Читать книгу Liebe ist kein Beinbruch - Katja Freeh, u.a. - Страница 5
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ОглавлениеI ch hasse Beerdigungen.
Das hatte zwar ursprünglich Professor Lüders gesagt, aber in diesem Moment dachte es Tanja. In dem Moment, als sie auf das Grab zuging.
Charlie stand schon da, ganz in Schwarz. Es war ein ungewohnter Anblick, denn wenn Charlie eins hasste, dann die Farbe Schwarz. Trotz ihrer dunklen Haare, die man sicherlich auch als schwarz hätte bezeichnen können. Aber ein schwarzes Kleid oder eine schwarze Hose hatte Tanja nie an ihr gesehen. Keine Bluse oder Jacke hatte bei Charlie je eine solch unauffällige Farbe gehabt. Sie wollte auffallen, und das tat sie auch. Zurückhaltendes Schwarz wäre da nicht dienlich gewesen.
Den üblichen dunklen Geschäftsanzug, den Frauen wie Männer in manchen Büros fast wie eine Uniform vorzeigten, hätte Charlie unter allen Umständen verweigert. Sie hätte ihn nie getragen. Aber das hatte sie ja auch nicht nötig. Sie arbeitete nicht in einem Büro. Sie arbeitete überhaupt nicht.
Schon als Tanja nähertrat, schlug ihr Herz lauter. Professor Lüders war bereits vorgegangen. Sie hatte einen Arm um Charlie gelegt, als wollte sie sie stützen.
Tanjas Mundwinkel verzogen sich nach unten. Das war wohl kaum nötig. Im Moment hielt Charlie sich noch zurück, aber spätestens nach dieser Beerdigung würde sie das genießen, wofür sie das alles hier durchmachte: Bettina Hersbachs Geld.
Vielleicht dauerte es noch eine Weile, bevor Charlie darüber verfügen konnte, da kannte Tanja sich nicht so aus, da sie noch nie etwas geerbt hatte, aber dann würde Charlie voll auf die Pauke hauen. Dann konnte sie wieder das tun, was sie am liebsten tat, wofür sie wie geschaffen war: feiern und Geld für völlig sinnlose Dinge zum Fenster hinauswerfen.
Professor Lüders blickte fragend zu ihr herüber, und Tanja bemerkte, dass sie stehengeblieben war und nur noch Charlie betrachtet hatte. Also nahm sie ihren Weg wieder auf, doch fast gleichzeitig schwenkte der Blick von Professor Lüders in die andere Richtung, von Tanja fort. Automatisch folgte Tanja der Bewegung mit ihrem eigenen Blick und sah eine große Frau auf das Grab zukommen, die sie an irgendjemanden erinnerte.
Sie trug Schwarz, aber es wirkte an ihr genauso unpassend wie an Charlie. Überhaupt wirkte sie ein bisschen wie Charlie. Etwas kleiner und schmaler in den Schultern, aber sie strahlte eine ähnliche Energie aus. Auch kam sie dem Grab schwungvoll näher, als hätte sie dort eine Verabredung.
Eine Schwester? Tanja runzelte die Stirn, während sie langsam weiterging. Davon hatte Charlie nie etwas erzählt. Im Gegenteil, Tanja hatte immer den Eindruck gehabt, sie wäre ein Einzelkind. Deshalb hatte sie damals ja auch dieses große Vermögen geerbt, als ihr Vater starb. Eine Cousine vielleicht. Aber Professor Lüders hatte keine Kinder. Oder war Tanja auch da falsch informiert? Hatte Charlie noch mehr Tanten oder Onkel, die wiederum Kinder hatten, von denen außerhalb der Familie niemand etwas wusste?
Die ganze Situation verwirrte sie. Charlie hatte anscheinend noch gar nichts von dieser neuen Beerdigungsbesucherin mitbekommen. Sie starrte weiterhin ins offene Grab und wartete – vielleicht – darauf, dass der Pfarrer mit seinen letzten Worten beginnen würde, bevor sich der Sarg in das Grab hineinsenkte. Professor Lüders hingegen stand immer noch neben Charlie und wandte ihren Blick nicht von der Frau ab, die jetzt das Grab fast erreicht hatte.
Genauso wie Tanja, die von der anderen Seite gekommen war. Wie bei einem Sternenlauf trafen beide Frauen so gut wie gleichzeitig neben der Grabstelle ein.
»Was willst du hier, Madita?«, fragte Professor Lüders, die sich der Neuangekommenen ganz zugewandt hatte. Beinah hatte sie sich wie eine Barriere vor ihr aufgebaut.
Als Charlie die Worte ihrer Tante hörte, schreckte sie wie aus einer tiefen Versunkenheit auf und starrte die Besucherin nun ebenfalls an, sagte aber nichts.
