Читать книгу Liebe ist kein Beinbruch - Katja Freeh, u.a. - Страница 4

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»Jetzt hast du es also geschafft.« Tanjas Stimme klang ätzend wie Säure, als sie den Rücken der hochgewachsenen Frau ansprach, die vor ihr auf dem Gang stand und die sie auch von hinten überall erkannt hätte. »Was ist da jetzt angebracht zu sagen? Herzliches Beileid oder Herzlichen Glückwunsch?«

Der Rücken bewegte sich nicht, zeigte nicht, ob die Frau Tanja überhaupt gehört hatte. Doch dann drehte die Gestalt sich um. »Was du willst«, erwiderte Charlie kühl. »Du kannst auch gar nichts sagen.«

»Wäre vielleicht das Beste.« Tanja blickte sie an, ein wenig von unten herauf, wie immer, weil Charlie so viel größer war als sie.

Charlie trug eine dunkle Sonnenbrille, hier im Haus, und auch wenn die Gänge der Klinik strahlend weiß und neonhell erleuchtet waren, wäre das sicherlich nicht nötig gewesen. Hinter der Brille wirkte sie etwas blass. Aber da konnte Tanja sich auch täuschen. Durchgemachte Nächte hatten Charlie schon oft blass aussehen lassen, ohne dass das etwas zu bedeuten hatte. Daran konnte Tanja sich noch gut erinnern.

»Ja, wäre vielleicht das Beste«, wiederholte Charlie tonlos, ohne den aufmüpfigen Widerspruchsgeist oder die süffisante Amüsiertheit in der Stimme, die ihr sonst so eigen war.

»Willst du zu deiner Tante?«, fragte Tanja. Auf einmal war sie leicht verunsichert. Charlie wirkte fast wie eine Statue, und das passte so überhaupt nicht zu ihr. »Sie ist gerade noch auf Visite. Wird aber gleich kommen.« Fragend legte sie den Kopf zur Seite. »Du willst sie nicht schon wieder anpumpen, oder? Das Geld deiner . . . Frau kann so schnell doch noch nicht verbraucht sein. Sie ist doch gerade erst gestorben. Und sie war fast noch reicher als du damals, nachdem du geerbt hattest.«

Charlies Gesichtsausdruck hinter der Sonnenbrille blieb starr wie eine Maske. »Ja, das war sie«, bestätigte sie genauso tonlos wie zuvor. »Und nein, das Geld ist noch nicht verbraucht. Ich bin nicht hier, um Tante Petra anzupumpen.«

Diese so emotionslosen Mitteilungen, die fast genauso hätten klingen können, wären sie von der Roboterstimme der Telefonauskunft gekommen, verunsicherten Tanja noch mehr. Das war nicht Charlie, die da vor ihr stand. Charlie hätte ganz anders reagiert. Für Charlie war die ganze Welt ein Witz, nichts Ernstzunehmendes, nur für ihr eigenes Vergnügen da. Aber diese Gestalt hier, die wie Charlie aussah und wie Charlie sprach, aber überhaupt nicht wie Charlie wirkte, schien das Wort Vergnügen gar nicht zu kennen.

Erneut öffnete Tanja den Mund, um etwas zu sagen, aber da wurde sie von hinten unterbrochen.

»Ach Charlie«, begrüßte Dr. Petra Lüders, die mit einem Pulk weißbekittelter Ärztinnen und Ärzte hinter sich den Gang entlang kam, ihre Nichte. »Du bist schon da.« Sie drehte sich kurz um. »Das wär’s dann mit der Visite, meine Damen und Herren. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

Unverständliches Murmeln und bestätigendes Nicken antworteten ihr, und der Pulk löste sich auf.

Professor Lüders kam zu Charlie und Tanja herüber. »Wie geht es dir?«, fragte sie Charlie musternd. »Du bist gerade erst angekommen?«

»Ja. Von Fidschi.« Charlie nickte. »Tina –« Sie brach ab, und Tanja kam es so vor, als ob sie schlucken musste, bevor sie weitersprechen konnte. Aber das konnte nicht sein. Charlie? Betroffen von irgendetwas? »Tina«, setzte Charlie erneut an, »wird gerade in die Kapelle gebracht.«

»Sie war mit dir im Flugzeug?« Petra Lüders legte eine Hand auf Charlies Arm.

»Ja, im . . .« Ein leichtes Zögern, dann setzte Charlie fort: »Im Frachtraum.«

»Natürlich.« Petra Lüders nickte. »Komm. Wir gehen in mein Büro.«

Da Tanja nicht dazu eingeladen wurde, ging sie nicht mit, aber sie blickte den beiden nach, als sie den Gang entlang nebeneinanderher zum Büro der Chefärztin gingen. Charlie überragte ihre Tante weniger, als sie Tanja überragte – schließlich gehörten sie zur selben Familie –, aber dennoch erschien es Tanja so, als wären Charlies Schultern, die sonst so gerade wie ein Kleiderständer waren, etwas eingesunken. Gleichzeitig wirkte sie steif wie eine Puppe.

