Читать книгу Das Geheimnis von Mayas Schwester - Katica Fischer - Страница 7
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ОглавлениеFreitag – 2. August
Nach einer schlaflosen Nacht, die sie ausschließlich mit Grübeln verbracht hatte, rief Maya schon am frühen Morgen ihren Vorgesetzten an und bat um ein paar Tage Urlaub, was ihr auch gewährt wurde. Danach brach sie auf, mit der Absicht, in Wiebkes Wohnung fahren zu wollen, um persönliche Unterlagen zu sichten. Die anfallenden Behördengänge und das Begräbnis wollte ein Bestattungsunternehmen übernehmen. Und die Leute dort wollten wissen, ob Wiebke irgendeinen besonderen Wunsch bezüglich ihrer Bestattung dokumentiert hatte.
Während sie ein paar Minuten später ihren alten Golf startete, der am Straßenrand geparkt war, sah Maya eine hoch aufgeschossene Gestalt zum Hauseingang eilen, maß dieser Beobachtung jedoch keinerlei Bedeutung bei. Allein das dunkle Haar des Mannes blieb ihr in Erinnerung, als sie losfuhr, weil es so ziemlich in alle Himmelsrichtungen ab stand, was auf eine äußerst unruhig verbrachte Nacht hinwies.
Maya hatte kaum Wiebkes Wohnungstür geöffnet und einen Schritt in den Flur getan, da merkte sie, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Nein, es war alles super sauber und ordentlich – so wie immer. Dennoch hatte sie plötzlich das Gefühl, als wäre da jemand, der sich hinter der nächsten Ecke versteckte.
„Hallo?“ Die Eingangstür offenlassend, damit sie im Ernstfall schnellstmöglich flüchten konnte, ging sie vorsichtig vorwärts. „Jemand da?“ Die Hand bereits erhoben, zögerte sie einen Moment und stieß dann die nächstbeste Tür mit einem Ruck auf. Gleichzeitig hielt sie den Atem an, in Erwartung eines erschreckenden Anblickes. Weil da aber nichts Außergewöhnliches war, entspannte sie sich ein wenig.
Wiebkes Schlafzimmer war in hellen Sonnenschein getaucht und wirkte, als wäre es exakt nach dem Titelbild eines Luxus-Einrichtungskataloges möbliert worden. Doch nur einen Atemzug später stieß Maya einen lauten Schrei aus, weil irgendetwas Pelziges an ihren nackten Beinen vorbeistrich und dann schnell wie der Blitz zur offenen Wohnungstür hinausschoss.
Dass es bloß ein Stubentiger gewesen war, der sie dermaßen erschreckt hatte, fand Maya keineswegs beruhigend, denn die Tatsache, dass sich da jetzt ein Tier in der Wohnung befand, welches ihr bei ihrem letzten Besuch garantiert aufgefallen wäre, erschien ihr absolut unerklärlich. Wie war die Katze hineingekommen? Der Balkon, der sich über die gesamte Breitseite der Wohnung erstreckte, lag fünf Stockwerke über dem Erdboden und war daher kaum zu erklimmen! Es sei denn, man war ein Extremkletterer! Außerdem war das Schlafzimmerfenster in Kippstellung abgeschlossen, sodass es weder von innen noch von außen weiter aufgemacht werden konnte. Merkwürdig. Wirklich! War die Mieze vielleicht am Vortag unbemerkt mit der regelmäßig erscheinenden Putzfrau hereingeschlüpft und dann unentdeckt in der Wohnung verblieben? … Ja, bestimmt war das so! Eine andere Möglichkeit gab es nämlich nicht!
Maya schloss zunächst die Eingangstür und dann das Schlafzimmerfenster. Danach wollte sie in Wiebkes Büro, um die Aktenordner durchzusehen. Weil ihr aber im Vorbeigehen etwas Merkwürdiges auffiel, blieb sie mitten im Zimmer stehen und wandte sich von dort aus der Kommode zu, die auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes stand und deren Ablagefläche jetzt merkwürdig leer wirkte. Eigenartig, dachte sie. Wieso hatte Wiebke die beiden schweren silbernen Rahmen mit den Fotos weggeräumt, wo sie sie doch seit ewigen Zeiten wie einen Schatz gehütet hatte? War ihr vielleicht die Freude an dem Schnappschuss verloren gegangen, der sie als junges Mädchen in einer farbenprächtigen Gondel zeigte, die von einem bunt gekleideten jungen Gondoliere gelenkt wurde? Und was war mit dem Schwarz-Weiß-Porträt des gut aussehenden Mannes passiert, dessen Name auf der Rückseite des Bildes unter der kurzen aber höchst aufschlussreichen Widmung stand, die er für Wiebke verfasst hatte?
