Читать книгу Das Geheimnis von Mayas Schwester - Katica Fischer - Страница 4
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ОглавлениеSonntag – 28. Juli – 15:04 Uhr
Die Lautstärke des Fernsehgerätes anhand der Fernbedienung drosselnd, stemmte sich Maya gleichzeitig aus ihrem Sessel, um zur Wohnungstür zu gehen, nicht länger fähig, das Greinen der Schelle weiter zu ignorieren. Doch tat sie kaum einen kurzen Blick durch den Spion, da erschien auch schon eine unmutige Falte auf ihre Stirn, angesichts der sichtlich ungeduldig wirkenden Blondine, die wartend im Treppenhaus stand.
„Was willst du?“ Die Eingangstür bloß einen Spaltbreit öffnend, musterte sie anschließend die unwillkommene Besucherin von Kopf bis Fuß mit einem schnellen Blick, fand sie wie gewohnt in einem geschmackvoll zusammengestellten Outfit vor, und konnte trotz ihres Widerwillens gegen die sorgfältig zurechtgemachte Schwester nicht leugnen, dass diese eine makellose Figur und zudem ein sicheres Gespür dafür besaß, was sie besonders vorteilhaft kleidete. „Ich wollte heute eigentlich Ruhe haben“, stellte sie mit abweisender Miene fest.
„Ich will dich gar nicht lange stören.“ Wiebke merkte durchaus, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht war. Dennoch schob sie mit sanfter Gewalt die Tür ein wenig weiter auf und sich selbst sogleich in den Flur des winzigen Apartments hinein, was deutlich machte, dass sie nicht bereit war, sich unverrichteter Dinge wegschicken zu lassen.
„Also gut“, schnaubte Maya gereizt. „Jetzt bist du also drinnen. Und? Was willst du?“
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich morgen wieder nach Venedig fliege. Ich …“ Wiebke hatte mittlerweile den Eingang zum Wohnraum erreicht und blieb plötzlich wie versteinert stehen. Den Blick auf den Bildschirm des Fernsehapparates geheftet, von wo aus ihr die Großaufnahme eines südländischen Männergesichtes entgegen prangte, fasste sie sich mit zitternder Hand an die Kehle. Dabei schluckte sie mehrere Male heftig, und sackte dann ohne jede Vorwarnung in sich zusammen.
Die Stimme des Nachrichtensprechers in den Ohren, der immer noch von einem heimtückischen Attentat auf einen prominenten italienischen Geschäftsmann und der darauffolgenden Großfahndung nach dem Verantwortlichen berichtete, starrte Maya zunächst völlig verdattert auf die Ohnmächtige hinunter. Aber dann stürzte sie ins Badezimmer, um ein nasses Handtuch herbeizuholen, mit welchem sie der Bewusstlosen Stirn und Nacken zu kühlen begann. Verdammte Hitze, schimpfte sie dabei im Stillen. Seit Tagen zeigte das Außenthermometer fast vierzig Grad an, was schon an sich genügte, um die Menschen wie schlaffe Säcke wirken zu lassen, die keinerlei eigenen Antrieb mehr zu besitzen schienen. Aber hier, direkt unter dem Dach, war es momentan um einiges heißer als draußen, weil es so gut wie keine Isolierung gab, die die Strahlungswärme der aufgeheizten Dachziegel abgehalten hätte. Auch während der Nacht fiel die Temperaturanzeige nicht unter dreißig Grad! Trotz offener Fenster und ununterbrochen laufendem Ventilator! Sie selbst hatte sich mittlerweile mit den extremen Temperaturschwankungen innerhalb ihrer Behausung abgefunden – notgedrungen, weil sie sich keine andere Wohnung leisten konnte! Allein darum trug sie momentan nur das Notwendigste am Leibe. Aber Wiebke war in voller Montur, bestehend aus einer langen Leinen-Hose und dazugehöriger Weste über einem Edel-Shirt, in den sprichwörtlichen Hexenkessel geraten, sodass sie durch die Wucht der Hitze und den daraus resultierenden Kreislaufkollaps im wahrsten Sinne des Wortes niedergestreckt wurde.
Ein paar Sekunden lang versuchte Maya, die Ohnmächtige wieder zur Besinnung zu bringen. Dabei tastete sie wiederholt nach dem Puls der Schwester und entschied am Ende, dass sie doch lieber einen Arzt herbeiholen wollte, weil ihr die ganze Sache nicht mehr geheuer war. Ein durch Hitze bedingter Schwächeanfall war eine Sache, stellte sie fest. Aber ein kaum noch fühlbarer Puls und kalter Schweiß auf allen tast- und sichtbaren Hautflächen war etwas völlig Anderes – zumal weder Schock-Lagerung noch kalte Umschläge etwas nützten!
