Читать книгу Adlerherz - Katica Fischer - Страница 6

4

Оглавление

Der durchdringende Gestank, der jäh unter seiner Nase explodierte, schien wie eine Messerspitze in Erics Gehirn zu dringen. Er wollte den Kopf abwenden, um diesem üblen Geruch zu entgehen. Allerdings bescherte ihm allein der Versuch einen anderen, viel intensiveren Schmerz. Jetzt schienen sich tausende von kleinen spitzen Nadeln auf der Innenseite seines Schädels zu befinden, die unaufhörlich sein Hirn malträtierten. Als Folge dieser Qual zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen, was augenblicklich auch eine würgende Übelkeit mit sich brachte. Hin-und hergerissen, zwischen dem Drang, sich zu erleichtern, und dem Bedürfnis, ja keine überflüssige Bewegung zu machen, weil dies garantiert seinen Schädel sprengen würde, lag er stocksteif auf dem Rücken. Doch dann setzte er sich doch auf, weil sich der Brechreiz nicht länger unterdrücken ließ. Gleichzeitig nahm er die Anwesenheit eines anderen Menschen wahr, wagte sich aber nicht, die Augen zu öffnen. Er befürchtete ernsthaft, wenn er die Lider aufschlug, würden seine Augäpfel aus den Höhlen fallen, weil sich dahinter ein immenser Druck aufgestaut hatte. Obwohl er mehrfach tief durchatmete, konnte er die Übelkeit dennoch nicht niederkämpfen. Also lehnte er sich am Ende ächzend zur Seite, um seinen Mageninhalt von sich zu geben. Dabei bemerkte er gar nicht, dass ihm jemand ein Gefäß vorhielt, in welchem das Erbrochene aufgefangen wurde. Mit geschlossenen Augen und zitternd vor Anstrengung hielt er sich am Rand seines Lagers fest, denn auch sein Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Jeder einzelne Muskel schien bis zur äußersten Belastungsgrenze angespannt zu sein. Und der Schmerz hinter seiner Stirn trieb ihm die Tränen in die Augen.

Sobald sein Magen leer war, ließ sich Eric erschöpft zurücksinken. Allerdings quälte ihn die Übelkeit auch weiterhin. Also richtete er sich erneut auf und neigte sich zur Seite, um sein Lager nicht zu beschmutzen. Dabei kam ihm wiederum eine fremde Hand zu Hilfe. Und einen Augenblick später drückte ihm jemand einen Becher an die Lippen, um ihm etwas einzuflößen.

Zunächst schluckte der Kranke gehorsam, weil sich mittlerweile ein höllischer Durst eingestellt hatte. Doch nur einige Schlucke später, während seine Geschmacksnerven wieder zu funktionieren begannen, stieß er die Hand mit dem Becher zur Seite, sodass sich die Übelkeit erregende Brühe über seine nackte Schulter ergoss.

Nun überwand sich Eric doch und öffnete die Lider einen kleinen Spalt weit, nur um zu erkennen, dass ein runzeliges Händepaar den verschmähten Becher erneut zu seinem Mund führen wollte. Also hob er mit äußerster Anstrengung einen Arm und wehrte diese Attacke ab, ohne auf den unterdrückten Fluch zu achten, der in einer seltsam klingenden Sprache ausgestoßen wurde.

Der Griff, der gleich darauf seinen schmerzenden Schädel an seinen Haaren nach hinten zerrte, ließ den Kranken keuchen. Zudem wurde ihm der Becher erneut und so fest an die Lippen gedrückt, dass er sich gezwungen sah, den Mund zu öffnen. Mit einem Mal sicher, dass eine Weigerung seinerseits mit noch mehr Schmerzen geahndet werden würde, schluckte er nun gehorsam den bitteren Aufguss irgendeines ekligen Krautes, ängstlich darauf bedacht, seiner neu aufsteigenden Übelkeit nicht nachzugeben. Nachdem er endlich den ganzen Inhalt des Bechers geschluckt hatte, ließen ihn die unbarmherzigen Finger los. Gleichzeitig fühlte er eine wohlige Wärme in sich aufsteigen, die ihn müde und willenlos machte. Also überließ er sich ergeben der lähmenden Schwere, die sich wohltuend seines Körpers bemächtigte.

Das Trillern eines Vogels weckte Eric aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Und mit jedem neuen Laut, den er in seiner Umgebung ausmachte, kam auch ein Teil seiner Erinnerung an die letzte Wachphase zurück. Die grässliche Brühe hatte ihn wohl umbringen sollen, dachte er schaudernd, während sich seine Augen langsam an das Dämmerlicht gewöhnten, welches ihn umgab. Und diese Hände, die ihn ständig angefasst hatten, gehörten wohl einem der rücksichtslosesten Menschen, die es überhaupt geben konnte! Wer auch immer das gewesen war, hatte wohl eine sadistische Freude daran gehabt, ihm Schmerzen zu bereiten. Obwohl er sich mit Händen und Füßen gewehrt hatte, war er mit Fett eingerieben und dann in unzählige stinkende Lappen eingewickelt worden. Widerlich! Allein dieser Geruch! Man war versucht, sich zu übergeben, allein bei der Erinnerung daran. Aber dazu müsste man sich wieder aufrichten, dachte er beklommen. Und das hieß, dass dann neue Schmerzen einsetzen würden.

Sein letzter Gedanke war kaum zu Ende gebracht, da wurde Eric bewusst, dass er zwar seine Glieder bewegt, dabei aber kein unangenehmes Gefühl gehabt hatte. Kein Stechen. Kein Ziehen. Ganz im Gegenteil! Er fühlte sich so entspannt wie lange nicht mehr. Und der Gestank war auch weg. Wenn man einmal von dem ungewohnten Aroma von getrockneten Kräutern absah, dann roch es sogar recht gut. Aber wo zum Teufel war er? Dass er in einer Art Zelt auf etwas wie einem mit Fellen bedeckten Heuhaufen lag, war ihm schon klar. Dennoch hatte er jetzt einige Schwierigkeiten damit, sich zurechtzufinden.

Über seinem Lager bemerkte Eric ein Geflecht aus biegsamen Weidenzweigen, die sich hell gegen das dunkle Leder abhoben, welches zum Schutz vor Regen und Wind über sie gespannt war. An unzähligen Schnüren hingen dort auch verschiedenartige Sträuße getrockneter Pflanzen, die er jedoch in diesem Augenblick nicht hätte benennen können. Also ließ er seine Augen weiter über die lederne Wand wandern, die ihn vor der Kälte des frühen Morgens schützte. Die Figuren und Ornamente, mit einem strahlenden Weiß und einem satten Ocker auf das Leder aufgemalt, kamen ihm seltsam vertraut vor. Und die merkwürdig flackernden Schatten, die den Figuren ein unheimliches Eigenleben einzuhauchen schienen, wurden augenscheinlich von den Flammen eines offenen Feuers verursacht, dessen Hitze ihn wärmte, weil es in seiner unmittelbaren Nähe brannte.

Nach seiner letzten Feststellung wandte Eric den Kopf, um sich auch den Rest der Behausung ansehen zu können.