»Was sollte ich wollen?«, beantwortete die im selben Moment Petra Lüders’ Frage mit einem schnippischen Tonfall in der Stimme. Einer Stimme, die vom Klang und von der Artikulation her durchaus an Charlies erinnerte. »Meiner Tochter in ihrem Schmerz zur Seite stehen.«
Tochter. Tanja stutzte. Das war nicht Charlies Schwester oder Cousine, das war Charlies Mutter. Das war Charlies Mutter? Entgeistert starrte sie sie an.
Jetzt aus der Nähe konnte man erkennen, dass die Frau nicht in Charlies Alter war. Sie war älter, auch wenn sie das zu verschleiern versuchte. Teile von ihr waren wahrscheinlich so um die fünfzig, andere wohl erheblich jünger. Ihr Gesicht hatte sicherlich schon das eine oder andere Lifting hinter sich, und zudem war es so mit Make-up zugekleistert, dass man nicht die geringste Falte erkennen konnte. Aber es war teures Make-up, und das Zukleistern war höchst professionell erfolgt, wahrscheinlich von einem luxuriösen schwulen Visagisten als Kunstwerk angelegt.
»Jetzt auf einmal?« Petras Stimme hatte einen ätzenden Tonfall, den Tanja noch nie an ihr gehört hatte. »Das hat dich doch auch sonst nicht interessiert.«
»Nein«, mischte sich nun auch Charlie in das Gespräch ein. Ihre Stimme klang jedoch im Gegensatz zu der ihrer Tante völlig ausdruckslos. »Aber jetzt gibt es ja einen Grund, nicht wahr?« Tanja sah, wie Charlies Augen sich in das Gesicht ihrer Mutter bohrten, als wollten sie es danach an den dadurch verursachten Löchern an der Wand aufhängen. »Tina hat mir viel Geld hinterlassen.«
Madita Flemming blies empört ihre Backen auf. Weitere Gefühlsausbrüche zeichneten sich nicht auf ihrem Gesicht ab, da war wohl Botox vor. »Was willst du mir denn damit unterstellen?«
»Das ist wohl kaum eine Unterstellung, Madita«, entgegnete Professor Lüders süffisant. »Das sind einfach nur Tatsachen. Tatsachen, die wir alle seit Jahren kennen.« Sie blickte Charlie an. »Willst du, dass sie geht?«
Langsam schüttelte Charlie den Kopf. »Das macht Tina auch nicht wieder lebendig«, murmelte sie. »Und jetzt kann es sie auch nicht mehr stören.«
»Na gut.« Petras Blick wanderte zurück zu Charlies Mutter. »Aber benimm dich. Das hier ist eine Beerdigung, keine Party.«
»Pf.« Abschätzig zuckte Madita Flemming die Schultern, aber sie sagte nichts mehr.
Mit Verwunderung hatte Tanja diese Szene verfolgt. Insbesondere auch Charlies Reaktion. Hatte da echte Trauer in ihrer Stimme gelegen? Trauer um eine Frau, mit der sie zwar verheiratet gewesen war, die sie aber kaum gekannt geschweige denn geliebt hatte? Die sie nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte?
Der Pfarrer, der schon in der Kapelle gesehen hatte, dass dies eine sehr kleine Beerdigung war, wandte sich mit fragendem Blick an Charlie. »Erwarten Sie sonst noch jemanden, Frau Flemming? Oder kann ich anfangen?«
Müde wandte Charlie ihr Gesicht ihm zu. »Ich erwarte niemanden mehr.«
Er nickte und begann mit einer kurzen Grabrede, die die Tote noch einmal als einen guten Menschen darstellte, der viel zu früh gestorben war. Etwas Ähnliches hatte er auch schon in der Kapelle gesagt, in etwas längerer Form. All seine Informationen mussten von Charlie stammen, denn sie gingen nicht darüber hinaus, was sie in den kurzen vier Monaten ihrer Ehe erfahren haben konnte. Da Bettina Hersbach-Flemming keine Familie mehr gehabt hatte, hatte der Pfarrer sonst niemanden fragen können.
So war auch dieser Teil der Beerdigung schnell beendet, und der Pfarrer trat mit einem Segensspruch zum Abschluss zurück.
Schon die ganze Zeit hatte Charlie eine weiße Lilie in der Hand gehalten – das einzige, das ihre schwarze Gestalt auflockerte –, nun beugte sie sich vor und legte die Blume auf den Sarg. Als sie sich daraufhin abwandte, nickte Petra Lüders dem Pfarrer zu, und gleich darauf begann der Sarg sich zu senken.