Da sie keine Antworten auf ihre Fragen fand, konzentrierte sich Maya wieder auf das Vorhaben, welches sie hierhergeführt hatte. In Wiebkes Büro einen Aktenordner nach dem anderen durchblätternd, fand sie nichts Relevantes. Also griff sie am Ende nach dem ersten der fünf Fotoalben, in der Hoffnung, vielleicht darin etwas zu finden. Doch wurde sie wiederum enttäuscht. Allein die Tatsache, dass ein Teil der Bilder fehlte, machte sie ein wenig stutzig. Weil diese Entdeckung aber weder hilfreich noch sonderlich interessant war – die Fotos waren vermutlich einem zerstörerischen Wutanfall Wiebkes zum Opfer gefallen! – legte sie die Alben wieder an ihren Platz.
Maya war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, als ihr einfiel, dass ihre Schwester die wirklich wichtigen Sachen seit je her nicht zu Hause aufbewahrte, sondern in dem eigens dafür angemieteten Wert-Fach, welches sich im Schließfach-Raum ihrer Hausbank befand. Also suchte sie den entsprechenden Schlüssel und fand ihn am Ende in Wiebkes Schmuckschatulle, die, wie gewohnt, im Tresor-Fach des überdimensionalen Kleiderschrankes untergebracht war. Anschließend vergewisserte sie sich noch einmal, dass alle Fenster geschlossen waren, und machte sich dann umgehend auf den Weg, um noch vor der Mittagspause in der Bank zu sein.
Dass es nicht leicht werden würde, die Leute von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu überzeugen, war Maya schon im Vorfeld klar gewesen. Dennoch musste sie arg mit sich kämpfen, um ruhig und besonnen zu bleiben, während der zuständige Bankmensch immer wieder den Kopf schüttelte, um seine Ablehnung deutlich zu machen.
„Wenn Sie Vollmachten sehen wollen, dann tut es mir furchtbar leid!“ Ein ziemlich zerknittertes Blatt Papier auf die Schreibtischplatte werfend, das sie zuvor nur notdürftig glatt gestrichen hatte, maß sie ihr Gegenüber gleichzeitig mit einem vernichtenden Blick. „Ich hoffe aber, dass Ihnen der vorläufige Totenschein genügt!“ Sie hatte die Erklärung zwar in Empfang genommen, war sich jedoch nicht mehr ganz sicher, von wem oder wann genau sie den Schrieb bekommen hatte, weil sie seit der Nachricht von Wiebkes Tod bis zum heutigen Morgen wie in Trance gewesen war. Selbst die Idee, Leyla anzurufen und ihr die traurige Nachricht mitzuteilen, war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen. Aber jetzt war sie wieder bei Verstand und so zornig, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie war böse auf Wiebke, weil diese alle Empfehlungen der Ärzte einfach ignoriert und sich am Ende wie ein Dieb in der Nacht davongestohlen hatte! Sie war böse auf sich selbst, weil sie immer nur die eigene Person und ihre banalen Problemchen gesehen und nie daran gedacht hatte, dass es ihrer Schwester vielleicht schlecht gehen könnte! Und sie war böse auf die ganze Welt, weil alle bloß daran interessiert schienen, ihr Schwierigkeiten zu bereiten! „Meine Schwester ist tot! Verstehen Sie? Und ich bin ihre einzig lebende Verwandte. Also machen Sie mir jetzt das Fach auf, oder nicht? Muss ich wirklich erst zu Ihrem Chef gehen, damit ich herausfinden kann, ob meine Schwester vielleicht einen letzten Willen hinterlassen hat, der sich auf ihre Bestattung bezieht?“
Diese Argumentation leuchtete dem gewissenhaften Bankmenschen durchaus ein. Dennoch mochte er nicht darauf verzichten, sich seine Einwilligung von höherer Stelle gutheißen zu lassen. Und so musste sich Maya noch ein paar Minuten länger gedulden, bis man sie in einen Aufzug dirigierte und ins Kellergeschoss des Bankgebäudes brachte. Dort angekommen, wurden in ihrem Beisein zunächst ein mit Stahlgittertür gesicherter Raum und gleich danach ein Wert-Fach aufgesperrt, aus welchem man eine große Kassette entnahm. Und nur einen Augenblick später fand sie sich mit dem Behälter in Händen allein in einem Separee wieder, welcher durch einen blickdicht gewebten Vorhang vom Rest des Schließfach-Raumes abgeschottet wurde.