Aber das kam bestimmt nur vom ewigen Sitzen im Flugzeug. Von Fidschi bis nach Deutschland war es schließlich ein elend langer Flug. Da konnten einem schon alle Glieder einschlafen. Und offenbar war Charlie direkt vom Flugplatz hierhergekommen. Ihre Kleidung sah etwas zerknautscht aus, und außerdem war sie viel zu leicht und luftig angezogen für das deutsche Klima.

Tanjas Gedanken schweiften ab zum letzten Tag, als sie Charlie gesehen hatte. Da war alles ganz anders gewesen. Da war Charlie noch Charlie gewesen. Unverschämt, völlig auf sich selbst bezogen und sich keiner Schuld bewusst, weil sie eine Frau nur wegen ihres Geldes heiraten wollte. Was sie dann ja auch getan hatte.

Und jetzt war diese Frau tot. Was vorauszusehen gewesen war, weil sie schon todkrank gewesen war, als Charlie sie heiratete. Da hatte sie nur noch ein paar Monate zu leben gehabt. Diese paar Monate waren jetzt um, und Charlie war von ihrer Hochzeits-Weltreise zurück. Als Witwe.

Allerdings hätte Tanja sich diese Rückkehr fröhlicher vorgestellt. So wie Charlie immer gewesen war, wenn sie erreicht hatte, was sie wollte. Und was hatte sie schon nicht erreicht? Zuerst mit ihrem Geld und dann mit ihrem Charme. Manche hatten weder das eine noch das andere und andere hatten nur eins von beidem, aber Charlie hatte einfach alles. Immer alles gehabt. Von Kindheit an. Und dementsprechend verhielt sie sich auch. Sie wusste gar nicht, was Verlieren hieß, was Verzichten hieß, was Arbeit hieß, was Verpflichtung hieß oder Bindung. Sie war völlig bindungsunfähig, das hatte Tanja am eigenen Leib erfahren.

Aber Bindungsfähigkeit, Engagement, Verantwortungsbewusstsein, Zuneigung oder gar Liebe – das alles hatte es ja für diese Ehe nicht gebraucht. Bettina Hersbach war Charlie zum Opfer gefallen wie das sprichwörtliche Lamm. Sie hatte gar nicht gewusst, wie ihr geschah, hatte nicht gewusst, was Charlie wirklich von ihr wollte, hatte Charlies gespielte Zuneigung für echt gehalten.

Tanja seufzte. Hoffentlich hatte diese ihre Überzeugung bis zum Schluss angehalten. Hoffentlich hatte Charlie die ihr nicht noch ganz am Ende genommen, aus dieser Gleichgültigkeit heraus, mit der sie allem gegenüberstand. Das hätte Tanja Bettina Hersbach nicht gewünscht. Zwar hatte sie Charlies kurzzeitige Ehefrau nur flüchtig als Patientin hier in der Klinik kennengelernt, aber sie hatte sie auf Anhieb gemocht. Bettina Hersbach war die Art Mensch gewesen, die jeder nur mögen konnte. Etwas unbedarft, was das Leben betraf vielleicht, aber das war sie selbst, Tanja, auch einmal gewesen. Bevor sie Charlie getroffen hatte.

Ihre Kiefer pressten sich zusammen. Ja, bevor sie Charlie getroffen hatte, hatte sie tatsächlich noch an Liebe geglaubt, an echte Zuneigung, daran, dass man sich die Wahrheit sagte, dass man sich aufeinander verlassen konnte, dass man sich nicht gegenseitig belog und betrog, sobald sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu ergab.

Aber so eine Beziehung hatte Charlie nie im Sinn gehabt. So eine Art von Beziehung kannte sie gar nicht. Gar keine Art von Beziehung. Für sie war alles beziehungslos.

Nein, das stimmte nicht, korrigierte Tanja sich in Gedanken. Eine Art von Beziehung gab es für Charlie immer: die Beziehung zu sich selbst. Die war äußerst stabil.

Sie sah Charlie und Professor Lüders jetzt hinter deren Bürotür verschwinden. Weil das Büro ein paar Meter entfernt lag, lief das alles lautlos ab wie in einem Stummfilm. Oder sprachen sie tatsächlich nicht miteinander? Hatte ›Tante Petra‹ Charlie immer noch nicht verziehen?

Das war gut möglich, denn so lange war es ja noch nicht her, dass Professor Lüders ihrer Nichte große Vorwürfe gemacht hatte. Dass sie ihr eine Standpauke nach der anderen gehalten hatte, und zum Schluss die schwerwiegendste, die wegen ihrer Hochzeit mit einer Frau, die bald sterben musste und die Charlie nur heiratete, damit sie sie beerben konnte.

Aber darüber, was nun in diesem Büro besprochen wurde, würde Tanja wohl nichts erfahren, denn die Türen waren schalldicht.

