Читать книгу Das Geheimnis von Mayas Schwester - Katica Fischer - Страница 5
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ОглавлениеMittwoch – 31. Juli – 11:50 Uhr
Der Tag war angenehm, denn in der Nacht war ein Sommergewitter über die Stadt hinweg gezogen, welches nicht nur die Lufttemperatur abgesenkt, sondern auch den Staub weggespült hatte, der zuvor alle Grasflächen und Baumkronen grau und müde aussehen ließ. Entsprechend frisch sah auch Maya aus, denn sie hatte zum ersten Mal seit Tagen tief und traumlos, vor allem aber lange genug geschlafen, um sich zu regenerieren.
„Können Sie mir sagen, ob eine Wiebke Tannhäuser hier zu finden ist?“
Maya fuhr wie elektrisiert zusammen, als sie die sonore Männerstimme vernahm. Gleich darauf starrte sie völlig verblüfft und fasziniert zugleich zu dem großen Mann hinauf, der auf der anderen Seite des Empfangstresens stand, welcher den Eingangsbereich des Krankenhauses vom Inneren der Empfangsloge trennte. Ihr Gegenüber besaß eine hochgewachsene sportliche Statur, dunkle Augen, schwarz gelocktes und trotz sorgfältigem Kämmen leicht zerzaust wirkendes Haar, ein markantes Gesicht mit Römernase, einen sinnlichen Mund und strahlend weiße Zähne. Sein Anzug wirkte zwar auf den ersten Blick eher schlicht, musste aber ein Vermögen gekostet haben – so wie auch der gigantische Blumenstrauß, den er in Händen hielt. So hatte sie sich ihren Märchenprinzen vorgestellt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, schoss es ihr durch den Sinn. Doch schob sie diesen Gedanken gleich wieder beiseite, weil er in der Tat höchst albern anmutete.
„Ich … Was …?“ Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Was soll er denn von dir denken, wenn du wie ein hirnloses Trampel herum stotterst und ihn dabei angaffst, als wäre er das achte Weltwunder? „Sind Sie ein Verwandter?“ Es war eine Routinefrage, die sie an jeden Auskunft-Suchenden stellen musste. Außerdem verschaffte sie sich so ein bisschen mehr Zeit, um sich fangen zu können. Sein Name war Giovanni Avorio, erinnerte sie sich. Und seine Stimme hatte ihr schon einmal Gänsehaut gemacht!
Der große Mann hatte bisher ein nichtssagendes Lächeln zur Schau getragen, wurde jetzt aber zusehends ernst. Die junge Frau hinter dem Empfangspult näher in Augenschein nehmend, war er für ein paar Sekunden ein wenig fassungslos, weil sie jemandem zum Verwechseln ähnlich war, den er gut kannte. Allerdings führte er diese Tatsache gleich darauf auf eine verrückte Laune der Natur zurück.
„Nein, ich bin kein Angehöriger von Signora Tannhäuser“, erklärte er höflich. „Aber ich bin ein langjähriger Freund. Und ich …“ Er brach ab, um sich einmal ausgiebig zu räuspern, bevor er neu ansetzte: „Mein Name ist Giovanni Avorio. Man hat mir telefonisch mitgeteilt, dass Signora Tannhäuser ernstlich erkrankt ist. Und nachdem ich fast zehn Minuten lang vergeblich an ihrer Wohnungstür geklingelt habe, bin ich auf die Idee gekommen, sie könnte vielleicht in einer Klinik sein. Also bin ich erst einmal auf gut Glück zum nächstbesten Krankenhaus gefahren, in der Hoffnung, nicht erst die ganze Stadt abklappern zu müssen, um sie zu finden. Nun, es sieht so aus, als sei ich hier richtig. Si?“
„Ja.“ Er war offenbar ein Freund der besonderen Art, mutmaßte Maya, während ihre Augen über den Blumenstrauß huschten, der hauptsächlich aus langstieligen Edelrosen bestand. Möglich, dass er genau die Person war, die Wiebke jetzt ein wenig aufmuntern konnte! „Sie ist hier.“
„Und wo finde ich die Signora?“, wollte er wissen.
„Intensivstation. Zimmer drei.“ Sie kam sich wie ein hypnotisiertes Kaninchen vor, welches kurz davorstand, von einem hungrigen Reptil verschlungen zu werden. Unfähig dem Blick des dunklen Augenpaares auszuweichen, schaute sie ihr Gegenüber an und fühlte dabei ihre Hände feucht werden.