Dass es in der Tat eine gut gefüllte Metallschatulle war, erkannte Maya, sobald sie den Deckel des Behälters anhob. Allerdings wunderte sie sich hinterher nicht nur über den umfangreichen Inhalt, sondern auch über die Tatsache, dass alles so penibel geordnet war, als ob Wiebke gewollt hätte, dass im Ernstfall keine Fragen offenblieben.
Neben einem handschriftlich verfassten Testament und einem persönlichen Brief, dessen Lektüre sich Maya für später aufhob, fand sie ein Sparbuch und eine amtlich beglaubigte Übertragungsurkunde, in welcher ein Jahr zuvor festgelegt worden war, dass sie die neue Besitzerin von Wiebkes weitläufiger Eigentumswohnung sei. Zudem lagen da verschiedene Wertpapiere sowie einige Sätze an Goldmünzen, deren Wert sie im Moment nicht einschätzen konnte.
Was sollte das alles, fragte sie sich verwundert. Wann hatte Wiebke die Wohnung gekauft? Und wie kam sie zu solchem Vermögen? Hatte sie vielleicht im Lotto gewonnen?
Nein, revidierte Maya sogleich ihre letzte Vermutung. Glücksspiel war noch nie Wiebkes Ding gewesen. Also musste sie geerbt haben. Möglicherweise war die Hinterlassenschaft der Eltern doch nicht so unbedeutend gewesen? Aber … Wieso hatte dann Wiebke alles bekommen? Wäre sie, Maya, nicht auch zu berücksichtigen gewesen? … Nein, sicher nicht, stellte sie im Stillen für sich fest. Wenn das Vermögen vom Vater stammte – möglicherweise hatte er eine hohe Lebensversicherung gehabt? – dann war Wiebke in der Tat die allein Berechtigte, denn sie war sein leibliches Kind. Außerdem war es jetzt sowieso egal!
Testament und Brief in der einen Hand haltend, öffnete Maya mit der anderen gleichzeitig ihre Umhängetasche, und verstaute anschließend die Papiere in einem der Seitenfächer. Die restlichen Dokumente sowie die Goldmünzen würde sie im Schließfach lassen, entschied sie. Was auch immer es damit auf sich hatte, es würde wohl für immer Wiebkes Geheimnis bleiben.
Freitag – 2. August – 15:45 Uhr
Darauf gefasst, dass die Freundin zumindest ein bisschen beleidigt, wenn nicht gar tief verletzt sein würde, weil man sie nicht gleich informiert hatte, wählte Maya ihre Worte sehr sorgfältig. Als man sie jedoch ohne Kommentar einfach in die Arme nahm und einfach nur festhielt, verlor sie die Beherrschung. Eine geraume Weile ausschließlich in ihre eigene Trauer versunken, löste sie sich am Ende mit sanfter Gewalt aus der Umklammerung, um sich das Gesicht trocken wischen zu können. Danach kramte sie die mitgebrachten Papiere heraus, um sie zu prüfen.