„Na? Hat das Bleichgesicht wieder in die wirkliche Welt zurückgefunden?“

Momentan weder fähig, zu entscheiden, wo genau er sich befand, noch wirklich wissend, wer er eigentlich war, lauschte Eric der heiser klingenden Stimme einen Augenblick nach. Doch dann richtete er sich hastig auf, weil ihm jäh klar geworden war, dass er keineswegs allein und schon gar nicht unbeobachtet war. Trotz des Schwindels, der sofort einsetzte, sobald er saß, wandte er sich in die ungefähre Richtung, aus welcher die Stimme gekommen war, mit der Absicht, die dazugehörige Person anzusehen. Allerdings hatte er einige Schwierigkeiten damit, weil seine Augen kein festes Ziel finden konnten. Schließlich blieb sein Blick an der zusammengesunkenen Gestalt hängen, die, vergleichbar mit einem unscheinbaren Kleiderbündel, dem sowohl Inhalt als auch jegliche Form fehlte, auf der anderen Seite der Feuerstelle hockte. Das gedämpfte Licht des kleinen Feuers beleuchtete ein kleines verhutzeltes Gesicht, auf welchem nun ein breites Grinsen sichtbar wurde. Dunkle, stechende Augen, die so ganz und gar nicht zu diesem alten Gesicht passen wollten, starrten ihn mit eigenartiger Intensität an, sodass er meinte, man wolle nicht nur sein Äußeres begutachten, sondern auch seine Gedanken erraten.

Eric richtete sich nun vollends auf, wobei das weiche Fell, welches bisher seinen Körper bedeckt hatte, ins Rutschen kam und nackte Haut enthüllte. Verwundert schaute er an sich herunter, weil er sich diesen Umstand nicht erklären konnte, nur um festzustellen, dass man ihn seiner gesamten Kleidung beraubt hatte. Das wiederum führte dazu, dass ihm augenblicklich brennende Schamröte in die Wangen schoss.

„Bist nicht der erste nackte Mann, den ich zu sehen bekommen habe“, beschied ihm seine Gastgeberin mit einer wegwerfenden Handbewegung, während sie mit der anderen neues Holz in die Flammen legte. „Hab’ drei Ehemänner gehabt, und mindestens so viele Söhne.“

Die Sprache und ihre seltsame Erscheinung waren ihm auf unheimliche Wiese so vertraut, als wäre er damit aufgewachsen. Dennoch war er sich absolut sicher, dass dem nicht so war. Woher er dieses Wissen nahm, war ihm zwar völlig schleierhaft, aber das erschien ihm in seiner jetzigen Situation auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war vielmehr die Frage, wer sie war, und was sie von ihm wollte.

„Wo bin ich hier?“ Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da wurde ihm bewusst, dass er die gleiche Sprache benutzte, wie sie gerade eben. Und das kam ihm so seltsam vor, dass er kurzfristig vergaß, was er gerade gefragt hatte.

Die alte Frau kicherte verhalten, während sie einen Blick in den kleinen Kessel warf, der über der Feuerstelle hing.

„Tz, tz. Er weiß nicht, dass er sich im Haus der Geisterfrau befindet“, murmelte sie erheitert. „Der Pferdemann hat schon so viele Male darin gesessen. Aber er erkennt es nicht wieder. Na ja, sein Kopf scheint wirklich Schaden genommen zu haben.“ Mit diesen Worten stand sie ächzend auf und ging dann ein wenig gebückt zum Ausgang des Zeltes, um das Lederstück zurückzuschlagen, welches zum Verschließen der Öffnung diente.

Das klare Morgenlicht, welches nun freie Bahn zu seinen Augen hatte, traf Eric völlig unvorbereitet, sodass er reflexartig die Lider schloss. Als jedoch das leise Tappen zweier Füße hörbar wurde, riss er die Augen wieder auf. Die Alte jetzt direkt vor sich vorfindend, fuhr er augenblicklich vor ihr zurück, weil sie die Hände erhoben hatte, mit der unübersehbaren Absicht, nach ihm zu greifen. Sie hatte offenbar etwas Bestimmtes vor, dachte er. Und das war bestimmt nichts Gutes!

Eric kam nicht wirklich dazu, zu einer Gegenwehr anzusetzen, denn die Greisin langte ohne Umschweife nach seinem Schopf. Gleichzeitig drückte sie seinen Kopf nach hinten und zog mit den dürren Fingern ihrer anderen Hand eines seiner Lider nach oben, um hernach sein Auge zu inspizieren. Völlig überrumpelt ließ er die gleiche Prozedur regungslos über sich ergehen, derweil sie auch das andere Auge betrachtete. Dabei wartete er angespannt darauf, welche Tätlichkeit als Nächstes folgen würde.

„Ein wenig trüb“, stellte die alte Indianerin schließlich fest und nickte dabei einige Male, so als wolle sie ihre Feststellung zusätzlich bekräftigen. „Aber das ist nicht so dramatisch. Hab’ wohl ein bisschen viel von meinen Kräutern genommen.“ Ihr letztes Wort war noch nicht richtig ausgesprochen, da ließ sie ihn auch schon wieder los. Gleich darauf ging sie zur Seitenwand des Zeltes, wo sie ein kleines Holzgefäß aufnahm, um dann wieder zu ihm zurückzukehren.

Sofort erinnerte sich der Kranke an die gallebittere Flüssigkeit, die sie ihm während seiner Benommenheit eingeflößt hatte. Also hob er abwehrend beide Arme.

„Ist nur klares Wasser.“ Sie lachte schallend über seine skeptische Miene. „Hast du sonst auch immer genommen. Das beste Wasser weit und breit, hast du immer gesagt.“ Immer noch lachend drückte sie ihm die Schale in die Hände und trippelte anschließend wieder zum Feuer zurück.

Voller Misstrauen hob Eric den Napf an seine Nase und machte zunächst einen Geruchstest. Da er jedoch keinerlei verdächtiges Aroma wahrnehmen konnte, setzte er das Gefäß endlich an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Und weil es tatsächlich nur Wasser war, seufzte er erleichtert, bevor er die Schale in großen durstigen Zügen leerte.

Die Greisin sah ihm dabei lächelnd zu, wobei sie die einzigen beiden Zähne zeigte, die sie noch besaß. Unterdessen waren ihre Hände in ständiger Bewegung, doch das fiel kaum auf, weil sie von dem weiten Umhang verdeckt wurden, der um ihre Schultern lag.

„Pferdemann?“

„Ja?“ Der Angesprochene schaute fragend zu der Alten hin, und wunderte sich insgeheim darüber, dass ihm dieser Name zwar völlig normal und vertraut in den Ohren klang, dass er aber dennoch das Gefühl hatte, es sei irgendetwas nicht so, wie es eigentlich sein sollte. Ja, er fühlte sich so, als hätte man ihn mitten im Lauf angehalten, um ihn in die entgegengesetzte Richtung seines eigentlichen Zieles zu drängen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob er dies wollte oder nicht.

„Na, wenigstens weißt du noch, wer du bist“, ließ seine Gastgeberin verlauten. „Das ist gut. Ich dachte schon, er hätte dir deine Seele genommen.“

„Wer?“, fragte er verwirrt.

Die alte Frau betrachtete ihn zunächst abschätzend, so als wüsste sie nicht, was sie ihm antworten sollte.