»Dr. Kesten?« Eine Stimme sprach sie von hinten an, während sie immer noch sinnend dastand. Heute kamen irgendwie alle Stimmen von hinten.

»Ja?« Tanja drehte sich um.

»Können Sie gerade mal schauen?« Eine Krankenschwester blickte sie professionell besorgt an. »Frau Köhler –«

»Schon wieder?« Tanja ließ sie gar nicht ausreden, sondern unterbrach sie, während sie ein Seufzen unterdrückte.

»Ja, schon wieder«, bestätigte die Krankenschwester nüchtern. »Sie hat auch die nächste Zimmernachbarin äußerst rücksichtslos behandelt. Ich weiß wirklich nicht, wo ich sie noch einquartieren soll.«

»Da kann ich aber auch nichts machen«, sagte Tanja.

»Doch«, widersprach die Krankenschwester. »Sie können sie entlassen.«

»Entlassen?« Tanja runzelte die Stirn. »Aber sie ist noch nicht soweit. Nach der OP sollte sie noch mindestens eine Woche –«

»Sollte sie«, unterbrach diesmal die Krankenschwester sie. »Aber sie will entlassen werden. Und ehrlich gesagt: Hier hätte niemand etwas dagegen.« Sie hob die Augenbrauen. »Wir können unsere Nerven alle für was anderes gebrauchen.«

»Kann ich verstehen.« Tanja nickte. »Sie will also auf eigenes Risiko entlassen werden?«

Die Krankenschwester nickte. »Nachdem ich sie gebeten hatte, auf ihre Zimmernachbarin Rücksicht zu nehmen, die gestern operiert wurde, hat sie mal wieder einen ihrer Anfälle gekriegt. Warum sie Rücksicht nehmen sollte. Auf sie würde ja schließlich auch niemand Rücksicht nehmen.« Die Krankenschwester schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dann kam auch noch ihr Mann zu Besuch mit ihrem kleinen Sohn. Der Kleine kann ja nichts dafür, aber er ist sehr laut und schlecht erzogen«, sie seufzte, »kein Wunder bei der Mutter, und hat im Zimmer Krach gemacht. Die Frischoperierte hatte gerade Besuch von einer Freundin, und die ging ganz ruhig zu dem Kleinen hin und sagte freundlich lächelnd: ›Pst. Leise, Kevin. Nicht so laut.‹ Der Kleine guckte sie nur verständnislos an, war dann aber still, aber daraufhin ist Frau Köhler aufgesprungen und meinte, sie ließe sich jetzt entlassen, das wäre eine Unverschämtheit, ihrem Sohn irgendetwas zu verbieten. Sie wäre fast noch auf die freundliche Besucherin losgegangen.«

»Was?« Tanja konnte es nicht fassen, obwohl sie mittlerweile schon einiges von Frau Köhler gehört hatte.

»Ich musste richtig dazwischengehen.« Die Krankenschwester nickte. »Und dann haben sie zu dritt das Zimmer verlassen. Der Mann hatte einen quietschenden Kinderwagen für den Kleinen mitgebracht, dessen Geräusch schon beim Reinfahren allen durch Mark und Bein gegangen war. Und statt den wenigstens beim Hinausfahren aus Rücksicht anzuheben – der Kleine lief ja nebenher –, hat er glaube ich noch mehr auf die Griffe gedrückt, damit es noch mehr quietscht und die arme Operierte, die sich erholen soll, bloß nicht weiterschlafen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ja normalerweise nicht so, aber wenn es eine Definition von asozial gibt, dann trifft die auf diese Familie zu.«

Dazu sagte Tanja lieber nichts. Die Krankenschwestern hatten täglich von morgens bis abends mit den Patienten zu tun, und sie konnte Schwester Ingrids Unmut verstehen. Frau Köhler war wirklich eine äußerst rücksichtslose und uneinsichtige Patientin. Aber wahrscheinlich stammte sie aus einer Familie, in der das normal war, und konnte deshalb nicht verstehen, dass andere sich darüber aufregten. Oder nicht einfach genauso rücksichtslos waren. Vermutlich erwartete sie das. Und selbst wenn eine Zimmernachbarin schlief, war das für Frau Köhler möglicherweise schon deshalb eine Beleidigung, weil sie sie nicht beachtete.

»Wenn sie das unbedingt will, muss ich sie entlassen«, nickte sie. »Da habe ich gar keine Wahl. Denn in Lebensgefahr ist sie nicht. Das wäre der einzige Grund, warum ich sie zurückhalten könnte.«

»Ich weiß.« Schwester Ingrid sah sie verständnisvoll an. »Sie empfinden es als Ihre Verantwortung, selbst wenn sie den Zettel unterschreibt. Und Sie würden sich als Ärztin Vorwürfe machen, falls dann bei ihr zu Hause etwas passiert und sie mit dem Notarztwagen in die Klinik zurückkommt. Aber es ist nicht Ihre Verantwortung. Frau Köhler ist ein erwachsener Mensch und ist verantwortlich für sich selbst. Dafür haben wir die Formulare ja.«

Schwester Ingrid hätte vom Alter her Tanjas Mutter sein können, und sie hatte sehr viel Erfahrung in ihrem Beruf. Deshalb vertraute Tanja ihr oft mehr als jungen Arztkollegen ihres eigenen Alters, die meinten, sie wüssten mehr als die Krankenschwestern, nur weil sie Ärzte waren.