„Du musst zu einem Anwalt“, riet Leyla, indem sie über die Schulter der Freundin hinweg aufmerksam die ersten Sätze des Testaments mitlas. „Kostet zwar ein bisschen was. Aber wenn du das Ganze von einem Paragrafen-Jongleur erledigen lässt, kannst du nachher sicher sein, dass alles seine Ordnung hat.“
Maya nickte bloß, während sie das Testament noch einmal überflog, um es anschließend beiseitezulegen. Guter Tipp, dachte sie, während sie ihre völlig verheult aussehende Vertraute mit einem liebevollen Lächeln bedachte. Leyla hatte fast so sehr geweint, wie sie selbst, erinnerte sie sich. Doch jetzt waren sie beide endlich wieder in der Lage, über die Dinge nachzudenken, die dringend gemacht werden mussten. Einen Schluck des mittlerweile abgestandenen Mineralwassers nehmend, langte sie gleichzeitig nach dem Brief, der an sie persönlich gerichtet war. Leyla indes ging, um Kaffee für sie beide zu holen.
Meine liebe Maya, stand da. Wenn du diesen Brief liest, dann hab’ ich jede Chance vertan, dir die Wahrheit selbst zu sagen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, aber ich war gezwungen, zu schweigen und selbst dich zu belügen, um die Liebe meines Lebens nicht zu verlieren. Aber jetzt, in diesem Augenblick, ist das nicht mehr nötig, Rücksichten zu nehmen, denn es spielt keine Rolle mehr, was man über mich sagt. Allein du sollst wissen, dass du keineswegs ein unerwünschtes Kind bist, und die Frau, die du bisher Mutter nanntest, in Wirklichkeit deine Großmutter war. Ich habe dich in Liebe empfangen und unter meinem Herzen getragen, war aber selbst noch viel zu jung und unerfahren, um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Also hat deine Großmutter beschlossen, dass du als ihre Tochter aufwachsen sollst, um sowohl dir als auch mir zu helfen.
Maya hatte zwar die Worte entziffert, war jedoch noch weit davon entfernt, auch deren Sinn zu begreifen. Mit einem merkwürdigen Kribbeln in der Magengegend steckte sie das erste Blatt nach hinten, um das nächste lesen zu können, und wunderte sich dabei über den eindeutig schwermütigen Grundton des Schreibens. Als ihr dann aber jäh aufging, was tatsächlich in dem Brief stand, schluckte sie hart. Gleichzeitig zog sie die erste Seite wieder hervor und las den letzten Abschnitt noch einmal.
Das konnte doch nicht sein, schoss es ihr am Ende durch den Sinn. Oder doch? Ja, natürlich! Wiebke hatte sich verantwortungsloser Weise schwängern lassen – dabei wusste man doch mit siebzehn hundertprozentig über Verhütung Bescheid! – und ihr Kind dann den eigenen Eltern überlassen, damit diese sich darum kümmerten. Das erklärte nahezu alles. Ihre Mutter … Nein! Ihre Großmutter hatte es in der Tat bloß gut gemeint. Allerdings hatte sie nicht bedacht, welche Folgen ihrer Entscheidung nach sich ziehen würde, weil sie nicht in Erwägung gezogen hatte, dass allein das Aussehen des vermeintlichen Nachzüglers deutlich machen könnte, dass ihr Ehemann nicht der Vater sein konnte. Ihr selbst war das Gerede der Leute vielleicht egal. Aber ihr Mann war da wohl anderer Auffassung gewesen! Und nun war auch klar, warum ihre Ehe nicht besonders glücklich gewesen war. Aber warum hatte nie einer was gesagt? Wieso hatte Wiebke sich bis zum bitteren Ende Schwester nennen lassen? Es mochte ja sein, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft tatsächlich noch zu jung gewesen war. Aber ein paar Jahre später hätte sie doch die Wahrheit sagen können!
Weil sie trotz angestrengtem Nachdenken zu keiner akzeptablen Erklärung für Wiebkes Verhalten kam, beschloss Maya weiterzulesen. Also schob sie die erste Seite des Briefes wieder nach hinten, und vertiefte sich dann in den Wortlaut der zweiten.