Ein paar Minuten später drängten sich in Mayas kleinen Wohnzimmer mehrere Menschen, die sich um die immer noch bewusstlose Wiebke bemühten. Als der Notarzt schließlich mit der Erstversorgung seiner Patientin fertig war, wandte er sich an deren geduldig wartende, aber sichtlich verunsicherte Schwester, um ihr seine vorläufige Beurteilung der Ohnmächtigen mitzuteilen.
„Herzinfarkt? Aber ... Aber … Sind Sie sicher?“ Alles hätte Maya glauben können, aber nicht das. Nicht bei Wiebke, der sportlich aktiven Frau, die so sehr auf den Erhalt ihrer schlanken Linie achtete, dass sie sich hauptsächlich von Rohkost und fettarmen Joghurt ernährte.
„Absolut sicher bin ich mir erst, wenn ich sie in die Klinik gebracht habe und alle erforderlichen Untersuchungen gemacht sind“, erwiderte der Notarzt. „Aber wenn ich mir die Symptome so ansehe, möchte ich meinen, dass es genau auf diese Diagnose hinauslaufen wird.“
Maya nickte bloß, immer noch nicht fähig, die Aussage des Arztes als glaubhaft zu akzeptieren. Gleichzeitig nahm sie die Handtasche der Schwester an sich, damit sie aus dem Weg war, während die Sanitäter Wiebke vorsichtig aufhoben, um sie gleich darauf auf die mitgebrachte Trage zu legen. Während die Männer dann mit ihrer Last bereits die enge Treppe hinunterstiegen, langte sie nach ihrer eigenen Umhängetasche und dem Haustürschlüssel. Anschließend schloss sie die Wohnung ab, und eilte dem Rettungsteam hinterher, um mit in den Krankenwagen zu steigen.
Obwohl sie im Vorfeld kein besonders gutes Verhältnis zur Schwester gehabt hatte, fühlte Maya jetzt echte Sorge um Wiebke. Zudem stieg auch Mitleid in ihr auf, während sie das ungewohnt bleiche Gesicht der Besinnungslosen betrachtete. Leichte Fältchen um die Augen herum verrieten, dass die Enddreißigerin nicht mehr ganz so jung war, wie sie auf den ersten Blick erschien. Und der bittere Zug, der sich um ihren Mund eingegraben hatte, machte deutlich, dass sie keineswegs so glücklich und zufrieden war, wie sie nach außen hin immer tat.
Der letzte Gedanke war kaum zu Ende gebracht, da stieg vor Mayas innerem Auge das Bild einer stets arrogant auftretenden Schwester auf, sodass sowohl Sorge als auch Mitgefühl schwanden. Wiebke war eine Kämpfernatur, ja! Sie würde wahrscheinlich schon morgen wieder auf den Beinen sein, um ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, denn sie wollte immer die Kontrolle über alles haben. Sie war ein herrschsüchtiges, egozentrisches Frauenzimmer! Eine zu emotionalen Bindungen unfähige Karrierefrau, die praktisch nur für die Arbeit als Galerie-Assistentin lebte. Anfangs hatte sie angenommen, dass Wiebkes anhaltendes Single-Dasein etwas mit ihrer eigenen Person zu tun hätte, denn nach dem tödlichen Autounfall der Eltern war Wiebke zu ihrem Vormund und alleinigen Erziehungsberechtigten bestimmt worden, womit sie auch gezwungenen gewesen war, die kleine Schwester in ihrer Wohnung aufzunehmen. Als sie jedoch älter und verständiger wurde, war sie dahintergekommen, dass Wiebke offenbar gar keine feste Beziehung wollte, weil sie viel lieber ungebunden und nach eigenen Vorstellungen lebte. Nun – Die letzten Jahre ihres Zusammenlebens waren als nicht besonders erfreulich zu bezeichnen, denn Wiebke mutierte im Laufe der Zeit zu einer tyrannischen Despotin, die von der kleinen Schwester penible Ordnung, absolute Pünktlichkeit und ausschließlich Bestleistungen in der Schule forderte. Im Gegenzug war sie, Maya, immer aufmüpfiger geworden, was wiederum endlose Streitereien und rigorose Sanktionen vonseiten Wiebkes nach sich gezogen hatte. Also hatte sie an ihrem achtzehnten Geburtstag beschlossen, dass sie nicht länger wie ein lästiges Anhängsel betrachtet werden wollte, das man notgedrungen ernähren und kleiden musste, weil es nun einmal existierte. Nein, Wiebke hatte sie keineswegs vergrault. Im Gegenteil hatte sie wahrlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit die kleine Schwester zu Hause wohnen blieb und einen höheren Schulabschluss machte – oder doch wenigstens eine Berufsausbildung begann. Aber das hatte sie selbst nicht gewollt, weil sie es leid gewesen war, sich ständig bevormunden und gängeln zu lassen. Es hatte einen hässlichen Streit gegeben, nach welchem sie einfach auf und davon gerannt war, um zunächst bei Leylas Familie Zuflucht zu suchen, bis sie eine Arbeit und eine bezahlbare Bleibe fand. Zwei Jahre vergingen, ohne dass eine von ihnen Kontakt gesucht hätte. Doch dann – es war jetzt etwa zwei Monate her – waren sie sich durch Zufall wieder begegnet und hatten zum ersten Mal wieder ruhig miteinander sprechen können.
