Читать книгу Liebe ist kein Beinbruch - Katja Freeh, u.a. - Страница 7

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»Das ist lecker.« Charlie streckte Tanja ihren Eislöffel entgegen und lächelte sie verführerisch an. »Probier mal.«

Wie jedes Mal, wenn sie Charlie ansah, schlug Tanjas Herz höher. Man hätte sogar sagen können, ihr ganzer Körper schlug höher, Charlie entgegen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Charlie löste Dinge in ihr aus, die sie sich noch nicht einmal hatte vorstellen können.

Manchmal fragte sie sich, ob sie tatsächlich verliebt in Charlie war, ob so etwas so schnell gehen konnte. Liebe auf den ersten Blick. Das hatte sie immer für ein Märchen gehalten. Und irgendwie war es auch ein Märchen. Aber es fand wirklich statt, hier und jetzt zum Beispiel in diesem Eiscafé, in das Charlie sie eingeladen hatte.

Sie wusste, dass Charlie reich war. Sie war die Nichte der Chefärztin, in deren Klinik Tanja als Assistenzärztin arbeitete. Und auch Professor Lüders war reich. Aber man merkte es ihr nicht an. Sie hatte einen Großteil ihres Vermögens, wenn nicht alles, in diese Klinik gesteckt, und sie arbeitete, als wäre sie selbst dort angestellt. Sie hatte Tanja einmal lächelnd erzählt, dass sie schon von Kindertagen an nie etwas anderes hatte werden wollen als Ärztin, das war immer ihr Traumberuf gewesen.

Anscheinend war sie in ihrer Jugend auch eine gute Sportlerin gewesen, eine hervorragende Schwimmerin. Sie hätte sogar Chancen auf die Olympiade gehabt. Aber sie hatte sich für den Arztberuf entschieden, weil ihr das wichtiger war, weil sie nie etwas anderes hatte tun wollen.

Tanja bewunderte das, und sie sah zu Professor Lüders auf wie andere vielleicht zu einem Professor Sauerbruch. Sie war ihr großes Vorbild. Wenn sie einmal eine so gute Ärztin sein würde wie Professor Lüders, würde sie stolz auf sich sein.

»Es schmilzt.« Charlies schmeichelnde Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Willst du nicht?«

»Doch, natürlich.« Schnell schloss Tanja ihre Lippen um Charlies Löffel und ließ sich den Geschmack des Sahneeises auf der Zunge zergehen. »Sehr lecker, wirklich.«

»Hab ich nicht gesagt, dass man hier das beste Eis in der Stadt kriegt?« Charlie lachte, zog den Löffel zurück und steckte ihn sich wieder in den Mund, ohne ihn noch einmal mit Eis gefüllt zu haben. »Mhmm . . .«, machte sie und schaute Tanja begehrlich an. »Leckerer geht’s nicht.«

Tanja wurde rot. Jedenfalls spürte sie, wie Wärme in ihre Wangen stieg, und das bedeutete normalerweise, dass sie rot wurde. Im Moment sah sie sich ja nicht. »Charlie . . .«, sagte sie verlegen und wandte den Kopf zur Seite.

»Du bist mindestens genauso lecker wie dieses Eis«, setzte Charlie ihren Angriff auf Tanjas Schamgefühl fort und beugte sich vor. »Glaubst du das nicht?« Sie flüsterte, aber dieses Flüstern klang für Tanja so laut in ihren Ohren, als hätte Charlie durch ein Megafon gesprochen. »Meine Güte, ich könnte dich –« Abrupt lehnte Charlie sich zurück und benutzte ihren Löffel nun wieder für das, wofür er gedacht war, nämlich um Eis damit zu essen.

»Aber hier doch nicht, Charlie«, antwortete Tanja, woraufhin sie sich ebenfalls mit so viel Eis wie möglich in ihrem Mund abzukühlen versuchte.