Mama hat mir nicht nur geholfen, meine Schwangerschaft geheim zu halten, sondern auch, dich zu Hause auf die Welt zu bringen. Danach hat sie dafür gesorgt, dass man tatsächlich glaubte, sie habe dich geboren. Es fiel mir schwer, dich in ihren Armen zu sehen. Und noch schwerer fiel es mir, mit anzusehen, wie Papa dich behandelte. Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich war ja noch ein Schulmädchen und musste dankbar sein, dass man mir die Sorge für mein Kind abnahm und mir so einen unbelasteten Start in die Zukunft ermöglichte. Glaube mir, ich war oft nahe daran, dir die Wahrheit zu sagen. Und doch habe ich es nicht getan, weil es mir mein Herz so befahl. Ich habe geliebt. Wahrscheinlich mehr als gut für mich war. Vielleicht war es Unrecht, was ich tat. Vielleicht auch nicht. Dennoch bereue ich nichts, denn Enrico hat mich zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht, als er mir sein Herz zu Füßen legte und mich zu seiner heimlichen Frau machte. Verzeih mir mein Kind. Aber ich konnte nicht anders.
„Enrico Da Verde“, murmelte Maya vor sich hin, während sie mit gerunzelter Stirn die schwungvolle Unterschrift ihrer Schwester betrachtete. Nicht Schwester, stellte sie es nach einer Weile richtig. Mutter. Welch ein Lügensumpf. Was für ein Chaos! Aber wozu das Ganze? Warum diese Geheimnistuerei? Und warum hatte dieser Avorio behauptet, Wiebke wäre mit einem Alonzo Campalo liiert gewesen? Wieso hatte er gelogen? … Enrico Da Verde. Das war der Name, den sie als Fünfzehnjährige auf der Rückseite des Fotos gelesen hatte, erinnerte sie sich. Sie war dazu gekommen, als Wiebke das Schwarz-Weiß-Porträt neu einrahmen wollte, und hatte durch Zufall die Schrift auf der Rückseite entdeckt. Auf ihre Frage, wer das denn sei, war ihr jedoch nur eine ausweichende Antwort zuteilgeworden, sodass sie beschlossen hatte, nicht noch einmal zu fragen, allein um sich eine harsche Zurechtweisung bezüglich ihrer Neugierde zu ersparen. Doch sobald sie sich alleine in der Wohnung fand, hatte sie das Foto vorsichtig aus dem Rahmen geholt und sich die Widmung genauer angesehen, die der gut aussehende Mann an Wiebke gerichtet und mit seinem vollen Namen unterzeichnet hatte.
„Enrico Da Verde.“
„Wie kommst du denn jetzt auf den?“ Leyla stand jetzt mit zwei Kaffeebechern vor der Couch und sah ihre Freundin überrascht und verständnislos zugleich an.
„Was?“ Maya wusste nicht wirklich, was man von ihr wollte, und schaute entsprechend verwirrt drein.
„Enrico Da Verde“, wiederholte Leyla. „Wie kommst du jetzt auf ihn?“
„Ich …“ Maya schluckte hart, bevor sie neu ansetzte: „So heißt der Mann, den Wiebke über alles geliebt hat, und der vermutlich mein Erzeuger ist.“
„Wie bitte?“ Leyla war zutiefst schockiert. „Er hat auch mit deiner Mutter …“
„Nein, so war das nicht. Oder doch …“ Maya entschied, dass sie deutlicher werden musste, damit man verstand, was sie meinte. „Wiebke ist mit siebzehn höchstwahrscheinlich von Enrico Da Verde geschwängert worden, und hat mich nach der Geburt meiner Großmutter überlassen, damit die mich aufzieht. Ich hatte bis heute keine Ahnung davon, weißt du. Und jetzt …“
„Ach du heiliges Kanonenrohr!“
Der überraschte Ausruf ihrer Freundin ließ Maya unvermittelt zusammenfahren, was dazu führte, dass sie den Brief der Schwester unabsichtlich zusammenknüllte.