So sah Tanja sich nicht. Sie hatte im Studium hart gearbeitet, um sich alles an Wissen anzueignen, was sie sich nur aneignen konnte, aber der Umgang mit Patienten kam im Studium praktisch nicht vor. Den hatte sie erst hier in der Klinik gelernt, von älteren, erfahrenen Ärztinnen wie Professor Lüders und von älteren, erfahrenen Krankenschwestern wie Schwester Ingrid.

»Da haben Sie natürlich recht.« Tanja atmete tief durch.

»Sie nehmen sich das einfach immer viel zu sehr zu Herzen, Frau Doktor«, sagte Schwester Ingrid. »Solche Leute sind es nicht wert, dass man sie sich zu Herzen nimmt. Sie haben das gar nicht verdient. Sie sind wie tollwütige Hunde, die um sich beißen. Und die schläfert man ein.«

»Schwester Ingrid!« Entsetzt starrte Tanja sie an.

»So habe ich das ja nicht gemeint«, beruhigte Schwester Ingrid sie sofort, nahm sie am Arm und zog sie mit sich. »Aber den kleinen Jungen, den würde ich ihnen am liebsten wegnehmen. Noch ein paar Jahre, und er ist genauso wie seine Eltern. Oder wenn er anders ist, dann werden sie ihm das Leben zur Hölle machen. Solchen Leuten sollte es echt verboten werden, Kinder zu kriegen.«

»Das kann man wohl kaum verhindern«, sagte Tanja.

Missbilligend schüttelte Schwester Ingrid den Kopf. »Warum gibt es eigentlich keinen Führerschein fürs Kinderkriegen? Und erst, wenn man den bestanden hat, darf man welche haben.«

Tanja musste schmunzeln, wenn sie an so einige Mütter dachte, die sie kannte. Gute Mütter eigentlich, aber wenn die was von Elternführerschein gehört hätten . . . »Den Vorschlag können Sie ja mal machen«, sagte sie.

»Sie würden den Führerschein sofort bestehen.« Zuversichtlich strahlte Schwester Ingrid sie an. »Wollen Sie es nicht mal versuchen?«

Schwester Ingrid war selbst Mutter von zwei Töchtern, und Tanja hatte immer wieder das Gefühl, dass sie es gern gesehen hätte, wenn Tanja es ihr nachgemacht hätte. Oder dass sie Tanja als eine Art dritte Tochter betrachtete, die es ihrer älteren Tochter hätte nachtun sollen, die Schwester Ingrid bereits ein Enkelkind geschenkt hatte. Auch wenn Schwester Ingrid – energiegeladen, wie sie war – überhaupt nicht wie eine Großmutter aussah.

»Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich mein Studium abgeschlossen habe«, erwiderte Tanja lächelnd. »Und ich habe noch viel zu lernen. Die ganzen Zusatzausbildungen, Weiterbildungen . . .«

Schwester Ingrid winkte ab. »Wenn Sie darauf warten wollen, bis Sie mit dem allen fertig sind, da können Sie alt und grau werden drüber«, meinte sie wegwerfend. »Das hört doch nie auf. Oder wollen Sie gar keine Kinder?« Das war für Schwester Ingrid anscheinend unvorstellbar.

So richtig hatte Tanja noch nicht darüber nachgedacht – sie war in der Tat viel zu sehr mit ihrer Ausbildung beschäftigt gewesen, und ein Medizinstudium war nun einmal lang –, und auch jetzt sah sie keinen Anlass dazu. Denn um ein Kind großzuziehen, dazu musste man erst einmal die richtige Frau haben, mit der man das tun wollte und konnte, und die hatte sie noch nicht gefunden.

»Na, das wird ja mal Zeit, dass Se endlich komm’n!«, keifte es ihr in diesem Augenblick entgegen. »Se woll’n wohl nich’, dass ich geh’, was? Ham Se mich so liebjewonn’n?« Ein hämisches Lachen folgte.

»Die Ärzte haben noch etwas anderes zu tun, als sich nur um Sie zu kümmern, Frau Köhler«, wies Schwester Ingrid sie zurecht. »Sind Sie fertig? Alles aus dem Zimmer raus? Dann können Sie gleich gehen, sobald die Frau Doktor Ihre Entlassungspapiere unterschrieben hat.«

Aus der Krankenakte wusste Tanja, dass Frau Köhler gerade einmal einunddreißig Jahre alt war, aber man hätte sie für wesentlich älter halten können. Um ihre Mundwinkel hatten sich zwei tiefe, grämliche Falten eingegraben, und an ihre eigentlich dunklen Schläfen hatten sich sogar schon ein paar graue Haare verirrt. Wahrscheinlich hatte sie kein einfaches Leben gehabt. Aber das war noch lange kein Grund, sich so zu benehmen.