„Der Adler“, erklärte sie endlich. „Er fiel vom Himmel, wie ein Stein. Ich hab’ ihn neben dir gefunden. Er hat sich mit letzter Kraft zu dir hingeschleppt, und ist dann an deiner Seite verendet. War wirklich sehr merkwürdig die ganze Sache.“ Die Erinnerung an die unheimliche Szenerie des Unfallortes ließ sie auch noch im Nachhinein den Kopf schütteln. „Hab’ ihn genau untersucht. Aber ich konnte nichts Ungewöhnliches finden. Scheint aus heiterem Himmel toll geworden zu sein. So wie er sich hat fallen lassen, könnte man meinen, er wollte sich absichtlich umbringen. Hast du schon mal erlebt, dass sich ein wildes Tier mit voller Absicht selbst tötet?“

Eric schüttelte verneinend den Kopf. Gleich darauf schweiften seine Gedanken ab, obwohl seine Gastgeberin weiter über die Geschehnisse redete, die sich an der bewussten Stelle des Waldes ereignet hatten. Dass man ihn Pferdemann nannte, war ihm nicht fremd. Auch die greisenhafte Erscheinung der Frau war ihm wohl vertraut. Dennoch hatte er das Gefühl, irgendwie fehl am Platze zu sein. Es war, als ob er nicht er selbst wäre. … Verrückt. Alles war in letzter Zeit irgendwie komisch. Selbst seine Träume waren nicht mehr normal. Allein der letzte … In seinem letzten Traum war er geflogen, erinnerte er sich. So wie ein Vogel fliegt. Und er war der Sonne so nahegekommen wie kein anderes Lebewesen zuvor. Aber dann … Da war jemand gewesen, der geschrien hatte. Nur war er nicht mehr dazu gekommen, nach dem Rufenden zu schauen … Er war nämlich von oben herab in eine Baumkrone gekracht, was mit einem heißen Schrecken und großen Schmerzen einhergegangen war. Und obwohl es bloß ein Traum gewesen war, tat ihm jetzt alles weh, so als wäre er wirklich auf dicke Äste und nicht nur auf den Waldboden herabgefallen. Zudem hatte er das Gefühl, als wäre er nicht nur am falschen Ort, sondern auch jemand völlig anderes.

Während Eric das helle Wiehern eines Pferdes hörte, blitzten Erinnerungen in seinem Kopf auf, die ihn zusätzlich verunsicherten. Als würde man eine Bilderfolge vor seinem inneren Auge abspulen, erlebte er seinen Unfall auf ein Neues. Allerdings aus einem Blickwinkel heraus, der ihn maßlos verwirrte. Er meinte, er beobachte sich selbst von oben herab, wie er dösend durch den schattigen Wald ritt. Dann stieg das Pferd plötzlich auf die Hinterbeine und raste anschließend im wilden Galopp los. Dabei fielen sowohl der Reiter als auch er selbst in einigem Abstand zueinander auf den dunklen Waldboden. Der Mensch geriet somit aus seiner Sicht. Er selbst hingegen rappelte sich mühsam auf, weil es ihn mit aller Macht dazu drängte, den gefallenen Reiter zu finden. Wieso das so wichtig war, wusste er nicht. Aber es erschien ihm lebensnotwendig, die Stelle so schnell als möglich zu finden, wo sich der Mann befand. Allein Boys panische Angstschreie begleitete ihn gerade noch so lange, bis er den gefallenen Menschen erreichte und neben diesem sein Bewusstsein verlor.

Die plötzlich einsetzende Sorge um sein Pferd, das sich bei dem Unfall möglicherweise verletzt haben könnte, ließ Eric vergessen, dass er keine Kleidung trug. Nackt wie er war, stürzte er aus dem Zelt und schaute sich gleichzeitig nach dem Tier um. Erst der Anblick einiger anderer Zelte, die der Behausung hinter ihm sehr ähnlich waren, und die noch feuchte Kühle des frühen Morgens, brachte diese peinliche Erinnerung zurück. So schnell wie er aus dem Zelt gekommen war, so schnell zog er sich auch wieder in das Innere zurück, denn nun hörte er auch verschiedene Stimmen, die sich seinem Standort näherten. Er hatte gerade das rettende Lager mit dem Fellüberwurf erreicht, welchen er sich hastig über seinen Körper zog, da tauchten in der Eingangsöffnung des Zeltes auch schon zwei Gestalten auf, die ihn mit einem erfreuten Grinsen bedachten.

Eric war sich instinktiv sicher, dass er eigentlich wissen sollte, wer die beiden groß gewachsenen Männer waren. Da das aber nicht der Fall war, wollte er schier verzweifeln, weil sein Kopf in diesem Moment einem leeren Gefäß glich, dessen ursprünglicher Inhalt irgendwo da draußen – vielleicht im Wald? – verstreut worden war.

„Müsst euch nicht wundern“, sagte die alte Frau im herablassenden Tonfall zu den beiden Besuchern. „Sein Kopf ist noch nicht ganz klar. Er hat sogar vergessen, wie es im Haus der Geisterfrau aussieht. Tut fast so, als wäre er zum ersten Mal bei ihr.“

Erst jetzt lichtete sich das Chaos in Erics Kopf. Geisterfrau! Das war die Alte selbst, auch wenn sie von sich wie von einer anderen Person sprach. Und die beiden Männer waren Grauer-Bär, der Häuptling, und sein Sohn Falkenauge – seine Freunde.

Sobald er sich an die Personen und deren Bedeutung für sich selbst erinnerte, kamen auch die anderen Dinge wieder in Erics Gedächtnis zurück, sodass er nun nicht länger zu rätseln brauchte, wo und bei wem er sich gerade aufhielt. Allein das Gefühl, dass da immer noch etwas war, was nicht so recht ins Bild passen wollte, störte ihn ein bisschen. Allerdings drängte er sein Unbehagen mit Gewalt zurück und grinste dabei die beiden Indianer an, die sich mittlerweile zu ihm gesetzt hatten.

„Du kommst gerade recht“, sagte Grauer-Bär statt einer förmlichen Begrüßung. „Dann kannst du die Zusammengabe deines Schattens mit Stilles-Wasser miterleben.“

Eric zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Dass sich Falkenauge ausgerechnet dieses Mädchen erwählt hatte, hörte er mit Verwunderung. Seit er den Stamm, oder besser gesagt, seit er Falkenauge kannte, waren aus dessen Mund immer nur abfällige Bemerkungen über die wunderschöne junge Frau hervorgekommen. Wann immer sie ihm vor die Füße geraten war, hatte er sich ihr gegenüber stets arrogant und angriffslustig gegeben. Und jetzt das! Wie war das möglich?

Eric war wirklich sehr verwirrt. Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Falkenauge galt zwar innerhalb der Gemeinschaft als guter Jäger und erwachsener Mann, war bisher jedoch noch weit davon entfernt gewesen, auch in Gefühlsdingen so sicher aufzutreten, wie es einem Erwachsenen anstand. Also hatte er seine Verunsicherung mit Gemeinheiten bemäntelt, denn er wollte doch als ganzer Kerl angesehen werden, der vor nichts und niemandem klein beigab. Vor allem hatte er nicht riskieren wollen, dass man ihn öffentlich zurückwies, wenn er der Sehnsucht seines Herzens folgte. Und Stilles-Wasser war wohl die allerletzte, der er offenbaren wollte, wie groß ihre Macht über ihn war.

„Ich habe sie vor einem wilden Wolf beschützt“, gestand Falkenauge mit belegter Stimme, als ihm der fragende Blick des Freundes bewusst wurde. „Danach hat sie mir gesagt, dass sie gerne das Zelt mit mir teilen würde.“

Eric lachte, was ihm einen verärgerten Blick einbrachte. Doch das störte ihn nicht weiter.

„Ich habe schon gedacht, du wirst ein alter blinder Mann, bevor du dich nach einer ständigen Gefährtin umsiehst. Obwohl man dich Falkenauge nennt, scheinst du in bestimmten Angelegenheiten stets einen getrübten Blick zu haben“, sagte er immer noch lachend. „Seit ich euch kenne, weiß ich, dass Stilles-Wasser dich als Gefährten begehrt.“

Der junge Indianer starrte ihn für einen Moment sprachlos an.