„Ich bin absolut platt.“ Leyla ließ sich auf die Couch fallen, schaffte es dabei aber, den Kaffee nicht zu verschütten, den sie immer noch in Händen hielt. Doch sobald sie saß, stellte sie die Becher ab, damit sie den Brief aus Mayas Fingern nehmen konnte. „Hätte nie gedacht, dass es da ein Geheimnis um dich geben könnte, das außerdem auch noch so aufregend ist!“ Das Papier glatt streichend, begann sie zu lesen. „Klingt wie ’n billiger Roman, und ist dabei nichts als die Wahrheit! Irre! Wirklich!“ Stellte sie nach der Lektüre der ersten Seite fest. „Deine sogenannte Schwester war eine ganz durchtriebene, weißt du! Tat immer anständig und ehrbar, und ist doch im Grunde nichts anderes gewesen als das Betthäschen eines hochrangigen aber verheirateten Mannes!“
„Was? Sag mal, kannst du vielleicht mal Klartext reden, damit ich auch verstehen kann, wovon du da faselst!“ Maya war nun noch verwirrter als zuvor.
„Du weißt nicht, wer Enrico Da Verde war?“ Leylas verblüffte Miene ließ erkennen, dass sie in der Tat nicht fassen konnte, dass jemand so unwissend sein sollte.
„Ein Italiener. Na und?“ Im Gegensatz zur Freundin, die praktisch über alle bekannten Persönlichkeiten der sogenannten Highsociety bestens informiert war, hatte sich Maya noch nie sonderlich für Klatsch und Tratsch interessiert, der in der Regenbogenpresse veröffentlicht wurde. „Was ist an ihm so besonders? Er ist ein Mann, ja. Möglicherweise …“ Plötzlich stand ihr das Schwarz-Weiß-Foto auf Wiebkes Kommode so deutlich vor Augen, dass sie jede Einzelheit des darauf abgebildeten Jungmännergesichtes hätte exakt beschreiben können. „Nein, bestimmt ist er ein perfekt aussehendes Exemplar des männlichen Geschlechts. Aber was ist daran so bemerkenswert?“
„Er war einer der einflussreichsten Männer Italiens!“ Leyla war zutiefst empört über so viel Gleichgültigkeit. „Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann und außerdem einer der begehrtesten Playboys, obwohl er verheiratet war. Man hat ihm viele Affären nachgesagt, aber keine davon auch nur annähernd beweisen können. War offenbar ein Genie im Vertuschen seiner Techtelmechtel, denn sonst hätte er niemals ein Verhältnis geheim halten könne, dass über mehr als zwanzig Jahre andauerte!“
„War! War! Ich hör’ immer nur, war!“ Jetzt, wo ein paar Stichworte gefallen waren, erinnerte sich Maya an den gut aussehenden Mittvierziger, der während der letzten Wochen wiederholt im Fernsehen gezeigt wurde. Seine maskenhaft freundliche Miene war ihr alles andere als anziehend erschienen, wobei ihr erst jetzt aufging, dass er wohl allein für die Medien ein bewusst produziertes Grinsen zur Schau trug, sobald er eine Kamera auf sich gerichtet wusste. Wurde ihm nicht irgendeine illegale Sache vorgeworfen? „Was ist mit ihm?“
„Du weißt es nicht? Hast du denn seit Sonntag nicht mehr ferngesehen?“, fragte Leyla verblüfft.
„Du meinst …“ Maya schluckte schwer. Gleichzeitig fühlt sie ihre Hände zu Eisklötzen werden.
„Tot, ja“, bestätigte Leyla ernst. „Ist letzten Sonntag in Turin schwer verletzt worden und am Montag dann doch gestorben, obwohl man ihm zunächst gute Prognosen gestellt hat. Man munkelt, die Mafia hätte ihre Hände im Spiel gehabt. Andere sagen, es sei jemand aus seiner nächsten Umgebung gewesen. Wie auch immer. Jetzt ist er nicht mehr da, was dich zu Vollwaisen macht.“
Stimmt, dachte Maya bestürzt. Sie hatte nicht nur ihre vermeintliche Schwester, sondern auch ihre Mutter und den unbekannten Vater verloren, bevor sie ihn überhaupt hatte kennenlernen können. Nicht dass sie unbedingt Wert darauf gelegt hätte, ihm von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Aber sie hätte doch gerne gewusst, was für ein Mensch er gewesen war und welche genetischen Attribute sie vom ihm geerbt hatte. Andererseits … Wenn er tatsächlich so gewesen war, wie sie ihn sich jetzt vorstellte – egoistisch, rücksichtslos und möglicherweise kriminell – wollte sie gar keine Gemeinsamkeiten finden!