„Vielen Dank, Signorina.“ Die Lippen zu einem offenen Lächeln verziehend, zwinkerte er ihr gleichzeitig zu und wandte sich dann ab, mit der augenscheinlichen Absicht, zu gehen. Doch gleich darauf drehte er sich wieder herum, machte eine hilflos anmutende Geste, und kam wieder zum Empfangspult zurück. „Wie komme ich hin?“
„Gleich um die Ecke ist ein Aufzug“, antwortete sie mit belegter Stimme. „Sie können aber auch die Treppe benutze, die gleich neben dem Lift ist. Folgen Sie einfach den Hinweisschildern.“
„Grazie. Danke, vielmals.“ Er hätte nun losmarschieren können, blieb jedoch auf der Stelle stehen und taxierte seine Gesprächspartnerin mit einem undeutbaren Blick. „Sagen Sie, wir sind uns nicht zufällig schon einmal begegnet?“, fragte er schließlich. „Ich meine … Es kommt mir so vor, als würde ich Sie kennen. Ist das möglich?“ Er konnte es sich nicht erklären, aber da war etwas an ihr, was ihn kribbelig machte.
„Nein.“ Maya fühlte ungewohnt starke Hitze in ihre Wangen schießen, angesichts der eingehenden Musterung, die nicht nur ihrem Gesicht, sondern auch dem Rest ihres Körpers galt, der nicht vom Empfangstresen verdeckt wurde. „Begegnet sind wir uns noch nie. Aber ich war diejenige, mit der Sie am Montag telefoniert haben.“
„Madonna mia!“ Signore Avorio hatte Mühe, seine Verblüffung nicht allzu deutlich werden zu lassen. Es war also keine völlig Fremde, die er da vor sich hatte! „Sie sind die Schwester von Signora Tannhäuser, nicht wahr?“ Er tat, als sei ihm der Blumenstrauß zu schwer, sodass er ihn ein wenig umständlich in die andere Hand verlagerte, wollte mit seiner unbeholfen wirkenden Aktivität aber nur überspielen, dass er innerlich zutiefst aufgewühlt war. „Die Frau mit der wunderschönen Stimme, die einfach aufgelegt hat, als ich zu neugierig wurde.“ Sie sah sehr jung aus, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Er konnte aber auch gut sein, dass sie eine von den Glücklichen war, denen man ihr wahres Alter nicht ansah.
„Sie wollen also zu Wiebke?“ Maya wollte das Gespräch beenden, weil sie davon ausging, dass es ohnehin nur aus purer Höflichkeit geführt wurde. Zudem wurde ihre Aufmerksamkeit jetzt von einem anderen Besucher gewünscht, der sichtbar ungeduldig von einem Bein aufs andere trat.
„Si, natürlich.“ Giovanni merkte, dass seine Gesprächspartnerin keine Zeit mehr für ihn hatte, und trat zunächst ein wenig beiseite. Sobald sie jedoch die Frage des nächsten Besuchers beantwortet und ihn verabschiedet hatte, stellte er sich wieder vor den Empfangstresen. „Sie müssen verstehen: Als ich erfuhr, dass Wiebke ernsthaft krank ist, hab’ ich mir große Sorgen gemacht. Und weil ich weder sie noch Sie“, er zeigte mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber, „telefonisch erreichen konnte, hab’ ich mich entschlossen, selbst nach dem Rechten zu sehen. Also hab’ ich mich kurzerhand in den Wagen gesetzt. So. Und nun bin ich hier und kann kaum glauben, dass ich Wiebkes kleine Schwester vor mir habe. Wissen Sie was? Ich gehe jetzt erst einmal zu Wiebke und liefere meine Blumen ab. Und danach gehen wir einen Kaffee trinken, si?“
„Ich kann aber nicht so einfach weg.“ Jetzt war Mittagszeit, stellte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr fest. Und ihr Dienst ging an diesem Tag von sechs Uhr früh bis um vier Uhr am Nachmittag. Außerdem war sie sich gar nicht sicher, ob sie die Einladung überhaupt annehmen wollte. Was hatte sie schon mit Wiebkes Lover zu bereden? Andererseits könnte er eine lohnende Informationsquelle sein, aus welcher sie möglicherweise ein paar unbekannte Details über ihre Schwester herausholen konnte!