„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte er schließlich empört.

„Hättest du mir denn geglaubt?“, fragte Eric zurück, indem er wieder ernst wurde. „Außerdem dachte ich immer, du magst sie wirklich nicht. Warum sollte ich dich also auf das Interesse eines Mädchens aufmerksam machen, welches du ohnehin nie als deine Gefährtin in Erwägung ziehen würdest.“

„Wie auch immer es gewesen ist“, mischte sich Grauer-Bär ein, womit er Falkenauge eine weitere, möglicherweise für ihn peinliche Erklärung ersparte. „Nun werden wir die Zusammengabe dieser beiden feiern.“ Seinem Sohn auf die Schulter klopfend, grinste er den jungen Mann wohlwollend an, und wandte sich dann wieder Eric zu: „Wie wäre es, wenn wir deine Namensgebung gleich mitfeiern würden?“

Eric wusste zunächst nicht, was er von dieser Frage halten sollte, und blickte den Häuptling entsprechen seiner Verwirrung völlig verständnislos an.

„Geisterfrau hat mir die Geschichte erzählt“, versuchte der Indianer zu erklären. „Es sieht so aus, als hätte dich der Adler als seinen menschlichen Bruder erkannt. Was liegt da näher, als den Namen anzunehmen und fortan für dich zu verwenden, den er uns so deutlich zu verstehen gegeben hat?“ Während er sprach, taxierte er den jungen Mann mit einem ungewohnt intensiven Blick.

Eric fand nicht gleich die richtigen Worte, um eine Ablehnung so zu formulieren, dass sie nicht wie eine Beleidigung klang. Also schwieg er zunächst und wich dabei dem Blick des Häuptlings bewusst aus. Er kannte die uralte indianische Überlieferung, wonach ein jeder Mensch ein geistiges Gegenstück in der Natur besaß. Auch wusste er mittlerweile von vielen Legenden, die sich mit alten Mythen und magischen Ritualen aus längst vergangener Zeit befassten, und die eine immens große Rolle für die Indianer spielten. Dennoch maß er selbst ihnen keinerlei besondere Bedeutung bei, denn für ihn waren es Märchen, die man kleinen Kindern erzählte, um ihnen die Angst vor unbekannten und somit bedrohlich wirkenden Dingen zu nehmen. Doch obwohl er nicht einen Krümel all dieser Geschichten glaubte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dies laut auszusprechen, weil er den Glauben der Indianer respektierte und sie deshalb nicht mit seiner Auffassung kränken wollte.

„Das war doch reiner Zufall“, wandte er schließlich leise ein. „Das Tier war vielleicht krank. Oder es ist etwas anderes geschehen, was ihn hat abstürzen lassen. Ich kann mir nicht denken, dass sich ein wildes Tier absichtlich zu Tode fallen lässt, nur um den Menschen zu zeigen, wer sein geistiger Bruder ist.“

Grauer-Bär schüttelte nachsichtig den Kopf. Der Weiße-Mann, den man bisher Pferdemann genannt hatte, war oft und lange bei ihnen zu Gast gewesen, und hatte von Geisterfrau wohl mehr Geheimnisse zu hören bekommen als selbst ein Angehöriger ihrer eigenen Sippe. Aber die tiefen Geheimnisse solcher Hinweise vonseiten der Höchsten-Macht konnte er überhaupt nicht verstehen. Oft genug fiel es sogar den Eingeweihten schwer, den Willen, der dahinterstand, zu erkennen und die Zeichen richtig zu deuten.

„Es hat schon seine Richtigkeit“, erklärte das Stammesoberhaupt mit fester Stimme. „Er hat dich erkannt. Auch wir können uns nicht erklären, warum er sich dabei gleich in den Tod gestürzt hat. Aber es wird wohl ein Sinn dahinterstecken. Nichts geschieht ohne den Willen der Höchsten-Macht!“

Eric wollte schon zu einer heftigen Entgegnung ansetzen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück. Diese freundlichen Menschen konnten nichts dafür, dass er längst nicht mehr an eine höhere Macht glaubte, die über die Menschen wachte und deren Schicksale lenkte. Grauer-Bär wollte sicherlich nur ein besonders schönes Fest für seinen Stamm organisieren. Genau! Die Indianer ließen eigentlich nie eine Gelegenheit aus, um eine fröhliche Feier zu veranstalten. Also warum nicht, entschied er, indem er zustimmend nickte. Was konnte es schon schaden, wenn er einfach mitspielte und so tat, als ob? Wenn sie ihrem Fest unbedingt noch einen weiteren Höhepunkt hinzufügen mussten, würde er ihnen halt die Freude machen und sich der Zeremonie der Namensgebung unterziehen. Erstens tat so etwas nicht weh. Und zweitens würde es die freundschaftlichen Bande zusätzlich festigen, welche zwischen ihnen bestanden.

„Gut“, schnaubte der Häuptling zufrieden. „Falkenauge wird dich begleiten, wenn du zu der Heiligen-Quelle gehst. Auch er hat ein Anliegen, auf die er sich dort eine Antwort holen will.“ Mit diesen Worten stand er auf, grüßte Geisterfrau in gebührender Form, und verließ ihr Zelt ohne ein weiteres Wort.

„Heilige-Quelle?“, fragte Eric überrascht. Er hörte heute wirklich zum ersten Mal davon, denn bisher war diese Bezeichnung noch niemals in seiner Gegenwart gebraucht worden. Entsprechend verwirrt sah er zwischen den Gesichtern der Medizinfrau und seines Freundes hin und her. Weil ihm jedoch keiner der beiden eine Erklärung gab, stand er ungeachtet seiner Nacktheit auf und begann nach seiner Kleidung zu suchen. Als er sie schließlich gewaschen und sauber gefaltet in einer kleinen Nische zwischen den Behältern mit getrockneten Früchten und geraspelten Wurzeln fand, zog er sich hastig an und trat dann in den Eingang des Zeltes, mit der unübersehbaren Absicht, zu gehen.

„Wenn mir keiner sagt, worum es sich bei dieser komischen Heiligen-Quelle handelt, werde ich nicht hingehen“, warf er über die Schulter zurück.

Falkenauge sah Geisterfrau bittend an, doch die schüttelte nur den Kopf.

Erst als offenbar wurde, dass Eric tatsächlich das Lager verlassen wollte, ohne auf die Zeremonie der Namensgebung einzugehen, entschied sich die Medizinfrau, ihm die gewünschten Informationen zu geben.

„Es ist ein geheiligter Ort“, sagte sie mit ihrer merkwürdig klingenden Stimme. „Es dürfen nur Mitglieder des Stammes dort hingehen. Kein Fremder darf den Ort betreten, denn er würde ihn entweihen. Einer alten Überlieferung nach hat die Höchste-Macht dort einen Beweis ihrer Existenz hinterlassen, damit die Menschen glauben können. Der heiße Atem der Höchsten-Macht hat vor Urzeiten das Wasser zum Kochen gebracht. Seither sprudelt die Heilige-Quelle aus tiefen Felsspalten hervor und erinnert uns immer wieder daran, dass wir sterbliche Wesen sind, die von dem Willen der Höchsten-Macht abhängen.“

Ihre Stimme war schon fast ein Flüstern, dennoch hörte Eric ihre Worte laut und deutlich, allein weil sie so eindringlich und beschwörend hervorgebracht wurden.

„Aber ich bin doch ein Fremder“, sagte er überrascht.