Es war schon fast Mitternacht, als Maya aufstand, um sich zu verabschieden. Obwohl Leyla mehrfach anbot, ihre Couch ein weiteres Mal zum Gästebett umfunktionieren zu wollen, lehnte sie freundlich aber bestimmt ab, weil sie heim wollte, um ungestört über die neuesten Erkenntnisse und ihre eigene Zukunft nachdenken zu können.
Fünf Minuten, mehr brauchte Maya nicht bis nach Hause. Doch in dieser Nacht wollte es ihr scheinen, als müsse sie eine Ewigkeit laufen, wobei sie ständig das Gefühl hatte, aus jedem dunklen Winkel heraus beobachtet zu werden. Endlich erreichte sie das Mietshaus, in dem ihre Wohnung lag. Allerdings war sie kaum da, da fand sie die Eingangstür sperrangelweit offen, und ärgerte sich wieder einmal über die Nachlässigkeit ihrer Mitbewohner, die nicht nur Tippelbrüdern ungehinderten Einlass gewährten, sondern auch anderen, nicht so harmlosen Zeitgenossen.
Leise vor sich hin schimpfend, knipste sie die Treppenhausbeleuchtung an und drückte anschließend die Haustür hinter sich ins Schloss. Gleich darauf stieg sie die Treppe zu ihrem Appartement hinauf. Dort angekommen, kramte sie den Schlüssel hervor, um die Wohnungstür zu öffnen. Ihre Hand war nur ein paar Zentimeter vor dem Lichtschalter entfernt, der gleich neben dem Türrahmen war. Dennoch blieb sie mit einem Mal wie versteinert stehen, denn der Geruch, der ihr aus dem Appartement entgegenschlug, versetzte sie augenblicklich in höchste Alarmbereitschaft. Einen weiteren vorsichtigen Atemzug nehmend, fand sie ihren ersten Verdacht bestätigt, und erinnerte sich jäh an den Ausspruch ihres Vermieters, der mit fristloser Kündigung gedroht hatte, sollte sie je vergessen, ihren Gas-Herd abzustellen. Und jetzt war es doch passiert, schoss es ihr durch den Sinn. Sie hatte das verdammte Ding tatsächlich angelassen! Es würde niemanden interessieren, dass das Gerät bestimmt schon drei Jahrzehnte auf dem Buckel und daher kein automatisches Abschalt-Ventil hatte, sodass das Gas trotz erloschener Flamme weiterhin ausströmte. Allein die Tatsache, dass sie leichtsinnig und unachtsam gewesen war, würde für einen Rausschmiss reichen!
Während Maya noch überlegte, schaltete die automatisch gesteuerte Zeitschaltuhr die Treppenhausbeleuchtung ab, was sie zum einen erschrocken zusammenfahren ließ, gleichzeitig aber auch zum Handeln trieb. Also presste sie den unteren Teil ihres T-Shirts über Mund und Nase, und pirschte sich dann vorsichtig durch den stockfinsteren Flur ihres Appartements. Im Hauptraum der Wohnung angekommen, der jetzt durch das hereinfallende Mondlicht nur schemenhaft ausgeleuchtet wurde, eilte sie zum Fenster, um es sogleich aufzustoßen. Gleich darauf streckte sie den Kopf hinaus, um ein paar Mal durchzuatmen. Danach tappte sie in die Küchenecke, um den Haupthahn abzudrehen, der sowohl die Gaszufuhr zum Herd als auch zu der Etagen-Therme regulierte. Anschließend tastete sie sich wieder aus der Wohnung hinaus, mit der Absicht, das Gas zunächst ein wenig verfliegen zu lassen, bevor sie wieder hineinging. Weil sie sich aber nach wie vor nicht traute, den Lichtschalter zu betätigen, der die Treppenhausbeleuchtung erneut in Gang gesetzt hätte, ging sie praktisch blind in die Dunkelheit hinein. Im Grunde war das kein Problem für sie, denn sie befand sich ja in einer gewohnten Umgebung. Und doch stolperte sie plötzlich über irgendein Hindernis und stürzte daraufhin kopfüber die zehn Stufen hinunter, die eine halbe Etage tiefer in einer Treppenkehre endeten.