Glücklicherweise hatte Tanja noch nicht an vielen Beerdigungen teilnehmen müssen, und sie fragte sich, ob alle Beerdigungen so etwas Gespenstisches hatten. Sicherlich hatte es auch etwas damit zu tun, dass kaum jemand hier war. Ein paar Leute gingen jetzt an Charlie vorbei und gaben ihr die Hand, aber da sie nicht zur Familie gehören konnten, waren das wohl ehemalige Kollegen von Bettina Hersbach oder Nachbarn. Es war schnell wie ein Spuk vorbei, und dann blieben nur noch Tanja, Professor Lüders, Charlie und ihre Mutter übrig.
»Komm«, sagte Petra Lüders zu ihrer Nichte. »Hör dir das nicht an, wenn die Erde auf den Sarg fällt. Das ist ein furchtbares Geräusch. Das muss nicht sein.« Sanft zog sie sie mit sich vom Grab weg.
Tanja wunderte sich, wie behutsam Professor Lüders mit Charlie umging. Meistens hatte es ja Krach gegeben, wenn Charlie in die Klinik gekommen war. Weil sie immer nur Geld von ihrer Tante wollte. Aber das hatte sich jetzt natürlich erledigt.
»Wo habt ihr reserviert?«, fragte die Stimme von Madita Flemming, die Charlies so ähnlich und auf der anderen Seite doch so unähnlich war, in die Stille hinein.
»Reserviert?« Charlie blickte sie verständnislos an.
»Na ja, Leichenschmaus. Nennt man das nicht so?« Anscheinend entrüstete Madita Charlies Verständnislosigkeit geradezu. »Macht man doch immer nach einer Beerdigung.«
Petra Lüders hob die Augenbrauen. »Für wen?«, fragte sie. »Es ist ja außer uns niemand da.«
»Und wer sind Sie?« Plötzlich richteten Maditas glitzernde Augen sich auf Tanja. »Sie gehören doch nicht zur Familie. Sonst müsste ich Sie kennen.«
Tanja hatte oft in Charlies Augen geschaut, und auch wenn sie damals verliebt gewesen war und eine rosarote Brille getragen hatte, so wie die ihrer Mutter hatten Charlies Augen nie ausgesehen, so hart und kalt. Gierig. Sie schienen fast nichts Menschliches zu haben, waren mehr wie die Augen eines Insekts, das rundherum nach Beute suchte.
»Das ist Dr. Kesten, meine Assistenzärztin«, sagte Petra Lüders in diesem Moment. »Sie hat mich freundlicherweise hierhergefahren, weil mir nicht nach Fahren war.«
Dankbar schaute Tanja sie an. Sie selbst hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte, denn Madita Flemmings Blick hatte ihr die Sprache genommen und sie schwer irritiert.
»Lauter Ärztinnen.« Trocken lachte Madita auf. »Ach nein«, fügte sie dann mit einem Blick auf ihre Tochter hinzu. »Du hast es ja nicht geschafft.«
»Ich glaube, das reicht jetzt, Madita«, wies Petra Lüders sie scharf zurecht. »Charlie hat gerade ihre Frau begraben. Kannst du nicht ein Mal Rücksicht nehmen?«
»Ich bin gekommen, oder?«, verteidigte Madita Flemming sich schmollend wie ein kleines Kind. »Und dabei hasse ich Beerdigungen.«
Noch eine, die Beerdigungen hasst, dachte Tanja. Warum sind wir eigentlich alle hier?
»Du warst ja auch gar nicht eingeladen.« Charlies Stimme klang leise, aber bestimmt, als sie auf die Bemerkung ihrer Mutter antwortete. »Schließlich hast du Tina überhaupt nicht gekannt.« Auf einmal schaute sie Tanja an. »Danke, Tanja«, fuhr sie mit weicher Stimme fort, »dass du gekommen bist.«
Schluckend blickte Tanja zu Boden. Sie wusste nicht so recht, warum sie gekommen war, und sie wusste noch viel weniger, was sie erwartet hatte, aber das bestimmt nicht. »Gern geschehen«, murmelte sie. »Ich habe sie sehr gemocht. Auch wenn sie nur eine kurze Zeit meine Patientin war.«
»Es gibt also nichts zu essen? Oder zu trinken?«, drängte sich Madita Flemming mit einer ganz pragmatischen, für sie anscheinend sehr wichtigen Frage dazwischen. »Noch nicht einmal ein Glas Champagner?«
Drei Augenpaare richteten sich gleichzeitig auf sie, als ob sie sich abgesprochen hätten.
»Merkst du eigentlich gar nicht, wie peinlich du bist, Madita?«, fragte Petra Lüders, die sonst nie die Geduld verlor, mit einem so tadelnden Tonfall in der Stimme, dass es fast wie ein drohendes Grollen klang.