Die Greisin schüttelte den Kopf. Es sprach für ihn, dass er sie richtig verstanden hatte. Trotzdem schien er das ganze Ausmaß seine Bestimmung nicht zu erkennen. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er die Lage und die Bedeutung der Heiligen-Quelle kannte, denn er lebte ja schließlich in unmittelbarer Nähe davon. Aber am Ende hatte sie erkennen müssen, dass er offenbar gar nichts wusste, aus dem ganz einfachen Grund, weil sein menschlicher Verstand nicht bereit war, scheinbar unglaubliche Vorgänge zu akzeptieren.

„Du bist kein Fremder“, sagte sie nun bestimmt. „Du bist ein Mitglied der Großen-Gemeinschaft. Du hast schon immer zu uns gehört. Nicht nur seit du der Schatten von Falkenauge warst. Du warst für einige Zeit nicht bei uns. Aber jetzt bist du zurück.“

Eric blickte in die merkwürdig stechenden Augen der alten Frau, registrierte dort ein unterschwelliges Glimmen und fürchtete sogleich um den Verstand seiner betagten Freundin, denn ihr Gerede ergab für ihn überhaupt keinen Sinn.

„Wir sind Kinder der Höchsten-Macht “, fuhr sie fort, bevor er irgendetwas einwenden konnte. „Lichtgestalten, die von Zeit zu Zeit eine kleine Weile auf dieser Welt verweilen dürfen, als Gäste von Mutter Natur und Teil eines neuen Geschöpfes. Dabei sind Zeit und Ort unseres Lebens nicht immer genau vorausbestimmt. Manchmal ist uns ein ganzes Menschenleben vergönnt. Und manchmal dürfen wir nur einige kurze Augenblicke verweilen, bevor wir zur Großen-Gemeinschaft zurückkehren, um dort auf unsere nächste Aufgabe zu warten.“

Das was sie ihm da erzählte, war ja unglaublich, dachte Eric fassungslos. Verrückt! Völlig durchgedreht! Dabei schien sie tatsächlich daran zu glauben. Und in ihrem Wahn versuchte sie auch ihn davon zu überzeugen, dass es so war, wie sie sagte. Aber das würde er nicht zulassen, entschied er. Noch war er Herr seiner Sinne, und somit durchaus in der Lage, vernünftiges von Irrsinnigem zu unterscheiden.

„Ich habe dich erschreckt.“ Geisterfrau wusste durchaus, was im Kopf ihres Gegenübers vor sich ging, ließ jedoch mit keinem Wimpernschlag erkennen, dass sie ihn durchschaute. „Das lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte dir nur deutlich machen, dass du keineswegs ein Fremder für uns bist.“ Sie hätte ihm noch so vieles zu sagen gehabt. Allerdings war es dafür noch zu früh. Er war – nach rein menschlichem Ermessen – jetzt noch so jung, dass man schwerlich mit ihm über seinen eigenen Tod reden konnte. Später, wenn er einen Gutteil seines vorbestimmten Weges hinter sich gebracht hatte, würde er sicherlich mehr Verständnis aufbringen. Dann würde er wahrscheinlich auch mehr Geduld und Interesse haben, um die Vorgänge zu durchschauen, die sich seit ewiger Zeit ständig wiederholten.

Da die alte Frau wieder völlig normal und emotional unbewegt wirkte, fing sich Eric zusehends. Sicher, sie hatte dummes Zeug von sich gegeben. Aber letztlich hatte sie ihm doch gesagt, worum es sich bei der Heiligen-Quelle handelte. Sie meinte offenbar die heiße Quelle, die sich unweit seiner Blockhütte befand. Er hatte sein Glück kaum zu fassen gewagt, als er diesen warmen kleinen Teich bei einem seiner ersten Erkundungsgänge entdeckt hatte. Ohne die dafür nötigen und sehr arbeitsaufwendigen Vorbereitungen treffen zu müssen, konnte er sich hier einfach in das leicht schweflige Wasser fallen lassen und die wohlige Wärme genießen. Dass er mit seinem unüberlegten Verhalten möglicherweise ein Tabu gebrochen haben könnte, war ihm noch nie in den Sinn gekommen. Auch jetzt, nachdem er davon wusste, hatte er nicht den leisesten Anflug eines schlechten Gewissens. Die Natur war so vielfältig und hielt so viele Überraschungen parat, dass es müßig erschien, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob man die Gaben nun annehmen und genießen durfte, oder nicht.

„Gut“, sagte er endlich. „Ich werde mit Falkenauge gehen. Muss ich noch etwas beachten? Oder ist es meine einzige Aufgabe?“, fragte er abschließend.

Geisterfrau sah ihn nur durchdringend an, sagte aber nichts mehr.

Da er keine Antwort von ihr erhielt, verließ Eric das Zelt seiner Gastgeberin, um nun endlich nach seinem Pferd zu sehen. Seine hohe Gestalt streckend, stieß er gleichzeitig einen lang gezogenen, durchdringenden Pfiff aus. Und nur einen Atemzug später sah er seinen Hengst aus der Herde ausscheren, welche friedlich in der Nähe des Dorfes graste. Als Boy ihn schließlich erreichte und kurz vor ihm wie angewurzelt stehen blieb, um ihm die weiche Nase gegen die Brust zu drücken, belohnte er dessen Gehorsam anhand eines freundlichen Klopfens und griff dann in die dichte Mähne, um den Hals des Tieres kurz zu kraulen.

„Gut siehst du aus“, lobte er mit sanfter Stimme und erinnerte sich dann jäh daran, dass er noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie lange er diesmal in Geisterfraus Obhut gewesen war. Es mussten mindestens einige Tage gewesen sein, dachte er für sich. Sein sonst glatt rasiertes Gesicht war mittlerweile von einem wild wuchernden Stoppelbart bedeckt. Und Boy war bei seinem Aufbruch auch ein wenig magerer gewesen.

„Vier Tage.“ Damit beantwortete die Medizinfrau seine Frage. „Du hast zwei Tage geschlafen wie ein Toter. Danach hast du meinen Tee bekommen, und dann noch mal zwei Tage geschlafen.“ Da er sich bei ihrer Erklärung unwillkürlich schüttelte, ging sie davon aus, dass er sich an ihren Kräutertrank erinnerte, und kicherte verhalten. Medizin, die gut schmeckte, wirkte nicht. Ihre Medizin dagegen wirkte immer. Auch wenn das kaum jemand glauben wollte. Der Pferdemann war da keine Ausnahme. Nicht umsonst waren die Mitglieder ihrer Sippe erstaunlich gesund. Dass diese Tatsache allein der Umsicht der übrigen Indianer zu verdanken war, ließ sie nicht gelten, obwohl sie natürlich wusste, dass man allgemein versuchte, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen, indem man auf die eigene Gesundheit achtete, um ihre allseits gefürchtete Heilkunst nicht in Anspruch nehmen zu müssen.

5

Der Tag hatte wieder einmal mit einem spektakulären Sonnenaufgang begonnen. Doch mittlerweile waren Wolken aufgezogen, die allmählich dunkler wurden und Regen versprachen.

Falkenauge war seltsam still und in sich gekehrt, was Eric erst nach einer ganzen Stunde auffiel.

„He, Freund“, sprach er ihn nach kurzem Zögern an. „Du bist wohl schon bei der eigentlichen Zusammengabe?“ Dass sich die Wangen des Indianers plötzlich stark röteten, entlockte ihm ein hörbares Kichern, denn er ging davon aus, dass er seinen Begleiter tatsächlich bei einem sehr aufregenden Tagtraum gestört hatte.