„Dann warte ich, bis Sie hier fertig sind. Si? Bitte sagen Sie nicht No.“ Er verzog das Gesicht zu der hoffnungsvollen Miene eines Bittstellers, wohl wissend, dass dies bei den meisten Frauen wirkte. Da man diesmal jedoch keinerlei Anstalten machte, in erwarteter Weise zu reagieren, verlegte er sich aufs Schmeicheln: „Ich möchte Sie so gerne näher kennenlernen. Wissen Sie, Sie sind das schönste Mädchen, das ich je gesehen hab. Also wäre ich der stolzeste Mann auf Erden, wenn ich mit Ihnen an meiner Seite durch die Stadt laufen dürfte, sodass mich alle anderen Männer um mein Glück beneiden.“
Ein zurückhaltendes Lächeln auf den Lippen nickte Maya bloß, um ihre Einwilligung deutlich zu machen, schimpfte ihn insgeheim jedoch einen aalglatten Schleimer, dessen Sprüche bereits mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hatten. Nein, ganz so naiv war sie nicht mehr, um ernsthaft zu glauben, das Interesse eines so umwerfend gut aussehenden Mannes könnte tatsächlich ihrer Person gelten! Aber neugierig war sie jetzt doch. Sie wollte mehr über ihn erfahren, und vielleicht auch über die Beziehung, die ihn mit Wiebke verband. Außerdem hatte sie nach Feierabend ohnehin nichts Besseres vor, rechtfertigte sie sich.
Mittwoch – 31. Juli – 16:50 Uhr
„Wie haben Sie Wiebke denn kennengelernt?“ Maya wusste, es war unhöflich, so direkt zu fragen. Aber es fiel ihr im Moment nichts Anderes ein, womit sie die Konversation hätte beginnen können. Er war nach dem zweistündigen Besuch bei Wiebke gegangen, um einen Spaziergang durch Düsseldorfs Innenstadt zu machen. Doch zu ihrem Dienstschluss war er wiedererschienen, um sie abzuholen. Auf dem Weg zu ihrem Lieblings-Café war jedoch nur ein Small Talk zustande gekommen, weil er sich plötzlich sehr zurückhaltend gab, und sie nicht gewusst hatte, wie sie damit umgehen sollte. Und jetzt saßen sie schon eine ganze Weile im Café-Garten unter einer der ausladenden Linden, ohne dass einer von ihnen etwas gesagt hätte. Allein die Tatsache, dass er sie die ganze Zeit über sehr aufmerksam gemustert und dabei immer wieder auf seiner Unterlippe herumgekaut hatte, machte deutlich, dass ihm irgendetwas durch den Kopf ging, was ihre Person betraf.
Bei anderer Gelegenheit wäre Maya solch eine gründliche Begutachtung vonseiten eines fremden Mannes unangenehm gewesen. Doch an diesem Tag wurde diese Tatsache völlig ignoriert, weil sie davon ausging, dass er bloß über ihre fehlende Ähnlichkeit mit ihrer Schwester nachdachte.
„Ich habe Wiebke Anfang der Achtziger kennengelernt, sie dann aber wieder aus den Augen verloren“, antwortete Giovanni endlich. „Und vor etwa neunzehn Jahren trafen wir uns wieder. Es war purer Zufall, verstehen Sie. Damals hatte ich gerade das Gästehaus meines Großonkels übernommen und somit auch seine Stammgäste. Na ja, ich muss zugeben, ich war anfangs sehr angetan von ihr. Als ich aber erfuhr, dass sie in festen Händen ist, musste ich alle meine Hoffnungen begraben und mich mit ihrer Freundschaft begnügen.“ Dem Blick seines Gegenübers bewusst ausweichend, welches ihn plötzlich mit unverkennbar verblüffter Miene ansah, fingerte er ein silbernes Zigarettenetui aus der Innentasche seines Jacketts, und zog dann ein Zigarillo heraus, um es danach äußerst umständlich anzuzünden.
„In festen Händen? Sie …“ Maya war ein wenig irritiert, da sie sich nicht daran erinnern konnte, Wiebke jemals von einer ernsthaften Beziehung sprechen zu hören. „Wer ist denn der Glückliche?“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Ich meine … Sie hat mir nie etwas von einem festen Freund erzählt. Dabei hatte sie eigentlich nie Geheimnisse vor mir.“ Lügnerin! Wie konnte man nur so schamlos schwindeln? Im Grunde wusste sie so gut wie nichts über ihre Schwester – mal abgesehen von bestimmten Charaktereigenschaften, üblen Angewohnheiten, Geburtstag und Adresse. Aber von welchen Träumen, Wünschen oder gar Sehnsüchten Wiebke geleitet wurde, danach hatte sie sich nie zu fragen gewagt, weil sie sich stets sicher gewesen war, sofort eine rüde Abfuhr zu bekommen.