»Wollen Sie sich das nicht noch einmal überlegen, Frau Köhler?«, sprach sie die Patientin, die aggressiv aufgebaut vor dem Schwesternzimmer stand, dennoch freundlich an. »Ich kann es aus ärztlicher Sicht nicht empfehlen, dass Sie die Klinik jetzt schon verlassen. Sie sollten sich noch ein paar Tage von der Operation erholen.«

»Erhol’n? Erhol’n? Was mein’n Se denn damit?« Frau Köhlers Augen lagen tief in den Höhlen und starrten Tanja daraus dunkel drohend an. »Mein’n Se etwa, hier kann mer sich erhol’n? In diese’n Irrenhaus? Wo man nie in Ruh’ jelassen wird? Und dann wird mer auch noch aufs Zimmer mit irjendwelche Idioten jelegt?«

Flehend blickten Schwester Ingrids Augen Tanja an. Unterschreiben Sie doch endlich! schienen sie zu sagen. Damit wir diese Xanthippe los sind!

»Es ist meine Pflicht, Sie vor Ihrer Entlassung auf eigene Verantwortung auf das Risiko hinzuweisen, das Sie damit eingehen«, sagte Tanja. »Es könnten Blutungen auftreten, die Wunde könnte schlecht verheilen oder wieder aufgehen, auch Thrombosegefahr besteht. Ich kann Ihnen nur raten, zu Hause auch weiterhin die Thrombosestrümpfe zu tragen, die Sie hier vom Krankenhaus bekommen haben.«

»Dat enge Zeuch?« Höhnisch lachend warf Frau Köhler den Kopf in den Nacken. »Nee, die hab’ ich ja schon hier nich’ jetrag’n, wenn de Schwester ausm Zimmer war. Da wer’ ich se ze Hause trag’n. Davon träum’n Se wohl nur, Frol’n Dokter.«

Innerlich seufzte Tanja tief auf, aber äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. Diese Frau war wirklich unbelehrbar. Offenbar empfand sie jedes noch so gutgemeinte Hilfsangebot als Angriff. Ihr war wohl nicht zu helfen. Allerdings würden Tanja oder ihre Kollegen ihr dann wieder helfen müssen, wenn irgendetwas schiefging. Aber daran konnte sie jetzt nichts ändern. Sie hoffte nur, dass nichts schiefgehen würde, griff nach dem Formular, das schon fertig vorbereitet im Fenster des Schwesternzimmers lag, und unterschrieb.

Gleich darauf hörte sie das Quietschen, das Schwester Ingrid beschrieben hatte. Unverschämt grinsend schob ein Mann, der kaum älter sein konnte als dreißig, einen Kinderwagen an ihnen vorbei, in dem die Koffer seiner Frau lagen. Ein kleiner Junge, der kaum das Laufen gelernt hatte, stolperte neben dem Wagen her, und er sah schon sehr müde aus. Er hätte eigentlich in den Wagen gehört, aber offenbar war sein Vater zu faul, die Koffer seiner Frau zu tragen, und auch zu faul, seinen Sohn zu tragen. Deshalb musste er laufen, während Papa sich bequem auf den Griffen des quietschenden Kinderwagens, der sich glücklicherweise jetzt aus Hörweite entfernte, abstützte.

Tanja kribbelte es in den Fingern, den Jungen an sich zu reißen, ihn nicht mit diesen unfähigen Eltern gehen zu lassen, aber was hätte das gebracht? Sie nahm sich vor, das Jugendamt zu informieren. Doch die waren so überlastet, solange der Junge nicht wenigstens halbtot war, würden sie sich um nichts kümmern. Und vielleicht noch nicht einmal dann. Dann kam höchstens die Polizei, weil es dann eigentlich schon zu spät war.

»Oh, wenn ich könnte . . .« Schwester Ingrid schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen zu sein wie Tanja, denn sie blickte dem jetzt nicht mehr hörbar quietschenden Kinderwagen mit mahlenden Kiefern hinterher. »Diesen Kerl würde ich am liebsten die Treppe runterstoßen!«

»Leider können wir nicht«, schloss Tanja sich ihr mit einem Seufzen an. »Für uns ist die Sache hier erledigt.« Sie schob das Formular durch die Aussparung in der Glasscheibe. »Legen Sie das ab.«

Verabschiedend nickte Tanja Schwester Ingrid zu und drehte sich um. Fast erstarrte sie, als sie sah, wie eine Gestalt auf sie zukam. Eine bekannte Gestalt. Eine hochgewachsene Gestalt, die jetzt mit den eingesunkenen Schultern gar nicht mehr so hochgewachsen aussah. Aber es war Charlie. Eindeutig Charlie.