„Du brauchst gar nicht zu lachen“, schnappte der Angesprochene gereizt. „Du hast nach Kleine-Eule keine andere mehr an dich herangelassen. Also musstest du dich auch keinem weiteren Vergleich mehr stellen!“

Hätte man Eric einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Schädel gekippt, er wäre nicht ernüchterter gewesen. Nein, die eben erwähnte Frau hatte nichts damit zu tun, dass er sich nun ziemlich unwohl in seiner Haut fühlte. Ihr Anblick in den Armen eines anderen tat längst nicht mehr so weh, wie er noch vor zwei Wochen befürchtet hatte. Aber der Hinweis darauf, dass er möglicherweise mit anderen Liebhabern verglichen worden war, und dabei nicht unbedingt gut abgeschnitten haben könnte, verursachte ihm Unbehagen. Für ihn war Sexualität etwas Besonderes und sehr Intimes, und darum kein Thema, das öffentlich diskutiert werden sollte. Aber für die Indianer war es eine ganz gewöhnliche Sache, die zum Leben gehörte, wie die Notwendigkeit zu essen oder zu trinken. Die meisten Paare lebten zwar in festen Gemeinschaften, allein damit die gemeinsamen Kinder feste Bezugspersonen hatten, doch war es den Menschen nicht verboten, auch außerhalb ihrer eheähnlichen Beziehung ihre sexuellen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, wenn der eigene Partner nicht imstande oder willens war, darauf einzugehen. Und so waren die amourösen Abenteuer oft genug das Gesprächsthema Nummer Eins, wenn sich zwei oder drei Sippenmitglieder zu einem Plausch trafen, wobei sie nicht selten für ausgelassene Erheiterung unter den jeweiligen Zuhörern sorgten. Sicher, das Opfer solcher Tratscherei wurde selten mit Namen benannt. Allerdings war es für jeden Mann eine wahre Horrorvorstellung, er könnte irgendwann einmal selbst das Ziel des Spottes sein, der in der Regel stets den Versager traf. Bei Falkenauge war das bestimmt nicht anders, auch wenn er seit seiner Reifeprüfung bestimmt viele wertvolle Erfahrungen im Umgang mit Frauen gemacht hatte. Immerhin war er ein gut aussehender junger Mann, war also garantiert nicht oft zurückgewiesen worden. Dennoch schien es, als wäre er sich seiner immer noch nicht ganz sicher, auch wenn Stilles-Wasser keinen anderen Mann als ihn ansah, geschweige denn in ihrem Zelt willkommen hieß.

„Verzeih“, bat er.

Obwohl Falkenauge die Entschuldigung des Freundes gehört hatte, schwieg er sich für die restliche Zeit des Rittes beharrlich aus. Erst als sie die Quelle erreichten, schien der junge Indianer seine gute Laune wiedergefunden zu haben, denn nun grinste er wieder über das ganze Gesicht.

Eric zügelte seinen Hengst am Ufer seines Badeteiches und stieg dann ab. Er wollte gerade sein Pferd an einem Strauch festbinden, da fiel ihm auf, dass sich Falkenauge nicht zu ihm gesellt hatte. Sich um die eigene Achse drehend, schaute er sich suchend um, und entdeckte den jungen Indianer schließlich auf der gegenüberliegenden Seite des Gewässers, wo er am Ufer entlang schlenderte und dabei den Eindruck erweckte, als würde er etwas suchen. Ein gutes Stück von Falkenauge entfernt stand sein Pony im Schatten eines Baumes und knabberte an dem saftig grünen Gras vor seinen Vorderhufen.

Eric wollte gerade rufen, um den Freund auf sich aufmerksam zu machen, da bemerkte er die leichte Bewegung im Gebüsch hinter dessen Rücken. Gleich darauf hielt er den Atem an, weil sich dort eine Gestalt aus dem Laub herausschälte, die wunderschön und furchterregend zugleich war.

Plötzlich stand auch Falkenauge wie angewurzelt und starrte ein paar Sekunden lang auf den Wasserfall, die sich unweit seines Standortes in den Teich stürzte. Dann, ganz langsam, drehte er sich um die eigene Achse, um die lauernde Gefahr in Augenschein zu nehmen, dessen Anwesenheit er mehr spürte, als hörte. Doch sobald seine Drehung vollendet war, blieb er wiederum wie festgewachsen stehen, während sich sein Blick an der großen Raubkatze festsaugte, die nur ein paar Schritte von ihm entfernt wie eine Staute aus dunklem, glänzendem Marmor aus dem hohen Gras aufragte.

Hätte der junge Indianer in diesem Augenblick auch nur mit den Wimpern gezuckt, das Pumaweibchen hätte ihn unweigerlich angesprungen und mit einem einzigen Genickbiss getötet. So aber standen sich Mensch und Tier unbeweglich gegenüber und blickten sich bloß in die Augen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während keiner zu atmen wagte. Am Ende machte das Tier einen unverhofften Satz auf den Indianer zu. Allerdings sprang es dann seitlich an ihm vorbei in das dort dicht wachsende Gebüsch hinein, um in der nächsten Sekunde spurlos zu verschwinden.

Dass sich das Pony seines Freundes überhaupt nicht um das Raubtier gekümmert, sondern nach wie vor friedlich gegrast hatte, fand Eric höchst erstaunlich. Er erklärte es aber mit den Windverhältnissen, die die Witterung des Pumas in eine andere Richtung getragen haben mussten. Im nächsten Moment schob er jedoch alle unwichtigen Überlegungen beiseite und rannte zu seinem Freund, der immer noch wie festgefroren am gleichen Fleck stand.

„Ich bin in Ordnung“, versicherte Falkenauge mit erstaunlich fester Stimme, sobald man ihn ansprach. „Kein Grund, sich aufzuregen.“ Mit diesen Worten zog er sich aus und machte sich umgehend daran, sein ursprüngliches Vorhaben zu Ende zu führen. Die Botin der Höchste-Macht hatte seine Frage beantwortet. Allerdings hatte sie auch eine Warnung parat gehabt, die er ernst nahm. Nun, die Zukunft konnte niemand exakt voraussagen. Es blieb einem daher nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass es für jedes Problem auch eine Lösung gab.

Eric konnte nicht fassen, dass Falkenauge einfach zur Tagesordnung überging, nachdem er beinahe von einem wilden Tier getötet worden wäre. Immer wieder sah er zu der Stelle hin, an welcher die Raubkatze verschwunden war, und schüttelte den Kopf, weil ihm nicht einleuchten wollte, warum der Puma diese leichte Beute verschmäht hatte. War es möglich, dass die Katze einfach nur keinen Hunger gehabt hatte? Auch wenn es unwahrscheinlich klang – vielleicht war sie tatsächlich nur aus Neugierde aus dem Gebüsch gekommen. Oder? Na ja, es war ja auch möglich, dass Falkenauge irgendetwas gemacht hatte, was den Puma erschreckt und in die Flucht geschlagen hatte. Katzenohren waren doch bekanntlich sehr empfindlich. Da reichte vielleicht schon ein unangenehm klingender Laut, der für eine Schrecksekunde und somit auch eine Fluchtreaktion sorgte.

Eric wollte seinem Freund gerade eine diesbezügliche Frage stellen, doch der watete bereits durch den hüfttiefen Teich auf den Wasserfall zu. Wenn er sich der Reinigungszeremonie von Beginn an anschließen wollte, dann musste er sich jetzt wohl oder übel beeilen, ermahnte er sich sogleich. Schließlich kannte nur Falkenauge die erforderlichen Worte und Beschwörungsformeln.