„Sie wissen …“ Giovanni stockte mitten im Satz, um sich kurz auf die Unterlippe zu beißen. Wiebke verstand es in der Tat vorzüglich, ihre Geheimnisse für sich zu bewahren, dachte er. In Venedig hatte bis zum heutigen Tag niemand von Maya gewusst, was nicht besonders verwunderte, denn Wiebke hatte nie sonderlich viel über sich oder ihre Familie erzählt. Und die Kleine war offenbar auch völlig ahnungslos, was Wiebkes langjährige Affäre mit einem verheirateten Mann betraf. „Einen Moment bitte.“ Die Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln verziehend, wandte er sich gleich darauf der Bedienung zu, welche herangekommen war, um nach ihren Wünschen zu fragen: „Wir hätten gerne zwei Cappuccino und zwei Wasser.“
Maya saß unterdessen wie auf glühenden Kohlen und konnte kaum erwarten, dass die Kellnerin endlich ging. Als diese schließlich davon hastete, wartete sie dennoch vergeblich darauf, dass ihr Gegenüber den begonnenen Satz beendete.
„Und? Sagen Sie schon! Wer ist’s?“ Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt, um ihn zum Sprechen zu bringen.
„Sie müssen mir versprechen, dass Sie Wiebke nichts von unserer Unterredung erzählen. Wenn sie nämlich erfährt, dass ich geschwatzt habe, wird sie mir die Freundschaft kündigen.“ Er hätte den Mund halten sollen, solange noch Zeit dafür gewesen war, schalt er sich im Stillen. Noch besser wäre gewesen, er hätte sich gleich nach dem Besuch bei Wiebke ins Auto gesetzt und wäre heimgefahren! Aber nun war ’s zu spät. Also musste er dafür sorgen, dass Mayas Neugierde soweit befriedigt wurde, dass sie das Interesse an Wiebkes Geliebten verlor und nicht weiter nachforschte. Die Sache war jetzt ohnehin zu Ende. Es würde nur unnötig Staub aufgewirbelt werden, wenn plötzlich jemand käme und Details wissen wollte. „Ich werde Ihnen jetzt ein paar Dinge anvertrauen, die Sie eigentlich nicht wissen sollen. Wäre es anders, wären sie sicherlich längst durch Wiebke informiert worden. Also: Der Name des Mannes ist Alonzo Campalo. Er ist mein Patenonkel und ein Mann des öffentlichen Lebens. Außerdem ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Nichtsdestotrotz hat er mit Wiebke ein Verhältnis angefangen und dies mithilfe einiger weniger Vertrauter über Jahre hinweg erfolgreich geheim halten können.“
„Aber ... Aber …“ Maya schluckte sichtlich. Wiebke war also genauso auf einen verheirateten Mann hereingefallen, wie sie selbst. Und sie hatte die Bedingungen ihres Geliebten offenbar genauso bereitwillig erfüllt, wie es die kleine Schwester getan hatte. Und so wie sie selbst, hatte Wiebke vermutlich, genauso vergeblich auf eine Zukunft gehofft, die frei war von Lügen und einsamen Stunden des Wartens.
„Vor ein paar Tagen sind Probleme aufgetaucht“, erzählte Giovanni unterdessen weiter. „Also haben wir das geplante Treffen der beiden umdisponieren müssen. Und dann kam Wiebkes Krankheit dazwischen, was zusätzliche Schwierigkeiten bereitete, weil ich sie nicht persönlich sprechen konnte, um sie zu informieren. Daher hat man mich beauftragt, sie aufzusuchen und gewisse Dinge zu klären, bevor es noch mehr Probleme gibt. So, das wäre im Grunde alles, was es dazu zu sagen gibt.“
„Was denn für Probleme?“, wollte Maya wissen.