»Wieso?« Charlie lachte wieder. »Die haben doch eine Toilette. Ich wäre da ganz diskret. Für dich. Wir sind ja hier nicht in St. Tropez, wo man sich auch mal über den Tisch legen kann.«

Solche Sprüche, die Charlie des Öfteren von sich gab, ließen Tanja immer etwas verwirrt zurück. Meinte sie das jetzt wirklich ernst oder scherzte sie nur? »Ich war noch nie in St. Tropez«, entgegnete sie schluckend. Auf die Bemerkung mit der Toilette wollte sie lieber gar nicht näher eingehen. Denn sie stellte sich gerade vor, wie Charlie sie dort auszog und – Nein, lieber nicht.

»Da hast du nichts verpasst«, meinte Charlie wegwerfend. »Immer nur dieselben alten Leute. Da ist fast niemand unter dreißig. Schon ein bisschen angestaubt alles.« Ihre Mundwinkel zuckten heftig. »Aber die alten Hippies sind manchmal wilder als wir heute. Müssen sich wohl immer noch was beweisen.«

Wenn Charlie so redete, merkte Tanja immer wieder, wie unterschiedlich ihre Leben waren. Sie selbst stammte aus einer ganz normalen Familie, nicht reich, nicht arm, und selbstverständlich waren sie auch schon an verschiedenen Orten der Welt gewesen, auf Urlaub.

Aber für Charlie war das kein Urlaub, es war ihr tägliches Leben. Sie jettete schnell mal auf die Malediven oder die Seychellen oder sonst wohin, nur für ein Abendessen oder eine Party.

So etwas wäre Tanja nie in den Sinn gekommen. Und sie hätte auch weder das Geld noch die Zeit dafür gehabt. Die hatte sie bis zum Abitur zuerst mit der Schule verbracht, dann mit dem Medizinstudium und nun mit ihrem Dienst als Assistenzärztin. Auch wenn sie keine Assistenzärztin mehr war, würde das so weitergehen. Außerhalb des Urlaubs, der einmal oder höchstens zweimal im Jahr ein bisschen Ruhe gönnte, war man immer eingespannt und musste arbeiten.

Charlie natürlich nicht. Charlie hatte Geld wie Heu. Sie hatte es geerbt und musste nichts dafür tun. Deshalb hatte sie auch Zeit wie Heu. Und irgendwie musste die ja gefüllt werden.

Eine sehr merkwürdige Lebensgestaltung, fand Tanja. Eine, die sie sich nicht vorstellen konnte. Aber es war auch faszinierend. So jemanden wie Charlie hatte sie noch nie kennengelernt. Und hätte sie wohl auch nicht, wenn sie sie nicht zufällig in der Klinik von Professor Lüders getroffen hätte, als sie ihr auf dem Gang vom Büro ihrer Tante entgegenkam, während Tanja gerade auf dem Weg dorthin war.

Es gab manchmal schon Besucher hier im Krankenhaus, die sehr gut angezogen waren, die auch nicht gerade arm aussahen, die es schon von weitem ausstrahlten, wie gutsituiert sie waren. Aber Charlie . . . Charlie hatte noch etwas ganz anderes ausgestrahlt.

Als sie Tanja auf dem Gang entgegenglitt wie eine luxuriöse Segeljacht, groß, elegant, mit einem Hüftschwung, als flanierte sie gerade als Model – was sie auch gut hätte sein können – über einen Laufsteg, hatte Tanja sich gefragt, ob sie ohne es zu merken in einem Film gelandet war.

Sie wollte schnell an dieser höchst attraktiven Erscheinung vorbeigehen, weil sie schon das Gefühl hatte, sie musste sich beherrschen, Charlie nicht mit offenem Mund anzustarren, da sprach Charlie sie mit einem berauschenden Lächeln an.

»Sie sind Dr. Kesten, nicht wahr? Meine Tante ist sehr begeistert von Ihnen.«

Fast so abrupt, als wäre sie unvermutet gegen eine Wand gelaufen, blieb Tanja stehen. »Ähm . . . ja . . . danke«, brachte sie nur heraus, und schon das verwunderte sie selbst, denn ihr Mund war so trocken, dass er wie zugeklebt schien.