Nachdem er ebenfalls seine gesamte Kleidung abgestreift hatte, legte Eric sie in einem ordentlichen Haufen neben einem Gebüsch nieder. Danach schaute er sich nach Falkenauge um, und entdeckte ihn schließlich kurz vor dem Wasserfall. Doch nur eine Sekunde später fiel ihm die Kinnlade buchstäblich bis zu seinem Brustkorb herunter, weil der Indianer einfach in dem herabstürzenden Wasser verschwand. Unmöglich, dachte er. Das konnte es doch gar nicht geben! Kein Mensch konnte einfach so verschwinden! Doch nicht am helllichten Tag!

Sein letzter Gedanke war noch nicht ganz zu Ende gebracht, da stürzte sich Eric auch schon in den Teich und kämpfte sich anschließend durch das hüfthohe Wasser. Am Wasserfall angekommene, tappte er dann blindlings durch das herab rauschende Nass, und wunderte sich im Stillen darüber, dass seine weit vorgestreckten Hände kein Hindernis ertasten konnten. Nachdem er schließlich die heißen Wasserschleier passiert hatte, und dahinter immer noch auf keinen festen Widerstand stieß, öffnete er die Augen.

Im ersten Moment unfähig, etwas zu sehen, weil in seiner Umgebung ein diffuses Dämmerlicht herrschte, nahm Eric die Einzelheiten seines Umfeldes erst nach und nach deutlicher wahr. Am Ende stellte er dann überrascht fest, dass er sich in einer Felsenkammer befand, deren Luft von einem unangenehm riechenden Dunst geschwängert war. Hier also entsprang die schwefelige Quelle, die er bisher vergebens gesucht hatte, schoss es ihm durch den Sinn. Es hatte ihn immer schon gewundert, warum der Teich diesen Geruch verströmte, wo doch oberhalb des Wasserfalles nur normales heißes Wasser aus dem Felsengrund sprudelte. Offenbar reichte die hiesige Öffnung tiefer in das Felsenreich hinein als die übrigen. Und vermutlich führte sie geradewegs durch eine größere Ansammlung dieses stinkenden Zeugs!

Erics Augen begannen unversehens zu tränen, während er sich bemühte, seinen Freund auszumachen. Als er ihn schließlich nur zwei Schritte vor sich entdeckte, gesellte er sich wortlos zu der knienden Gestalt. Und sobald er seine Augen trocken gewischt hatte, erkannte er in einem Abstand von einer Armlänge einen natürlichen Felsvorsprung, der einem Altar sehr ähnlich war. Darauf lagen verschiedenfarbige Kristalle, deren bizarre Formen entfernt an exotische Blüten erinnerten. Außerdem befanden sich auch noch andere Dinge dort, doch der beißende Dunst in der Höhle trieb ihm sogleich neue Tränen in die Augen und verhinderte dadurch eine klare Sicht. Also wischte er sie ein weiteres Mal trocken und entdeckte gleich darauf verschiedene Malereien auf den felsigen Seitenwänden, die mit strahlend weißer Farbe aufgemalt waren. Für einen Moment völlig gefesselt von den einzelnen Szenen und den geheimnisvoll anmutenden Geschöpfen, die dort abgebildet waren, fühlte Eric im nächsten einen scharfen Schmerz auf seinem Handrücken, und richtete daraufhin seine gesamte Aufmerksamkeit auf die kleine Quelle, die aus einer winzigen Öffnung des Bodens an die Oberfläche sprudelte. Irgendwo musste ein Loch im Höhlendach sein, von wo Tageslicht hereinströmte, mutmaßte er. Zudem musste die Wolkendecke draußen aufgerissen sein. Anders war der Sonnenstrahl nicht zu erklären, der jetzt in den Raum herein-und direkt auf die Quelle fiel, sodass die aufspringenden Tropfen in allen Farben des Regenbogens erglühten.

Eric bestaunte einen Atemzug lang dieses Naturschauspiel, konzentrierte sich dann jedoch auf seinen Freund, der mittlerweile damit begonnen hatte, ein Gebet vor sich hinzumurmeln. Stumm hörte er zu, und bewunderte dabei mit wachsender Ehrfurcht die Macht und die Schönheit der Natur, die sogar in einem solch versteckten Winkel, wie es dieses Felsenloch war, solche Schönheit hervorbringen konnte. Als Falkenauge schließlich dazu überging, bestimmte Handzeichen zu vollführen, um der Bedeutung seiner Worte mehr Gewicht zu verleihen, ahmte Eric diese exakt nach, ohne sich dabei lächerlich zu fühlen. In diesem einzigartigen Augenblick empfand er es eben als absolut richtig und notwendig. Nicht für eine Sekunde stellte er die Vernunft seines Handelns infrage. Allein seine Sinne schienen ein wenig benebelt, sodass er immer mehr Mühe hatte, seine Gedanken weiter festzuhalten.

Eric wähnte sich hellwach, war aber in Wirklichkeit bereits in Trance. Er hörte verschiedene Stimmen und sah geisterhafte Gestalten an sich vorüberziehen, konnte diese Eindrücke jedoch nicht mehr richtig einordnen, denn in seinem Kopf herrschte mittlerweile ein völlig konfuses Durcheinander. Gleichzeitig ließ ihn ein leichtes Schwindelgefühl mehr und mehr schwanken. Dann, als hätte man seinen Geist einfach ausgeschaltet, sackte er plötzlich in sich zusammen und kippte dabei zur Seite weg. Aber nur einen Sekundenbruchteil später richtete er sich wieder auf, breitete sogleich beide Arme aus und schoss dann unvermittelt in die Höhe. Er wunderte sich noch nicht einmal darüber, wieso er plötzlich direkt unter der Felsendecke der Höhle schwebte, sondern genoss das Gefühl der Freiheit und des Ungebunden-seins. Zudem wollte er so schnell als möglich aus dem Erdinneren hinaus, damit er der Sonne entgegengleiten konnte. Dass sich unter ihm Falkenauge über eine leblose menschliche Gestalt beugte, die am Boden lag, kümmerte ihn nicht weiter, auch wenn ihn der Anblick zunächst ein wenig irritiert hatte.

Als gäbe es keinen Wasserfall, erreichte er die Außenwelt, ohne einen einzigen Spritzer abzubekommen oder die Hitze des Wassers zu spüren. Das Gefühl des Fliegens war neu und doch schon so unendlich vertraut, dass es müßig erschien, einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, warum er sich wie ein Vogel fühlte, und wieso dessen Flugfähigkeit auf ihn übergegangen war, so als sei sie tatsächlich seine eigene. Es interessierte ihn auch nicht, wie er im Moment aussah. In diesem einzigartigen Augenblick genoss er einfach nur das Gefühl der Schwerelosigkeit. Dabei achtete er weder auf seine Umgebung, noch steuerte er ein bestimmtes Ziel an. Erst als direkt unter ihm menschliche Stimmen erklangen, wurde er aufmerksam. Also ließ er sich ein wenig tiefer gleiten, um die sieben Männer näher in Augenschein nehmen zu können, die auf kleinen gedrungenen Pferden saßen und gemeinsam in ein und dieselbe Richtung strebten.

Da er die Reiter jetzt sehr deutlich erkennen und sogar hören konnte, wunderte er sich ein wenig darüber, dass sie ihn nicht zu bemerken schienen. Aber nur einen Atemzug später vergaß er seine letzte Feststellung, denn der Sinn ihrer Unterhaltung ließ ihn innerlich zusammenzucken. Dies waren keine Soldaten oder Jäger, erkannte er. Dies waren Diebe und Mörder, die nur ein Ziel vor Augen hatten. Sie wollten töten, sooft es ging, und zusammenraffen, was irgendwie nach etwas Wertvollem aussah! Und jetzt waren sie auf dem Weg zu den Indianern, weil sie dort neue Pferde erbeuten und Frauen schänden wollten.