„Na ja, Probleme eben.“ Signore Avorio lächelte zwar zuvorkommend, doch war ihm deutlich anzusehen, dass er die Preisgabe weiterer Einzelheiten gerne verweigert hätte. „Signora Campalo hatte am vergangenen Sonntag einen schweren Autounfall. Deshalb die Terminverschiebung des Treffens. In der Zwischenzeit hat sich allerdings herausgestellt, dass Signora Campalo gelähmt bleiben und fortan an einen Rollstuhl gefesselt sein wird. Also muss er sich um sie kümmern, verstehen Sie. Es ist eine Sache, eine gesunde Frau zu betrügen und sie dafür mit kostbarem Schmuck und Luxusreisen zu entschädigen. Eine andere aber, die hilflose Mutter seiner Kinder zu hintergehen, der man nichts Anderes mehr bieten kann als die tröstliche Anwesenheit seiner selbst, wenn sie am Leben verzweifeln will.“
„Ich verstehe.“ Nein, sie verstand gar nichts! Oder doch! Sie verstand sehr wohl! Man wollte ihre Schwester loswerden! Auf unspektakuläre Art und Weise aus dem Leben ihres Geliebten entfernen, damit die Routine seines Alltags nicht gestört und die vermeintlich weiße Weste eines gesellschaftlich hochstehenden Mannes nicht durch die Aufdeckung seines unmoralischen Benehmens besudelt wurde. Im Grunde war Signore Avorios Geschichte so fadenscheinig, dass man getrost davon ausgehen konnte, dass sie nicht der Wahrheit entsprach. Nun, auch wenn es tatsächlich eine schwer kranke Signora Campalo gab, war es eine ganz üble Masche, sich hinter einem armen Krüppel verstecken und so eine Affäre beenden zu wollen, die einem lästig geworden war! „Haben Sie …“ Sie musste schlucken, um weiter sprechen zu können. Dann setzte sie neu an: „Haben Sie Ihren Auftrag erledigen können?“
„Ja.“ Giovannis Gesicht war mit einem Mal eine einzige Maske des Kummers, was keineswegs gespielt war, denn die Erinnerung an die kleine bleiche Gestalt in dem riesig erscheinenden Krankenbett machte ihm das Herz so schwer, dass er meinte, einen Bleiklumpen in der Brust zu haben. „Ich … Als ich Wiebke mitteilte, dass sie Onkel Alonzo nicht mehr sehen darf, kam ich mir vor, wie ein … Glauben Sie mir, ich hätte alles drum gegeben, hätte ich nicht diese Nachricht überbringen müssen. Aber es ging nicht anders. Wirklich! Er wollte das nicht per Telefon machen, weil ihm das zu unpersönlich war. Und selbst hierherkommen konnte er verständlicherweise auch nicht. Also blieb nur ich übrig. Und jetzt …“
„Entschuldigen Sie mich.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, sprang Maya von ihrem Stuhl auf und stürzte dann durch die Reihen der Tische hindurch zum Ausgang des Café-Gartens. Sie hatte genug gehört und daher keine Lust mehr, sich sein Gesülze weiter anzutun, grollte sie innerlich. Männer waren doch alle gleich! Wurde ihnen ein Spielzeug zu langweilig, warfen sie es einfach weg und nahmen sich ein neues. Arme Wiebke. Was musste jetzt in ihr vorgehen? Da war sie nun durch eine lebensrettende Operation ans Bett gefesselt, musste sich anhören, dass sie ausgedient hatte, und bekam noch nicht einmal die Chance auf eine Aussprache mit ihrem Geliebten. Dabei hätte sie in ihrer derzeitigen Situation alles andere als solch eine Nachricht gebraucht!
Den Gehweg entlang hastend, achtete Maya weder auf die vorbeifahrenden Autos noch auf die Menschen, die ihr entgegenkamen oder in die gleiche Richtung strebten, wie sie. Sie war nur noch ein paar Schritte von einer Fußgängerampel entfernt, da wurde sie von der Seite so hart angerempelt, dass sie das Gleichgewicht verlor und zur Fahrbahn hin wegkippte. Im selben Moment brauste ein Wagen heran, dessen Fahrer zwar so stark bremste, dass die Räder seines Fahrzeuges blockierten, der jedoch nicht mehr rechtzeitig zum Stehen kommen konnte, um einer Kollision auszuweichen. Und so krachte sie zunächst mit dem Oberkörper auf die Motorhaube und wurde dann gleich wieder weggeschleudert. Es ging alles so schnell, dass sie gar nicht mehr dazu kam, sich abzustützen oder ihren Sturz irgendwie zu kontrollieren. Daher schlug sie mit dem Kopf zuerst auf dem Boden auf. Ausgestreckt auf dem heißen Asphalt keuchte sie vor Schmerz. Gleichzeitig hörte sie wie aus weiter Ferne besorgte Fragen, vermochte jedoch nicht mehr zu antworten, weil ihr die Sinne schwanden.
Donnerstag – 1. August – 03:30 Uhr
Maya war gerade erst zu sich gekommen und noch ziemlich verwirrt, weil sie nicht gleich nachvollziehen konnte, wo sie sich befand. Doch dann wandte sie den Kopf, um die Person ansehen zu können, die gleich neben ihrem Bett stand. Dabei erkannte sie nicht nur den Krankenpfleger, sondern auch, dass sie in einem Krankenhauszimmer lag. Weil ihr aber sogleich schwindlig wurde und außerdem ihr Magen zu rebellieren begann, richtete sie sich stöhnend auf, ängstlich darum bemüht, ihren Brechreiz so lange zu bezwingen, bis sich ein Auffangbehälter für ihren Mageninhalt fand. In der nächsten Sekunde entdeckte sie eine Nierenschale auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett und langte gerade noch rechtzeitig danach.