Es war reine Höflichkeit gewesen, die sie veranlasst hatte, Wiebkes Einladung zu einem Cappuccino zu folgen, erinnerte sich Maya nun. Aber seit diesem Tag hatte sich ihre Beziehung verändert. Nein, herzlich oder gar liebevoll war diese nach wie vor nicht zu nennen. Es war eher so, als wären sie ein altes Ehepaar, welches sich zwar nicht mehr allzu viel zu sagen hatte, das aber trotzdem nicht aufeinander verzichten wollte, allein weil es keine andere Bezugsperson gab. Die Initiative ging ausschließlich von Wiebke aus, was – wie heute – nicht immer erfreut aufgenommen wurde, weil sie meist zu den unmöglichsten Zeiten anrief, um nach einem Treffen zu fragen, oder aber unangemeldet vor der Tür stand. Mal brauchte sie jemanden, der sie in ein Restaurant oder zu irgendeiner Vernissage begleitete, weil sie nicht alleine gehen wollte. Ein anderes Mal war es einfach nur der Drang, jemanden mitschleppen zu müssen, der, wenn auch nur widerwillig, ihren guten Geschmack bewunderte, während sie in den sündhaft teuren Boutiquen der Stadt Kleidungsstücke kaufte, die sie dann doch nicht trug, sondern der kleinen Schwester anbot, oder in einem ihrer Schränke auf die nächste Altkleider-Sammlung warten ließ.
Sonntag – 28. Juli – 17:00 Uhr
„Der Zusammenbruch Ihrer Schwester hat in der Tat mit ihrem Herzen zu tun. Zum Glück ist es aber kein Infarkt, sondern nur eine Herzklappen-Schwäche“, berichtigte der diensthabende Kardiologe die Erstbeurteilung des Notarztes. „Ich will Ihnen jetzt keinen Vortrag über die Kranken-Geschichte Ihrer Schwester halten. Aber es ist so, dass sie vor gut einem Jahr ziemlich spät wegen akuten rheumatischen Fiebers behandelt wurde, und dass man schon damals festgestellt hat, dass sich eine ihrer Herzklappen bereits irreparabel verändert hat. Das hätte im Grunde gleich operiert werden sollen, verstehen Sie. Aber sie wollte damals partout nicht unters Messer, was ich bis heute nicht begreifen kann, denn es wäre innerhalb weniger Stunden überstanden gewesen. Wie auch immer. Sie kam regelmäßig zu den Kontrolluntersuchungen und nahm auch die Medikamente, die ich ihr verschrieb, schob die Operation aber immer weiter hinaus, weil sie angeblich keine Probleme hatte. Aber der heutigen Untersuchung zufolge ist es tatsächlich so, dass es wirklich allerhöchste Zeit ist, dass etwas passiert. Also schnippeln wir, sobald ein OP frei wird.“
Maya war viel zu schockiert, um irgendetwas darauf erwidern zu können. Krank? Wirklich ernstlich krank? Das konnte doch gar nicht sein. Nicht Wiebke. Nicht dieser hyperaktive Wirbelwind, der Probleme im Vorbeirauschen löste und bösen Überraschungen stets gelassen gegenüberstand, weil sie sie als eine besondere Herausforderung ansah.