Auf einmal verschwamm das Bild leicht, und der Gang wirkte verändert. Nur ein wenig. Heller. Freundlicher. Strahlender. Es war eine andere Uhrzeit, ein anderer Tag. Es war der Tag, an dem Tanja Charlie zum ersten Mal so auf sich hatte zukommen sehen. Der Tag, an dem sie Charlie kennengelernt hatte.

Wahrscheinlich, nachdem sie ihre Tante wieder einmal angepumpt hatte, aber das hatte Tanja damals noch nicht gewusst. Sie hatte nur Charlie gesehen, ihr strahlendes Lächeln, ihren schwingenden Gang, ihre so ungeheuer berauschende Ausstrahlung.

Es hatte sie völlig vom Hocker gehauen. Diese Charlies Ausstrahlung hatte Tanja so sehr bezaubert, dass sie für einen Augenblick fast in eine Trance verfiel, während Charlie Schritt für Schritt, Schwung für Schwung ihrer langen Beine auf sie zukam. Charlie hatte so etwas Leichtes, Unbeschwertes ausgestrahlt, wie Tanja es in ihrem Leben nie verspürt hatte. Sie war immer ein sehr ernster Mensch gewesen.

»Meine Tante will dich sprechen«, sagte Charlie in diesem Moment, fast nur im Vorbeigehen. »Du sollst zu ihr kommen.«

Ihre Stimme klang rau. Aber nicht auf die Art rau, die Tanja kannte, auf die Art rau, die anzeigte, dass sie Tanja verführen wollte, dass sie etwas höchst Erotisches mit ihr vorhatte. Nein, so klang ihre Stimme nicht. Sie klang auf eine Art rau, die etwas Schmerzhaftes an sich hatte. Als ob sie ihre Stimmbänder überanstrengt hätte und deshalb nur noch mit Mühe sprechen konnte.

Sie trug immer noch die Sonnenbrille, daher konnte Tanja nicht sagen, ob sie sie überhaupt ansah, während sie mit ihr sprach. Auf jeden Fall hielt sie sich nicht auf, ging gleich weiter zum Fahrstuhl.

»Charlie . . .«, setzte Tanja an, während sie sich auf dem Absatz wie auf einer Spindel umdrehte, um Charlie mit ihren Blicken folgen zu können.

Doch Charlie drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, ging einfach weiter, als hätte sie jemand wie eine Puppe aufgezogen, und sie hätte keinen Einfluss darauf, wann das Laufwerk abgelaufen war.

Kurz überlegte Tanja, ob sie ihr nachgehen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Sie war immer noch im Dienst, und Professor Lüders war ihre Chefin. Eventuell gab es einen medizinischen Notfall oder sie sollte sonst eine Aufgabe übernehmen, die ihre berufliche Pflicht war. Das mit Charlie – das war nur Privatsache, nicht so wichtig.

Also ging sie schnell den Gang in die Richtung hinunter, aus der sie zuvor mit Schwester Ingrid gekommen war, die entgegengesetzte Richtung von Charlies.

Nachdem sie angeklopft hatte und hereingebeten worden war, blickte sie Professor Lüders fragend an. »Sie wollten mich sprechen?«

Kurz schaute Petra Lüders sie von hinter ihrem Schreibtisch an, als versuchte sie herauszufinden, wer sie war. Was nicht sein konnte, da sie sie kaum verwechselt haben konnte. »Meine Nichte hat es Ihnen gesagt? Sie haben sich getroffen?«, fragte sie zurück.

»Ja.« Tanja nickte. »Ich musste eine Patientin entlassen –« Sie brach ab. Deshalb hatte Petra Lüders sie bestimmt nicht kommen lassen. Das war Krankenhausalltag.

»Sie wissen, dass –« Petra Lüders stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. »Sie wissen, dass Frau Hersbach gestorben ist? Frau Flemming, meine ich«, korrigierte sie sich sofort. »Sie war ja mit meiner Nichte verheiratet.«

In Tanjas Hals hatte sich während der paar Worte, die Charlies Tante gesagt hatte, ein Frosch gebildet. Deshalb musste sie sich zuerst räuspern, bevor sie sprechen konnte. »Ja«, sagte sie. »Ja, das weiß ich. Wir . . .«, sie zögerte, »wir wussten ja, dass das passieren würde.«

»Hmhm.« Auch wenn die Chefärztin mit dem Rücken zu ihr stand, sah Tanja, wie sie nickte. »Ja, das wussten wir. Es war nicht zu verhindern.« Sie drehte sich zu Tanja um. »Was ich vielleicht hätte verhindern sollen, wäre gewesen, dass meine Nichte jetzt ihre Witwe ist.«

Tanja wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das waren doch eher Familienangelegenheiten, die sie nichts angingen. Was wollte Professor Lüders von ihr?