„Was ist passiert?“ Da sie sich nun vollständig entleert hatte, war die Übelkeit nicht mehr so zwingend, sodass sie wieder sprechen konnte. Sich vorsichtig zurechtsetzend, mied sie bewusst den direkten Blickkontakt mit Ray, wohl wissend, dass er sie seinerseits eingehend musterte.
„Man hat dich über den Haufen gefahren, weil du die rote Fußgängerampel nicht beachtet hast“, antwortete er.
„Du hast es gesehen?“ Er hatte sie also wieder einmal verfolgt. Hatte er denn nichts anderes zu tun?
„Den Unfall selbst hab’ ich nicht mitbekommen“, winkte er ab. „Aber ein paar Passanten, die nach dem Unfall in den Café-Garten kamen, erzählten später, da wäre eine Frau einfach drauflos gelaufen, so als sei kein Auto weit und breit.“
„Du warst aber da, ja?“, stellte sie fest.
„Ich bin dir keineswegs nachgelaufen, wenn du darauf anspielst“, wehrte er sich. „Ich war nur zufällig Gast in dem Café, in das du deine neue Eroberung geschleppt hast. Also hab’ ich sowohl dein Kommen als auch deinen Abgang mitgekriegt. Du hast mich bloß nicht wahrgenommen, weil du nur Augen für diesen geölten Heini hattest.“
Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar. Dennoch dachte sie nicht einmal im Traum daran, darauf einzugehen.
„Wer … Wie bin ich hierhergekommen?“, wollte sie wissen.
„Na, wie wohl? Mit Tatütata und blauem Blinklicht vermutlich. Als ich zum Nachtdienst kam, hab’ ich meinen Augen kaum getraut. Hab’ erst gedacht, ich spinne, als ich deinen Namen auf der Patiententafel gelesen hab. Aber dann hab’ ich’s kapiert. Na, und dann hab’ ich mich gewundert, dass dein Lover nicht da war. Scheint ihm nicht besonders wichtig, ob’s dir gut geht oder nicht.“
„Das war bloß ein Bekannter. Hat nur einen Kaffee mit mir trinken wollen.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Zum einen war ihr wieder so schlecht, dass sie vorsichtshalber nach der neuen Nierenschale griff, die er ihr reichte. Und zum anderen ärgerte sie sich jetzt über alle Maßen darüber, dass er wieder einmal versuchte, sie wie ein dummes kleines Kind dastehen zu lassen, welches man an die Hand nehmen musste, weil es allein keine vernünftige Entscheidung fällen konnte.
Wie ihr Unfall im Einzelnen abgelaufen war, wusste Maya nicht mehr genau. Sie erinnerte sich aber daran, dass sie sich auf dem Rückweg zum Krankenhausparkplatz befunden hatte, wo ihr altersschwacher Wagen parkte, mit dem sie dann nach Hause fahren wollte. Dazu musste sie aber nicht über die Straße. Außerdem wäre ihr nicht im Traum eingefallen, auf einer stark befahrenen Straße über eine rote Fußgängerampel zu laufen – sie war ja nicht lebensmüde!
„Der Unfallfahrer dachte wohl, du bist besoffen, und verlangte einen Alkoholtest“, erklärte Ray in ihre Überlegungen hinein. „So hat man ’s zumindest erzählt.“
„Was für ’n Quatsch“, erwiderte sie.
„Die Unfallzeugen sagen aber alle, du wärst mehr als einmal in einen der entgegen kommenden Leute hinein gerannt und hättest zudem arg geschwankt, als du einfach auf die Fahrbahn ausgeschert bist“, kommentierte er ihre Aussage. „Hast du nicht vielleicht doch ein Glas Wein zu viel gehabt?“
„Wär’ mir neu, dass ich ein Alkoholproblem hätte“, fauchte sie. „Ich besaufe mich nicht am helllichten Tag!“
Ray verengte die Lider zu schmalen Schlitzen, wobei er sie erneut musterte. Als sie sich jedoch zurücklegte und demonstrativ die Decke bis zum Kinn hinaufzog, huschte kurzzeitig ein herablassendes Grinsen über sein Gesicht.
„Gebrochen ist nix, sagt der Doc. Aber ’ne Gehirnerschütterung hast du. Und Prellungen, die ’ne Weile wehtun und demnächst in allen Regenbogenfarben schillern werden. Ruhst dich am besten erst mal aus“, empfahl er im gönnerhaften Ton.
Maya nickte nur, unfähig sich länger wach zu halten. Schon halb schlafend, hörte sie ihren Ex-Freund zum Ausgang gehen, und war auch schon völlig weg, bevor er die Tür des Krankenzimmers erreichte. Als sie dann das nächste Mal aufwachte, war es draußen wieder heller Tag und der Stuhl neben ihrem Bett durch Doktor Niehaus besetzt.