„Sie …“ Endlich gehorchten ihre Zunge und ihre Stimmbänder wieder, wenn auch widerwillig. „Sie wird doch wieder gesund?“
„Eine Garantie gibt’s nicht“, erwiderte der Arzt. „Aber ich denke doch, dass wir verhindern können, dass Ihre Schwester vorzeitig zu Wurmfutter wird.“ Weil sein Gegenüber mit einem Mal kreidebleich war und sichtlich um Beherrschung rang, fasste er die junge Frau am Ellenbogen, um sie dadurch zu stützen. „Na na, Sie werden mir doch jetzt nicht zusammenklappen! Dachte immer, Sie wären eine von denen, die durch nichts zu erschüttern sind.“
„Ist … Ist schon gut.“ Maya rang immer noch um ihre Fassung. Sie kannte Doktor Niehaus gut, denn er war nicht nur ein gefragter Kardiologe und exzellenter Chirurg, sondern auch berühmt-berüchtigt für seine schrägen Witze. Sie mochte ihn gerne, weil er stets geradeheraus sagte, was er dachte, wäre ihm jetzt allerdings dankbar gewesen, wenn er sich den Spruch mit den Würmern gespart hätte, denn das Bild, welches sich nach seinen Worten vor ihrem inneren Auge aufgebaut hatte, war nicht nur gruselig, sondern auch ziemlich eklig.
„Steht noch die Frage offen, ob Ihre Schwester vielleicht eine Verfügung hinterlassen hat, falls bei dem Eingriff doch etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Die Augenbrauen fragend erhoben sah der Mediziner sein Gegenüber aufmerksam an.
„Ich …“ Maya schluckte hart, bevor sie neu ansetzte: „Ich hab’ keine Ahnung. Aber ich kann gerne nachsehen, wenn Sie möchten. Allerdings wird das ein bisschen dauern, weil ich erst in Wiebkes Wohnung muss.“
„Na, dann machen Sie sich mal auf die Socken, schöne Frau“, empfahl er mit einem Augenzwinkern.
Maya war längst aus Doktor Niehaus’ Büro hinaus, als ihr endlich klar wurde, was er da von sich gegeben hatte. Und mit der Erkenntnis, dass er sie für gut aussehend hielt, wo sie sich selbst eher als eine graue Maus ansah, stellte sich bei ihr wieder einmal die Verwunderung über den männlichen Geschmack ein, sodass sie kopfschüttelnd weiterging. Schön? Sie? Lachhaft! Sie war doch viel zu klein und bei Weitem nicht so schlank, wie sie es gerne gewesen wäre. Außerdem war ihr Busen für ihre Größe ein wenig zu üppig, ihre Hüften zu breit, ihre Beine nicht gerade genug und ihre Füße viel zu groß geraten. Das Einzige, was wirklich ansehnlich an ihr war, war ihr glänzendes, schwarzes Haar und die grünen Augen. Aber sonst gab es absolut nichts Aufregendes an ihr. Sie war nicht so schön und gepflegt wie Wiebke. Und sie war auch nicht so klug und weltgewandt, wie die Schwester. Allein die Tatsache, dass sie aus eigener Kraft überleben konnte, machte sie ein wenig stolz, weil sie sich sicher war, dass sie niemals wieder auf die Gnade und das Wohlwollen eines anderen Menschen angewiesen sein würde, um sich satt essen zu können.
Die Gegebenheiten der schwesterlichen Wohnung waren Maya noch wohl vertraut. Also sah sie sich gar nicht erst um, während sie Wiebkes Handtasche in den Garderobenschrank legte und anschließend zum Arbeitszimmer ging, mit der Absicht, alle persönlichen Unterlagen durchzusehen. Dabei kam sie auch an dem Sekretär vorbei, auf welchem sowohl die Telefonstation samt Mobilteil als auch das Faxgerät standen. Weil da aber nicht nur der Anrufbeantworter, sondern auch das Faxgerät wie verrückt blinkten, blieb sie stehen und füllte zunächst das fehlende Papier auf. Anschließend schaltete sie den Anrufbeantworter auf Wiedergabe. Während dann nacheinander verschiedene Stimmen hörbar wurden, die mehr oder weniger wichtige Nachrichten für Wiebke hinterlassen hatten, öffnete Maya den Aktenschrank und zog die erste Mappe heraus, um sie sogleich durchzublättern. Was die einzelnen Anrufer sagten, nahm sie zunächst gar nicht wahr, bis plötzlich eine sonore Männerstimme erklang, die mit eindeutig italienischem Akzent von einer Terminänderung sprach. Aufmerksam geworden, weil ihr der Klang der Stimme ungemein schön vorkam, stellte sie ihre Tätigkeit ein und ging zur Telefonstation hinüber, um besser hören zu können.