»Sie und Charlie . . .« Wieder musterte Petra Lüders sie, als versuchte sie herauszufinden, wen sie da vor sich hatte. »Sie und Charlie«, setzte sie noch einmal an, »waren einmal . . . enger befreundet, nicht wahr?«

Der Frosch in Tanjas Hals kehrte zurück. »Ja.« Das kam mehr wie ein Krächzen heraus. Deshalb räusperte sie sich erneut. »Aber das ist schon lange her.«

Ein leises Lächeln schlich sich in Professor Lüders’ Mundwinkel. »In Ihrem Alter ist das vielleicht lange. Von meiner Warte aus betrachtet war das ziemlich kurz vor Charlies Hochzeit mit Bettina Hersbach.«

Tanja schluckte. »So könnte man es natürlich auch sehen«, brachte sie mühsam hervor. »Aber das hat keine Bedeutung . . . mehr. Es ist auf jeden Fall viel passiert seither.«

»Sie haben eine neue Beziehung?« Die Chefärztin fragte das so direkt, und ihr Blick haftete wie ein Bühnenstrahler auf Tanja, dass ihr unter diesem Blick die Knie weich wurden.

»N-nein«, antwortete sie zögernd. »Das nicht. Ich habe keine Zeit für . . . so etwas. Ich bin ja fast Tag und Nacht hier in der Klinik.«

»Gut«, sagte Professor Lüders. Sie lächelte Tanja ziemlich warm an, fast als ob sie ihre Tante wäre, nicht Charlies. »Dann hätte ich eine große Bitte an Sie: Würden Sie mich auf die Beerdigung begleiten? Schließlich war Frau Hersbach auch Ihre Patientin, nicht nur meine.«

»Be-erdigung?«, stammelte Tanja.

»Nun ja. Die wird demnächst stattfinden«, führte Professor Lüders ihre Bitte aus. »In aller Stille, denn Bettina Hersbach hatte keine Familie mehr. Außer meiner Nichte. Es wird also kaum jemand dort sein. Ein paar Kollegen von Frau Hersbach vielleicht. Aber da sie meistens allein gearbeitet hat, wenn sie Bilder restaurierte, wird sich auch das in Grenzen halten. Ich fände es furchtbar, wenn meine Nichte allein am Grab stünde, deshalb habe ich ihr versprochen, da zu sein.«

Ehrlich gesagt wunderte Tanja sich, dass Charlie überhaupt vorhatte, am Grab zu stehen. Sie hätte eher gedacht, dass sie sich gleich wieder in das Nachtleben stürzen würde, das nur für relativ kurze Zeit durch ihre überstürzte Heirat unterbrochen worden war.

Vier Monate. Lediglich vier Monate. Professor Lüders hatte Bettina Hersbach bis zu einem Jahr gegeben, aber das war nur rein theoretisch gewesen. Wenn sie sich nicht anstrengte, wenn sie genügend Luft und Sonne bekam, wenn sie auf ihre Gesundheit achtete.

Luft und Sonne hatte sie sicherlich so viel sie wollte tanken können, auf der Weltreise, die Charlie mit ihr gemacht hatte, auch wenn sie sie nicht mehr hatte beenden können, aber keine Anstrengung? Charlie konnte sehr anstrengend sein, besonders in einer Beziehung. Bestimmt hatte sie keinerlei Rücksicht auf ihre junge, kranke Frau genommen.

Und Bettina Hersbach hatte nichts davon gewusst, wie krank sie war. Wie nahe dem Tode sie war. Sie war jung gewesen und hatte ganz sicher nicht auf ihre Gesundheit geachtet. Warum sollte sie auch? In ihrem Alter? Und mit Charlie an ihrer Seite, die sie wahrscheinlich von einem Tanzschuppen zum nächsten geschleppt hatte, von einer Party zur anderen. Und überall war Charlie garantiert der Star gewesen, die Discokugel in der Mitte, um die sich alles drehte. Auch Bettina Hersbach. Die sich dadurch übernommen hatte.

Und da sollte sie mit am Grab stehen und quasi Händchen halten? Dafür, dass Charlie ihrer jungen Frau, ihrer sehr reichen jungen Frau, wahrscheinlich keine ruhige Minute gegönnt hatte, um sie möglichst schnell beerben zu können?

Ihr Gesichtsausdruck musste das widerspiegeln, was sie dachte, denn Professor Lüders sagte anteilnehmend: »Sie wollen nicht?« Sie seufzte leicht. »Charlie hat Ihnen sehr wehgetan, nicht wahr?«

Kurz presste Tanja ihre Lippen zusammen. »Vier Monate«, sagte sie. »Nur vier Monate. Sie hatten bis zu einem Jahr prognostiziert.«

Petra Lüders nickte nachdenklich. »Bis zu«, wiederholte sie dann betont. »Das ist schwer einzuschätzen. Das wissen Sie doch selbst.«

»Sie sind aber die beste Ärztin, die ich kenne«, protestierte Tanja. »Und die erfahrenste. Sie irren sich normalerweise nicht.«

