, und machte sich dann auf die Suche nach einigen langen Stäben.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis Geisterfrau wieder auftauchte. Aber dann hatte sie alles, was sie brauchte. Mithilfe einiger dünner Lederriemen band sie die mitgebrachten Stangen aneinander, sodass daraus eine Schleppvorrichtung entstand, auf welche sie den Verletzten rollen und mit der Hilfe des Pferdes aus dem Wald ziehen wollte.
Für die alte Frau war diese Arbeit ein wahrer Kraftakt. Doch sie schaffte es dank ihrer Zähigkeit und ihres eisernen Willens. Dass das Pferd geduldig alle Handgriffe über sich ergehen ließ, während sie die Schleppstangen an seiner Seite befestigte, war nicht weiter verwunderlich. An solche Dinge war der Hengst mittlerweile gewöhnt. Außerdem galt die Medizinfrau als Bindeglied zwischen den Lebenden und den Geistern der Verstorbenen, ebenso wie als Beschwörerin der tierischen Seelen. Dass sich ihre so genannte Macht über die Tierwelt fast ausschließlich auf die Kenntnis der tierischen Instinkte und typischer Verhaltensweisen stützte, war eines ihrer kleinen Geheimnisse. So brauchte sie dem Pferd auch kaum den Weg aus dem Wald zu weisen, denn es kannte den Pfad sehr genau. Trotzdem wollte es scheinen, als könne es die Gedanken der alten Frau lesen, denn es schlug sofort die Richtung zu ihrer Behausung ein, obwohl diese entgegengesetzt zur Blockhütte seines Herrn lag.
Unterdessen beugte sich Geisterfrau hinunter und hob zunächst den Lederhut des Bewusstlosen und anschließend den Adler auf. Auch diese Tätigkeit forderte viel von ihrer Kraft, weil der Vogel ein enormes Gewicht aufwies. Trotzdem schwang sie sich den mit Federn bewachsenen Körper auf die Schulter, und folgte dann dem langsam vorwärts trottenden Pony.
Es war ein langer Fußmarsch, den sie zurücklegen musste, denn sie hatte sich auf der Suche nach Kräutern und Wurzeln weit von ihrem Dorf entfernt. Nun ging sie langsam hinter dem Pferd her, das geduldig und sehr umsichtig die Schleppvorrichtung mit dem Verletzten hinter sich herzog. Dabei blieb es immer wieder mal stehen und schaute sich nach ihr um, so als wolle es sich vergewissern, dass sie immer noch da war.
Die Greisin nickte wiederholt mit dem Kopf und schnalzte leise mit der Zunge. Ihre Augen richteten sich dabei immer wieder auf das blasse Gesicht des Mannes, dessen Kopf unaufhörlich von einer Seite auf die andere hüpfte, weil der Boden, über den er gezogen wurde, sehr uneben war. Normalerweise band er das dunkelbraune schulterlange Haar mit einem Lederriemen im Nacken zusammen, erinnerte sie sich. Da es jetzt lose um seinen Kopf fiel, ging sie davon aus, dass er vielleicht vergessen hatte, seine Mähne zu bändigen. Möglich war auch, dass er das Band verloren hatte, als er vom Rücken seines Reittieres fiel. Sein von der Sonne dunkelbraun gebranntes, hageres, ja fast ausgedörrt wirkendes Gesicht, wirkte streng. Und das lag nicht nur an der langen schmalen Nase, sondern auch an den mit einem scharfen Messer blank geschabten Wangen, die leicht eingefallen waren. Merkwürdig, überlegte sie. Es war ihr noch nie so deutlich aufgefallen, aber jetzt ließ sich nicht länger leugnen, dass seine Züge an einen Raubvogel erinnerten.
Geisterfrau hatte den letzten Gedanken kaum zu Ende gedacht, da wurde ihr schlagartig klar, welche Bedeutung die merkwürdigen Ereignisse dieses Tages hatten. Sicher, wenn man allein nach der Ursprungsfamilie und seinem Äußeren urteilte, dann gehörte der Pferdemann eindeutig zu den Weißen Menschen. Dennoch war ihr vom ersten Moment an bewusst gewesen, dass er ein Teil der Großen-Gemeinschaft war, auch wenn sie noch nicht erkennen konnte, um wen genau es sich bei ihm handelte. Allein darum hatte sie ihn in ihrem Heim aufgenommen, als Falkenauge ihn mitgebracht hatte. Und aus dem gleichen Grund hatte sie ihm später Geheimnisse offenbart, die noch nicht einmal ihre Nachfolgerin erfahren sollte. Aber was hatten die Ereignisse dieses Tages zu bedeuten? Was wollte man ihr damit sagen?
Immer wieder rekapitulierte die alte Zauberin den Absturz des Adlers, kam momentan jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Hinzu kam, dass ihre Gedankengänge durch die Last auf ihrer Schulter gestört wurden, denn der große Vogel schien mit jedem ihrer Schritte schwerer zu werden, sodass sie wiederholt stehen bleiben und ihre Bürde zurechtrücken musste. Trotzdem kam sie nicht ein einziges Mal auf den Gedanken, den toten Adler einfach liegenzulassen. Als sie schließlich meinte, die Arme würden ihr abfallen, rief sie dem Pferd ein einziges Wort zu, woraufhin es sofort stehen blieb und abwartend zu ihr zurückschaute.
Kurz darauf trat die alte Frau zu dem leise schnaubenden Hengst, hievte den schweren Vogel auf dessen Rücken und befestigte die Krallenbeine mit einem dünnen Lederriemen an dem Sattelknauf. Das Pferd scheute zunächst, angesichts des fremdartigen Geruches, den der tote Adler verströmte. Doch einige liebevolle Worte und das Streicheln zärtlicher Hände brachten es sofort wieder zur Ruhe.