„… habe die Reservierung noch nicht storniert, weil ich nicht wusste, wie deine weiteren Pläne aussehen. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich zurückrufen würdest.“
Maya wunderte sich über den merkwürdig drängenden Tonfall, zuckte dann jedoch die Schultern und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf das, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Eine halbe Stunde lang suchte sie, fand jedoch nichts Brauchbares, und entschied am Ende, dass sie, in Ermangelung eines schriftlich festgelegten Wunsches, notfalls selbst über Wiebkes Behandlung entscheiden würde. Also packte sie alle notwendigen Dinge für einen Krankenhausaufenthalt in eine kleine Reisetasche und machte sich anschließend wieder auf den Weg.
Sie war kaum angekommen, da wollte man Maya auch schon wieder nach Hause schicken, da sie ja ohnehin nichts Anderes machen konnte, als zu warten, dies jedoch weit bequemer im eigenen Bett tun könne. Allerdings dachte sie nicht im Traum daran, zu gehen, bevor sie nicht wusste, was mit Wiebke war. Außerdem hätte sie jetzt eine gute Stunde durch die Nacht laufen müssen, um zu ihrem Appartement zu kommen, weil in diese Richtung nach Mitternacht keine Busse mehr fuhren. Und genügend Geld für ein Taxi hatte sie auch nicht bei sich. Also saß sie im Wartebereich vor den Operationssälen, bis man ihr mitteilte, dass man Wiebke nach erfolgreichem Eingriff auf die Intensivstation verlegen wollte. Durch diese Information ein wenig beruhigt, machte sie sich ein weiteres Mal auf den Weg zur schwesterlichen Wohnung, die nur zehn Gehminuten vom Krankenhaus entfernt war.
Montag – 29. Juli – 02:30 Uhr
Viel zu aufgeregt, um ins Bett gehen zu können, versuchte Maya ein wenig fernzusehen. Da das Nachtprogramm jedoch nichts Vernünftiges zu bieten hatte, schaltete sie das Gerät wieder aus und begann anschließend eine ruhelose Wanderung durch die Räume. Als sie schließlich im Arbeitszimmer anlangte, fiel ihr Blick sogleich auf die Faxe, die sich mittlerweile stapelten und die fast allesamt den Briefkopf eines Fünf-Sterne-Hotels in Venedig trugen. Und weil da ein und dieselbe Mitteilung mehrere Male ausgedruckt war, beschloss sie spontan, dass sie den Absender der Nachrichten anrufen wollte, denn dessen Anliegen schien in der Tat sehr dringend. Also wählte sie die Rufnummer, die im Absendertext angegeben war, um anschließend eine geraume Weile auf eine Verbindung zu warten.
Dass am anderen Ende der Telefonleitung schließlich eine verschlafen klingende Männerstimme erklang, die sich bloß mit einem kurzen Si meldete, irritierte Maya zunächst ein wenig, weil sie im Vorfeld davon ausgegangen war, dass der Portier eines erstklassigen Hotels abheben und sich mit einem wohl einstudierten Spruch melden würde. Als sie sich jedoch klarmachte, dass es in der Tat bereits halb vier Uhr in der Frühe war, bat sie den vermeintlich nachlässigen Mann im Stillen um Verzeihung.
„Ich möchte Ihnen bloß mitteilen, dass Frau Tannhäuser aus Düsseldorf nicht kommen wird“, erklärte sie langsam. „Verstehen Sie? Frau Tannhäuser wird nicht kommen.“
„Und wer sind Sie, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Ein leises Gähnen machte deutlich, dass man zwar nicht unfreundlich sein wollte, im Grunde aber nichts lieber wünschte, als das Gespräch zu beenden und sich sogleich wieder hinzulegen.
„Ich bin die Schwester“, erwiderte Maya geduldig. „Und ich rufe an, weil Frau Tannhäuser das im Moment nicht selbst kann. Sie ist nämlich schwer erkrankt und wird die nächsten Wochen weder reisen noch geschäftliche Termine wahrnehmen können.“ „Können wir Sie zurückrufen, um uns zu vergewissern, dass Sie kein Scherzbold sind, der uns mitten in der Nacht zum Narren machen will?“ Wieder begleitete ein Gähnen die Worte.
„Natürlich können Sie das.“ Maya nannte ihren vollen Namen, sowie Wiebkes Rufnummer. Gleich im Anschluss legte sie auf, um auf den Rückruf zu warten. Weil dieser aber nicht gleich erfolgte, schimpfte sie den Mann nun doch einen schlampigen Faulenzer. Es folgten noch einige andere unschmeichelhafte Bezeichnungen, während sie es sich auf der breiten Eck-Couch bequem machte, welche nahezu ein Viertel des Wohnzimmers einnahm. Sie war jetzt zum Umfallen müde und wollte die Lider nur für einen kurzen Moment schließen, damit das Brennen ihrer Augen ein bisschen nachließ. Allerdings fiel sie augenblicklich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung, der erst durch das anhaltende Rappeln des Telefons am hellen Morgen beendet wurde.