Professor Lüders’ Mundwinkel zuckten. »Das klingt, als wäre ich unfehlbar. Eine Göttin in Weiß, wie man das früher für gegeben hielt. Aber so etwas gibt es nicht. Wir alle sind fehlbar. Doch ganz davon abgesehen«, sie lächelte Tanja leicht wehmütig an, »sind Krankheiten manchmal einfach heimtückisch. Nicht berechenbar. Sie werfen all unsere jahrzehntelange Erfahrung über den Haufen, ohne auf irgendwelche Prognosen Rücksicht zu nehmen.«

»Bettina Hersbach war eine ruhige, zurückgezogen lebende junge Frau«, sagte Tanja bitter. »Sie hat alte Bilder restauriert und war glücklich damit. Tanzen ist sie wahrscheinlich nie gegangen, und eine Weltreise von einem Schickimicki-Treffpunkt zum nächsten wäre ihr von selbst nie in den Sinn gekommen. Deshalb hätte sie sich auf einer solchen Reise auch nicht überanstrengen können. Aber Charlie hat sie da durchgezerrt –« Ihre Lippen zitterten so sehr, dass sie abbrechen musste.

»Das denken Sie?« Petra Lüders schaute sie fast mitleidig an.

»Sie nicht?« Jetzt wurde Tanja richtig aufmüpfig, was sie ihrer bewunderten Chefin gegenüber noch nie getan hatte. »Sie haben Frau Hersbach selbst gesagt, sie sollte sich nicht überanstrengen, als sie entlassen wurde. Und mir haben Sie gesagt, dass sie wahrscheinlich viel glücklicher wäre, wenn sie keine Kreuzfahrt machen würde. Dass ihr Beruf ihre Berufung ist und sie nichts anderes braucht. Wenn sie das getan hätte, wenn sie weiterhin nur Bilder restauriert hätte, dann hätte sie sich nicht so kräftezehrend überlastet –«

»Dr. Kesten . . .« Petra Lüders kam auf sie zu und streckte ihre Hände nach Tanja aus. »Sie geben Charlie die Schuld, dass ihre Frau gestorben ist? Das sollten Sie nicht. Als Ärztin, die um Frau Hersbachs Krankheit wusste, schon gar nicht. Und noch weniger aus persönlichen Gründen.«

Wieder musste Tanja schlucken, aber diesmal aus Scham. »Da haben Sie natürlich recht«, sagte sie leise. »Es tut mir leid. Vielleicht hätte Bettina Hersbach noch ein wenig länger gelebt, wenn Charlie sie in Ruhe gelassen hätte –«

»Hören Sie auf, in diese Richtung zu denken.« Petra Lüders drückte besänftigend Tanjas Hände. »Das führt doch zu nichts. Wenn und Hätte sind keine guten Ratgeber. Wir wissen nicht, was passiert wäre, weil es eben nicht passiert ist. Spekulationen bringen niemanden weiter. Und ich glaube«, wieder lächelte sie Tanja auf diese tantenhafte Art an, die sie ihr gegenüber bisher noch nie gezeigt hatte, »wenn man noch so jung ist wie Sie, sollte man sich das Leben damit nicht verderben. Sie haben Ihr Glück noch vor sich. Schauen Sie nicht nach hinten, in die Vergangenheit, schauen Sie nach vorn, in die Zukunft.«

Glück? Wie kommt sie auf Glück? dachte Tanja verwirrt. Das war wirklich das Letzte, woran sie in diesem Augenblick gedacht hätte. Welches Glück? Was hatte Glück mit Bettina Hersbachs Tod zu tun? Für sie war das bestimmt kein Glück gewesen.

»Sie müssen natürlich nicht mit auf die Beerdigung kommen«, fuhr ihre Chefin begütigend fort. »Das war eine dumme Idee von mir, Sie haben recht. Ich hätte erst einmal nachdenken sollen, bevor ich Ihnen den Vorschlag mache.« Sie lachte leicht. »Wahrscheinlich will ich nur nicht allein zu dieser Beerdigung gehen. Ich hasse Beerdigungen. Aber lassen Sie mal. Es ist schon gut. Ich will Charlie da nicht im Stich lassen, aber sie ist ja auch meine Nichte, nicht Ihre.« Freundlich klopfte sie Tanja auf die Schulter und begab sich wieder hinter ihren Schreibtisch zurück.

Nein, meine Nichte ist sie nicht. In Tanjas Kopf drehten sich die Gedanken. Sie dachte daran, wie sie Charlie eben erst wiedergesehen hatte. Nach über vier Monaten. Wie anders sie ausgesehen hatte. Wie anders sie gewirkt hatte. Wie un-charlie-mäßig.

Aber Charlie war immer Charlie. Blieb immer Charlie. Anders konnte es gar nicht sein.

Auch wenn sie nicht wusste, wie das geschah, doch als wäre sie gar nicht Herrin ihrer eigenen Stimme, ihres eigenen Körpers, hörte sie sich plötzlich selbst sagen: »Natürlich begleite ich Sie zu der Beerdigung. Das ist doch selbstverständlich.«

Liebe ist kein Beinbruch

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