Seine letzte Erkenntnis war gerade erst in sein Bewusstsein vorgedrungen, da erinnerte er sich voller Schrecken an den fein gearbeiteten Silberschmuck der Indianerinnen, der zwar nicht besonders wertvoll war, der aber pure Habgier auslösen konnte, weil er dank sorgsamer Pflege schön glänzte. Noch schlimmer war die Gewissheit, dass die Verbrecher bis an die Zähne mit Gewehren und Pistolen ausgestattet und somit den Indianern weit überlegen waren. Und das bedeutete, dass der ganze Stamm in Lebensgefahr war, weil selbst die erfahrensten Jäger mit ihren primitiven Waffen nichts gegen sie ausrichten konnten. Er musste seine Freunde warnen, schoss es ihm daraufhin durch den Sinn. Aber wie? Wenn er in seiner jetzigen Gestalt bei ihnen auftauchte, würden sie gar nicht wissen, dass er es war. Sie würden einen Vogel sehen, aber nicht verstehen, dass man ihnen etwas Wichtiges mitteilen wollte.

Es gab nur eine Möglichkeit, erkannte er endlich. Geisterfrau! Geisterfrau würde vielleicht erkennen, dass der Vogel eine Botschaft brachte. Es hieß doch, sie sei eine Zauberin, die auch mit Tieren sprechen konnte.

Die Absicht, so schnell wie möglich zur Siedlung zu gelangen, erübrigte sich zu seiner größten Überraschung fast augenblicklich. Noch bevor er den Gedanken zu Ende gebracht hatte, befand er sich schon im Zelt der alten Medizinfrau.

„Was willst du hier?“, hallte plötzlich Ihre Stimme in seinem Kopf wider.

Eric versuchte zu antworten, brachte aber keinen Laut hervor, denn seine Gedanken überschlugen sich förmlich, während er verzweifelt versuchte, seine Warnung in Worte zu fassen.

„Nicht Worte“, mahnte Geisterfraus Stimme sanft. „Ordne deine Gedanken. Erst dann kann ich verstehen, was du mir mitteilen willst.“

Eric betrachtete jetzt das verhutzelte Gesicht etwas genauer, nur um festzustellen, dass die Greisin keine Miene verzog, geschweige denn den Mund bewegte. Das erschien schon seltsam genug. Dass sie zudem wie eine Steinskulptur dastand, an der sich noch nicht einmal ein einziges Härchen bewegte, irritierte ihn zusätzlich. Ein schneller Rundblick brachte ihm jedoch keine hilfreiche Erklärung. Also wandte er sich wieder der alten Frau zu, in der Hoffnung, diesmal mehr ausrichten zu können. Allerdings sah er sie kaum an, da wurde er noch verwirrter als zuvor, denn nicht nur sie schien zu Stein erstarrt. Auch die Flammen des Feuers, welches sie offenbar gerade mit neuem Holz bestücken wollte, bewegten sich nicht. Die ganze Szenerie schien wie eingefroren, so als hätte jemand einfach die Zeit angehalten und dadurch jegliche Bewegung gestoppt. Aber wie war das möglich, fragte er sich verstört. Wieso bewegte Geisterfrau nicht mal eine Wimper, wo die Nachricht von einer drohenden Gefahr durch mordgierige Weiße Männer sie doch eigentlich in helle Aufregung versetzen müsste?

„Du kannst es jetzt noch nicht verstehen“, hallte die Stimme der Greisin erneut durch seinen Kopf. „Aber es ist gut, dass du gekommen bist. Geh nun zurück. Ich werde Grauer-Bär berichten, was auf uns zukommt. Aber du musst jetzt zurück.“

Er wäre dieser Aufforderung liebend gern gefolgt. Allerdings wusste er nicht, wie er das anstellen sollte.

„Konzentriere dich auf deinen menschlichen Körper.“ Geisterfraus Stimme klang noch strenger als sonst. „Nichts anderes ist jetzt wichtiger.“

Eric war sich zwar nicht sicher, ob es tatsächlich helfen würde, tat jedoch genau das, was die Medizinfrau befohlen hatte. Und so fand er sich nahezu augenblicklich auf dem Fleck wieder, von dem aus er aufgebrochen war, um zur Sonne aufzusteigen. Total überrascht darüber, dass er allein durch seinen Wunsch zurückgekehrt war, entdeckte er gleichzeitig über sich das besorgt wirkende Gesicht von Falkenauge. Sobald er jedoch erkannte, wo er sich befand, verblasste das eben Erlebte zu einem unwirklichen Traum.

„Was war denn los?“, fragte er, indem er sich aufsetzte. Die letzte klare Erinnerung, die er jetzt noch hatte, waren die Bilder ihres gemeinsamen Gebetes, welches sie mit der geheimnisvollen Gebärdensprache des Indianerstammes verrichtet hatten.

Falkenauge betrachtete sein Gegenüber mit äußerst gemischten Gefühlen. Das eigentümliche Glimmen in dessen Augen machte ihm große Sorgen. Gleichzeitig überlegte er ernsthaft, ob er sich die Aufgabe zutrauen konnte, den Freund aufzuklären. Doch nur einen Atemzug später verwarf er diesen Gedanken, weil ihm bewusst wurde, dass es dazu einiges mehr bedurfte als sein kümmerliches Wissen um die Mysterien. Nein, entschied er, das war eine Aufgabe, die nur Geisterfrau befriedigend erledigen konnte.

„Du bist einfach ohnmächtig geworden“, sagte er ausweichend. „Wahrscheinlich ist es hier zu heiß für dich. Komm, wir wollen hinausgehen.“ Er nahm Erics Arm und zog ihn mit.

Auch wenn er sein merkwürdiges Erlebnis mit Erfolg aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte, erwartete Eric doch insgeheim, dass die Außenwelt irgendwie verändert sein würde, sobald sie herauskämen. Aber dem war nicht so. Der Himmel zeigte sich immer noch Grau in Grau. Und auch alles andere war genau so, wie vor seinem Eintritt in die geheime Höhle. Bäume und Büsche wiegten sich im Wind, während das Gras von einzelnen Böen zu Boden gepresst wurde. Allein die Pferde hatten aufgehört zu grasen und sahen jetzt höchst aufmerksam ihren Besitzern entgegen.

„Wie lange war ich weg?“, fragte er, während er an der Seite seines Freundes zum Ufer des Teiches zurück watete.

Falkenauge brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sein Begleiter nichts anders als seine vermeintliche Ohnmacht meinte.

„Nicht lange“, antwortete er ausweichend. „Nur ein paar Augenblicke.“

„Bin ich vielleicht irgendwo aufgeschlagen?“, wollte Eric wissen. „Ich meine, ist mein Kopf vielleicht irgendwo draufgeknallt?“

„Nein“, antwortete der junge Indianer zurückhalten. „Nicht wirklich. Du bist zwar umgefallen, bevor ich dich stützen konnte. Aber den Schädel angeschlagen hast du dir nicht, denn der ist auf meinen Knien gelandet.“

Dann musste der Grund für seine Ohnmacht ein anderer sein, vermutete Eric. Möglicherweise vertrug er diesen hoch konzentrierten Schwefeldunst nicht, der einem das Atmen schwer machte.

Adlerherz

Подняться наверх