Noch völlig benommen nahm Maya das Mobilteil zur Hand, ließ ein knappes Ja hören, und wurde sogleich mit den Worten überfallen: „Sie sagen, Sie sind die Schwester von Signora Wiebke Tannhäuser? Und Ihr Name ist Maya Tannhäuser? Hab’ ich das richtig verstanden?“
„Ja, das stimmt alles.“ Derselbe Italiener hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen, erinnerte sie sich. Aber es war nicht die Stimme des Nachtportiers. Offenbar hatte am anderen Ende der Leitung bereits ein Schichtwechsel stattgefunden. Oder … Möglicherweise sprach sie jetzt mit dem Hotelmanager selbst? „Wer sind Sie?“, fragte sie. „Und wieso wollen Sie es so genau wissen?“
„Verzeihung“, erklang es von der Gegenseite. „Ich bin wirklich sehr unhöflich. Io …, äh, mein Name ist Giovanni Avorio. Und ich bin der Mann, der für die Organisation eines für Signora Tannhäuser wichtigen Treffens verantwortlich ist. Also: Signora Tannhäuser ist krank, sagen Sie. Darf ich fragen, was genau ihr fehlt?“
„Ich bin weder befugt noch gewillt, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Was für Sie wichtig ist, wissen Sie. Ciao!“ Maya beendete das Gespräch, ohne eine Erwiderung abzuwarten, denn der Anblick der Uhr sandte eine heiße Welle des Schreckens durch ihren Körper. Gleich darauf sprang sie von der Couch und hastete ins Badezimmer, um sich zunächst unter die Dusche zu stellen. Anschließend rubbelte sie ihr langes Haar so gut es ging trocken, und flitzte dann ins Schlafzimmer. Die eigene verschwitzte Bluse wollte sie nicht noch einmal anziehen. Also nahm sie sich Unterwäsche und ein leichtes Wickel-Top aus dem Kleiderschrank der Schwester, und war in diesem Moment höchst dankbar dafür, dass die Sachen aus hochelastischem Material bestanden. Den Reißverschluss ihrer dünnen Jeans schließend, betrachtete sie sich kurz in dem großen Wandspiegel neben der Garderobe, fand ihre Aufmachung ein wenig zu freizügig, weil das Top mehr zeigte, als ihr lieb war, verzichtete jedoch darauf, ein anderes Teil herauszusuchen, weil sie so schnell als möglich ins Krankenhaus wollte.
Montag – 29. Juli – 10:00 Uhr
„Wir haben getan, was wir konnten. Und jetzt müssen wir einfach abwarten.“ Doktor Niehaus musterte sein Gegenüber ausgiebig von Kopf bis Fuß, wobei er nicht zum ersten Male zu dem Schluss kam, dass die junge Frau durchaus eine Sünde wert war. Weil ihm aber gleich darauf auch sein eigenes Eheweib einfiel, welches zwar nicht mehr ganz taufrisch, dafür aber überaus temperamentvoll und leidenschaftlich war, und außerdem ziemlich rachsüchtig auf einen Fehltritt seinerseits reagiert hätte, nahm er sich zusammen. „Ihre Schwester schläft noch“, erklärte er im geschäftsmäßigen Ton. „Also würde ich raten, dass Sie erst einmal nicht zu ihr reingehen. Sie braucht sehr viel Ruhe, um sich erholen zu können.“
„In Ordnung.“ Maya war froh, dass man ihr diesen Gang vorerst ersparte, denn sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie in dieser besonderen Situation mit der Schwester umgehen sollte. Natürlich war sie glücklich, dass Wiebke lebte und wieder gesund werden würde. Andererseits war sie auch wütend, weil die Schwester aus Angst vor einer entstellenden Narbe – es konnte einfach keinen anderen Grund für ihr Zögern geben! – leichtfertig ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Außerdem musste sie sich jetzt sputen, wollte sie rechtzeitig zum Dienst erscheinen. Sie war bis jetzt noch nie zu spät gekommen und seit ihrer Einstellung auch nur einmal krank gewesen. Dennoch wollte sie es nicht darauf ankommen lassen, dass man sie wegen Unzuverlässigkeit abmahnte. Sie war einfach heilfroh, die Stelle als sogenannte Empfangsdame bekommen zu haben, zumal sie keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten hatte, dafür aber guten Lohn erhielt. Wollte sie also nicht auf die Abschussliste des Personalchefs gesetzt werden, musste sie täglich wechselnde Arbeitszeiten in Kauf nehmen, und stets zur Stelle sein, wenn man sie brauchte.