„Ich muss Ihnen was sagen“, begann er mit belegter Stimme.
„Ja?“ Sie merkte ihm an, dass er die größten Schwierigkeiten hatte, die richtigen Worte zu finden, und fühlte mit einem Mal ein merkwürdiges Ziehen in ihrem Brustkorb. Sich vorsichtig aufsetzend, sah sie ihn unverwandt an und begriff plötzlich, worum es ging. „Wiebke? Ist was mit ihr?“
„Sie ist gestorben“, brachte er endlich heraus. „Es tut mir so leid.“
„Wann?“ Trotz der brütenden Hitze, die sich im Raum festgesetzt hatte, fror sie erbärmlich.
„Gestern – Spätnachmittag. Wir haben noch versucht, Sie zu erreichen. Aber Sie waren gerade aus dem Haus gegangen. Und niemand wusste, wohin Sie wollten.“ Der Arzt beugte sich ein klein wenig vor, um Mayas Hände in die seinen nehmen zu können. „Sie ist ganz friedlich eingeschlafen“, versicherte er leise. „Glauben Sie mir, Ihre Schwester hat nicht leiden müssen.“
„Warum?“, fragte sie.
„Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen“, beantwortete er die knappe Frage. „Wir waren auf Komplikationen und daher auch auf alle Eventualitäten eingestellt. Aber sie kam einfach nicht wieder zurück.“ Dass die Alarmvorrichtung des Überwachungsmonitors nicht eingeschaltet gewesen war, sagte er nicht. So etwas kam halt ab und an vor. Und die Tatsache, dass die für Wiebke Tannhäuser verantwortliche Krankenschwester gerade bei einem anderen Notfall Hilfestellung leistete, erwähnte er auch nicht. Er wollte die Kleine nicht unnötig beunruhigen, rechtfertigte er seine Unterlassung. Der Personalmangel war ein Problem, mit dem er seit Beginn seiner Tätigkeit in diesem Hause kämpfte. Aber er würde dafür sorgen, dass dieser Vorfall bis ins Kleinste untersucht wurde und personelle Konsequenzen hatte.
„Kann ich sie noch einmal sehen?“ Mayas Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
„Wenn Sie möchten, bring’ ich Sie persönlich runter. Aber ich denke, ich melde uns vorher an. Nicht dass Doktor Kampe gerade beschäftigt ist, oder so.“ Er wusste durchaus, dass sie den Weg zur Leichenhalle und dem danebenliegenden Arbeitsraum kannte. Seiner Erfahrung nach fand sie sich innerhalb des Krankenhauses weit besser zurecht, als jeder andere, denn es war unter anderem auch ihre Aufgabe, sowohl Patienten und Besuchern als auch den verschiedenen Dienstleistern des Krankenhauses den Weg zu deren jeweiligen Zielen zu beschreiben und notfalls auch zu zeigen. Dennoch wollte er sie nicht völlig schutzlos dem beißenden Sarkasmus und dem fragwürdigen Humor seines Kollegen und besten Freundes ausliefern, der just in diesem Moment eine Obduktion an Wiebke Tannhäuser vornahm.
Wie sie den Weg zum Obduktions-Raum bewältigt hatte, wusste Maya später nicht mehr. Aber der Anblick des Metalltisches, auf welchem ihre Schwester mit bis zum Kinn abgedeckten Körper lag, hatte zur Folge, dass ihre Sinne mit einem Mal wieder auf Hochtouren funktionierten: Die Kälte des Raumes ließ sie frösteln, während ihr der Geruch von Blut, totem Gewebe und Desinfektionsmitteln Übelkeit verursachte. Auch wollte ihr das Ticken der großen Digitaluhr, die über der Tür hing, wie das Schrittgeräusch eines unsichtbaren Wesens vorkommen, welches ungeduldig auf der Stelle trat, darauf wartend, dass man ihm den Weg freimachte, damit es seinen Auftrag endlich zu Ende bringen könne. Allein die Nähe ihres Begleiters, der ihren Arm fürsorglich festhielt, damit sie nicht womöglich umfiel, nahm ihr das Gefühl, sie erlebe gerade eine Szene aus einem fantastischen Theaterstück. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob sie dies tatsächlich begrüßen sollte, denn sie wollte der Realität so lange als möglich ausweichen.