»Wenigstens bin ich keine solche Schlaftablette wie ihr.« Madita Flemmings flirrende Insektenaugen wanderten verärgert von einer zur anderen. »Ihr seid doch einfach nur langweilig.«
»Es zwingt dich niemand hierzubleiben, . . . Mutter«, sagte Charlie, und Tanja bemerkte, dass die Bezeichnung Mutter, die Charlie so gedehnt angefügt hatte, dass es sie sehr betonte, Madita Flemming fast zusammenzucken ließ. Mit einer so erwachsenen Tochter wie Charlie erinnerte sie das wohl unangenehm an ihr tatsächliches Alter.
»Tue ich auch nicht.« Maditas Nase hob sich trotzig in den Himmel. »Es gibt Orte, an denen Leute auf mich warten. Ich wollte nur nett sein, aber warum sollte ich hier meine Zeit verschwenden, wenn –«
»Wenn es woanders Champagner gibt?«, setzte Petra Lüders süffisant fort. »Ja, da kann ich dir nur zustimmen. Ein Friedhof lässt sich auch so schwer als bunter Partyplatz dekorieren. Ganz unverständlich.«
Kurz starrte Madita sie an, dann stieß sie hervor: »Ach, dann langweilt euch doch mit euch selbst!«, drehte sich um und stöckelte auf ihren hohen schwarzen Schuhen davon.
Petra Lüders seufzte. »Sie wird es nie lernen. Da ist wohl Hopfen und Malz verloren.«
Tanja hätte ganz gern das eine oder andere bezüglich Charlies Mutter gefragt, aber sie traute sich nicht. Auf jeden Fall hatte Charlies Art, die Welt zu sehen, und wie sie sich anderen gegenüber verhielt, sicher auch etwas mit dieser Mutter zu tun, das war ihr in der kurzen Zeit von Madita Flemmings Anwesenheit – oder wohl eher Madita Flemmings Auftritt – schlagartig klargeworden.
Eine Entschuldigung war das aber nicht. Schließlich war Charlie mittlerweile mehr als erwachsen und konnte ihre eigenen Entscheidungen treffen. Tanjas Lippen wurden schmaler. Es war so leicht, immer andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen, aber in diese Falle würde sie nicht tappen. Dafür hatte Charlie sie zu sehr gegen ihren Charme abgehärtet.
»Ich muss dringend in die Klinik zurück.« Beinah wie um Verzeihung bittend schaute Petra Lüders zuerst Charlie und dann Tanja an. »Ihr Dienst ist doch beendet, nicht wahr, Dr. Kesten?«
Da sie immer noch ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte, zuckte Tanja etwas zusammen bei der Nennung ihres Namens. »Ja«, bestätigte sie schnell. »Mein Dienst ist für heute beendet.«
»Könnten Sie dann meine Nichte nach Hause bringen?« Ein leichtes Lächeln umspielte Petras Lippen. »Falls es nicht zu viel verlangt ist.«
»Ich kann allein fahren«, protestierte Charlie, wenn auch nur schwach. Die ihr sonst eigene Stärke schien sie ganz verlassen zu haben. »Ich bin ja auch allein hergekommen.«
»Du siehst aber sehr mitgenommen aus«, stellte ihre Tante mit einem prüfenden Blick fest. »Deshalb finde ich es aus ärztlicher Sicht unverantwortlich, dich selbst fahren zu lassen. Finden Sie nicht auch?« Sie schaute Tanja auffordernd an. »Oder würden Sie so eine Patientin sich selbst überlassen? Als Ärztin?«
Hin- und hergerissen konnte Tanja nicht sofort antworten. Wäre Charlie eine Patientin gewesen, eine Frau, die sie nicht kannte, nur behandelte, hätte sie ihrer Chefin zugestimmt. Aber Charlie war keine Patientin, und die Vorstellung, mit ihr allein zu sein, verursachte ihr unwillkürlich eine Gänsehaut.
»Ich bin keine Patientin, Tante Petra«, widersprach auch Charlie jetzt.
»Das sollte besser jemand beurteilen, der etwas davon versteht.« Professor Lüders beharrte auf ihrer Meinung. »Du bist im Moment nicht in dem Zustand dazu.« Wieder heftete ihr Blick sich auf Tanja, obwohl sie weiter zu Charlie sprach. »Wir können dir natürlich auch ein Taxi rufen. Du hättest gleich mit einem kommen sollen.«
»Nein, nein.« Professor Lüders’ Blick hatte etwas Magisches, das Tanja dazu veranlasste, sofort zu widersprechen. »Ich kann sie schon fahren. Kein Problem.«
»Gut«, sagte Professor Lüders. »Dann sollten wir diesen ungastlichen Ort jetzt verlassen.« Sie schauderte ein wenig und zog die Schultern hoch. »Ich hasse Friedhöfe wirklich.«