Die folgenden Stunden vergingen wie im Flug, denn viele Leute riefen an oder kamen persönlich, um zu fragen, wo ihre Angehörigen zu finden seien, die in der zurückliegenden Nacht und dem Morgen eingeliefert worden waren. Am späten Nachmittag wurde es dann endlich ein wenig ruhiger, sodass Maya zwischendurch auch mal die Zeit fand, an dem belegten Brötchen zu knabbern, welches sie nach dem Besuch bei Doktor Niehaus in der Krankenhaus-Kantine gekauft hatte.
„Ich hab’ dich ein paar Mal angerufen. Aber du warst wieder die ganze Nacht nicht da. Wo warst du?“
Die Angesprochene hatte nicht mitbekommen, dass jemand in die Empfangsloge hereingekommen war, weil ihre Aufmerksamkeit durch die Annahme und anschließende Weiterleitung eines Telefonanrufes gefesselt wurde. Entsprechend erschreckt schaute sie zu dem großen Mann hinauf, der direkt neben ihr aufragte, so als sei er just in diesem Augenblick aus dem Boden gewachsen. Dass er sehr aufgebracht war, konnte sie an seinen Lippen erkennen, die er zu zwei schmalen weißen Strichen zusammenpresste. Dennoch war sie weit davon entfernt, sich irgendwie schuldig zu fühlen. Warum auch? Sie gingen jetzt schon seit sechs Wochen getrennte Wege. Also sollte er endlich akzeptieren, dass sie ihm weder Rechenschaft über ihre Lebensweise schuldig war noch bereit, ihm eine zweite Chance zu geben!
„Du spionierst mir also immer noch nach? Wird das nicht allmählich langweilig?“ Der Schrecken des Überraschungsmoments war mittlerweile überwunden, sodass sie nicht nur wieder normal atmen und sprechen konnte, sondern auch Ärger in sich entstehen fühlte. „Ich war nicht zu Hause. Na und?“
„Ich spioniere nicht“, stellte er richtig, während er die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammenzog, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. Am Ende blieb sein Blick am Ausschnitt ihres Tops hängen, in dem sich der Ansatz ihrer Brüste und ein schmaler Spitzensaum des Büstenhalters zeigten. „Ich wollte dich bloß ins Kino einladen, weil dein Lieblingsfilm im Rahmen des Sommerfestivals gezeigt wird. Außerdem hab’ ich mit dir reden wollen.“ Die Hände tief in die Taschen seines weißen Kasacks gebohrt, löste er endlich die Augen von ihrem Busen und sah ihr wieder direkt ins Gesicht. „Ich dachte … Wir sollten vielleicht doch noch einmal über alles sprechen. Ich liebe dich nämlich immer noch. Trotz allem.“
Trotz allem?
Das klang ja gerade so, als hätte sie ihm irgendwie Unrecht getan!
„Wir haben nichts mehr zu bereden“, beschied sie ihm mit abweisender Miene. „Was zu sagen war, ist alles schon gesagt worden. Und ich sehe keinen Sinn darin, alles noch einmal durchzukauen. Unsere Wege haben sich getrennt, weil du mir nicht länger vertraut hast. Und jetzt habe ich tatsächlich jemand anderen kennengelernt.“ Eine Lüge, ja. Aber vermutlich das einzige Argument, das in seinen Augen glaubhaft genug war, warum sie nicht wieder zu ihm zurückwollte. „Also bitte, lass mich in Ruhe.“
Für einen Moment sah es so aus, als wolle Ray nach ihr greifen, sodass Maya unvermittelt vor ihm zurückschreckte und dann schleunigst von ihrem Stuhl aufstand, um notfalls weglaufen zu können. Weil aber just in diesem Moment eine Schwesternschülerin die Empfangsloge betrat, um aus einem der Postfächer einige Papiere zu entnehmen, entspannte sie sich ein wenig. Ein verkniffenes Lächeln auf den Lippen, beschloss sie dennoch, jeden möglichen Ärger vermeiden zu wollen, und umging daraufhin den immer noch stocksteif dastehenden Mann. Erst an der Tür blieb sie stehen, um sich kurz umzusehen.