„Sie sieht wirklich aus, als ob sie nur tief schläft.“ Ihr Gesicht war nahezu so weiß, wie die gekachelten Wände des Raumes, und wirkte immer noch völlig versteinert, so als hätte sie selbst auch kein Leben mehr in sich. „Ich danke Ihnen.“ Sich nur zögernd von der Toten abwendend, langte sie gleich darauf nach Doktor Niehaus’ Händen und drückte sie leicht. „Jetzt weiß ich, dass Sie mich nicht nur haben trösten wollen.“ Während sie noch sprach, ließ sie ihn auch schon wieder los, und ging dann ohne ein weiteres Wort zum Ausgang. Nachdem sie schließlich die Tür sorgsam hinter sich zugedrückt hatte, schleppte sie sich zum Lift, der sie aus dem Kellergeschoss hinaufbringen sollte.
Die beiden zurückgelassenen Mediziner standen unterdessen immer noch neben dem Leichnam der blonden Frau, ein jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, bis der Pathologe endlich entschied, dass er nicht länger nur stumm dastehen wollte: „Toni?“
„Ja?“ Doktor Niehaus sah seinen Kollegen fragend an.
„Ich wollte nix sagen, solange die Kleine da war. Aber da ist irgendetwas faul an der ganzen Sache.“ Doktor Kampe wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn, was deutlich machte, dass er doch nicht ganz so abgebrüht war, wie er es eigentlich sein wollte. In einem Raum zu schwitzen, dessen Temperatur momentan nicht mehr als fünfzehn Grad Celsius betrug, war normalerweise fast unmöglich. „Nein, nicht was du denkst“, winkte er ab, als sein unübersehbar betroffenes Gegenüber zu einer Frage ansetzte. „Mit deiner Arbeit hat das nix zu tun. Die Nähte sind picobello. Und trotzdem ist so viel Luft in den Herzkammern gewesen, dass eine Blutzirkulation nicht mehr möglich war. Merkwürdig, nicht? Wo kam die Luft her, drei Tage nachdem alles komplett dichtgemacht worden ist?“
Darauf hatte Doktor Niehaus zunächst keine Antwort. Doch nur einen Wimpernschlag später wurde ihm klar, dass der Tod seiner Patientin absichtlich herbeigeführt worden war, was beinahe unentdeckt geblieben wäre, wäre da nicht seine eigene Neugierde gewesen. Nein, er hatte sich absolut nichts vorzuwerfen gehabt, stellte er im Stillen für sich fest. Trotzdem hatte er von einem unbeteiligten Mediziner bestätigt haben wollen, dass ihm tatsächlich kein Fehler unterlaufen war. Und jetzt das! Ein heimtückischer Meuchelmord, der als schwere Komplikation oder aber als Kunstfehler angesehen werden konnte, wenn man die wahre Todesursache nicht hundertprozentig kannte. Es war ja so einfach, nicht wahr? Man schaltete alle überwachenden Geräte ab, und nutzte dann die vorhandenen Zugänge, die eigentlich für Infusionen gedacht waren, um ein bisschen Luft in die Venen zu spritzen. Aber wieso? Wer hasste die Frau so sehr, dass er noch nicht einmal vor Mord zurückschreckte? Und warum ausgerechnet im Krankenhaus? Hatte es vielleicht keine andere Möglichkeit gegeben, so nah an das Opfer heranzukommen? Oder war es nur Zufall, dass es hier passiert war?
„Ein Fall für die Polizei“, stellte er am Ende seiner Überlegungen fest. „Ich werd’ gleich mal anrufen und jemanden herkommen lassen. Der Raum ist zwar schon gereinigt, aber vielleicht finden die noch Hinweise, die nützlich sind.“
Unterdessen erreichte Maya das Krankenzimmer, in dem sie bisher untergebracht war. Doch statt sich wieder ins Bett zu legen, streifte sie Schutzkittel und Klinik-Nachthemd ab, um ihre eigene, blutbefleckte Kleidung anzuziehen. Den Inhalt ihrer Umhängetasche so gründlich prüfend, als müsse sie sich jeden einzelnen Gegenstand ganz genau einprägen, fand sie alles so vor, wie sie es am Morgen des vergangenen Tages hineingetan hatte, und machte sich dann einfach davon, ohne irgendjemandem zu begegnen. Immer noch gegen den Schock ankämpfend, der sie mit der Nachricht von Wiebkes Tod überfallen hatte, erreichte sie den Krankenhausparkplatz und stieg in ihren Wagen. Mehr automatisch funktionierend, als willentlich handelnd, fuhr sie zu ihrer Wohnung und schloss sich dort erst einmal ein, um endlich weinen zu können. Allein, ging es ihr wiederholt durch den Kopf. Jetzt war sie tatsächlich völlig allein. Auch wenn man Wiebke nicht als liebevolle Schwester bezeichnen konnte, war sie doch ein Mensch, der zu ihr gehört und den sie mehr geliebt hatte, als ihr bisher bewusst gewesen war!