„Bin gleich wieder da“, ließ sie in die Richtung der Jung-Schwester verlauten, und war auch schon draußen, bevor diese etwas erwidern konnte. Albern, schoss es ihr durch den Sinn, während sie gleich darauf die benachbarte Türe aufstieß, um sich dann auf der Besucher-Toilette einzuschließen. Absolut idiotisch, was sie da tat. Aber immer noch besser, als sich Rays Geschwätz anzuhören, rechtfertigte sie sich.
Die große Digitaluhr, die mitten im Stationsflur von der Decke hing, zeigte bereits einundzwanzig Uhr an, als Maya endlich dazu kam, nach Wiebke zu sehen. Aus dem Schwestern-Stützpunkt heraus lugte sie zunächst durch die Lamellen der Jalousie hindurch in das benachbarte Überwachungszimmer hinein. Doch hatte sie den Raum kaum überblickt, da fühlte sie mit einem Mal einen dicken Kloß in ihrer Kehle stecken. Die schmächtig wirkende Gestalt in dem großen Krankenbett sah nämlich so erbarmungswürdig aus, dass es ihr im Herzen weh tat. Nichts erinnerte mehr an die Agilität der ehedem unverwüstlich anmutenden Blondine, deren Benehmen in der Öffentlichkeit stets untadelig war, die in ihren Privaträumen jedoch wie ein Marktweib herumschreien und vor lauter Wut wahllos Dinge an die Wand werfen konnte. Umgeben von unzähligen Schläuchen und Kabeln, wirkte Wiebke nun sehr bleich und ziemlich verloren, während der Blick ihrer grünen Augen wie festgenagelt an der Decke klebte. Selbst als die diensthabende Schwester neben ihr stehen blieb, um sie etwas zu fragen, ließ sie keinerlei Regung erkennen.
Auf Mayas Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten. Dass Wiebke sauer sein würde, weil man sie ohne ihre ausdrückliche Einwilligung operiert hatte, war klar gewesen. Dass sie sich aber aus lauter Protest gegen die vermeintliche Entmündigung völlig hängen ließ, war ganz und gar untypisch für sie. Selbstverständlich hatte sie noch nicht die nötige Kraft, um ihrem Zorn freien Lauf zu lassen. Aber es wäre sehr beruhigend gewesen, hätte sie ihrer Umgebung wenigstens böse Blicke angedeihen lassen.
Merkwürdige Gedankengänge, stellte Maya im Stillen für sich fest, während sie sich auf den Weg ins Nachbarzimmer machte. Man wollte fast meinen, sie wünsche sich das rechthaberische Weib zurück, mit welchem sie während ihrer gesamten Teenager-Zeit unzählige Machtkämpfe ausgefochten und dabei fast immer den Kürzeren gezogen hatte! Nein, stellte sie es sogleich richtig. Sie wollte nicht die launische Gouvernante wiederhaben. Sie wollte bloß, dass ihre Schwester sich nicht aufgab – nicht wegen einer albernen Narbe auf der Brust. Schließlich gab es Wichtigeres auf der Welt!
„Hallo. Ich wollte …“ An der Seite des Bettes angekommen, blieb Maya stehen, nicht wirklich wissend, wie sie sich weiter verhalten sollte, denn Wiebke schien jetzt wieder tief und fest zu schlafen. Die Schwester betrachtend, die ihr jetzt noch bleicher und zerbrechlicher erschien, schluckte sie einige Male hart und beugte sich dann vorsichtig über die Kranke, um ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Du bist bald wieder auf dem Damm, wollte sie sagen, brachte jedoch keinen Ton hervor, weil ihr die Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Als ihr dann auch noch Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich hastig ab und ging hinaus. Merkwürdig, dachte sie. Da hatte sie immer geglaubt, Wiebke sei ihr vollkommen egal, und hatte doch Panik davor, dass es vielleicht doch nicht so rosig um die Schwester stand, wie Doktor Niehaus versichert hatte.
Es war schon später Abend. Dennoch war es immer noch heiß und stickig als Maya aus dem Foyer des Krankenhauses trat, um zur nächstgelegenen Bushaltestelle zu gehen. Trotzdem fröstelte sie und schaute sich dabei mehrfach um, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sie würde verfolgt – oder zumindest aus einem guten Versteck heraus beobachtet. Es nutzte gar nichts, sich einzureden, sie registriere in ihrem Rücken bloß die Blicke der Leute, die in die gleiche Richtung wollten, wie sie. Das Empfinden einer undefinierbaren Bedrohung wurde immer stärker, sodass sie hörbar aufatmete, als der erwartete Bus endlich kam.