Charlie lächelte. Sie lächelte einfach weiter. Es erschien Tanja wie eine Ewigkeit, weil sie ganz in dieses Lächeln eintauchte, als wäre es eine warme Lagune in der Südsee.

»Was sie mir nicht gesagt hat«, fuhr Charlie dann plötzlich in beiläufigem Ton fort, ohne ihr Lächeln zu unterbrechen, »ist, wie süß Sie sind.«

Für eine Sekunde dachte Tanja, sie hätte nicht richtig gehört.

»Darf ich Sie vielleicht zu einem Kaffee einladen?« Charlies Lächeln schien wie ein Teil von ihr zu sein, es hörte einfach nicht auf. Und es war so verführerisch, dass Tanja nicht mehr wusste, wo sie hinschauen sollte.

»Ich . . . Ich bin im Dienst«, antwortete sie mehr stammelnd als flüssig. »Ich muss zu Professor Lüders . . . zu Ihrer Tante.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, schmunzelte Charlie jetzt. Es war offensichtlich, dass sie sich eindeutig über Tanja amüsierte. »Und so, wie meine Tante Sie mir beschrieben hat, sind Sie so pflichtbewusst, dass Sie Ihren Dienst niemals für eine ungeplante Kaffeepause unterbrechen würden. Aber irgendwann ist Ihr Dienst ja auch zu Ende.«

»J-ja«, stotterte Tanja.

Kurz wartete Charlie und blickte sie fragend an, dann merkte sie wohl, dass Tanja nichts weiter sagen würde. »Sie wollen mir nicht verraten, wann das ist?«, fragte sie mit zuckenden Mundwinkeln.

»Ich . . . Nein . . . Ja.« Tanja war völlig verwirrt. »Sie haben mich nicht gefragt«, brachte sie dann noch zustande.

»Da haben Sie recht.« Charlies Lächeln war fast schon wie ein Streicheln. »Mein Fehler. Also dann frage ich Sie jetzt ganz offiziell: Wann ist Ihr Dienst heute beendet?«

»Zwanzig Uhr«, sagte Tanja. Es kam ganz automatisch heraus, ohne dass sie zuerst darüber nachgedacht hatte, ob sie das überhaupt verraten wollte.

»Na wunderbar. Dann wird es ein Abendessen, zu dem ich Sie einlade.« Charlie schien äußerst zufrieden. »Einverstanden?«

»Ich . . . Ich muss zu Ihrer Tante.« Fast schon verzweifelt versuchte Tanja, ihren Weg wieder aufzunehmen.

»Acht Uhr!«, rief Charlie ihr hinterher. »Ich komme her und hole Sie ab!«

Und bei dem Abendessen war es dann nicht geblieben. Danach hatte Tanja zum ersten Mal Charlies Penthouse kennengelernt. Und sie hatte Charlies Fähigkeiten als Liebhaberin kennengelernt, die alles überstiegen, was sie vorher je erlebt hatte. Es war Charlie deutlich anzumerken, dass sie viel Erfahrung hatte, viel mehr als Tanja, obwohl sie praktisch im gleichen Alter waren.

»Ist das die richtige? Ich musste ein bisschen im Lager suchen.« Die Apothekenhelferin hielt Tanja eine Packung hin.

Tanja nahm die Packung und starrte darauf, ohne sie wirklich zu sehen. Sie musste zuerst einmal aus dem Tagtraum, in den sie versunken war, als die Apothekenhelferin nach hinten ging, in die Wirklichkeit zurückkehren. »Ja, sieht so aus. Das ist die Schnürbandage mit den seitlichen Stabilisatoren, die ich wollte. Die andere hatte ja keine.«

Die Apothekenhelferin nickte. »Dann wollen Sie diese nehmen?«

»Ja.« Nun nickte Tanja auch. »Ist das die einzige, die Sie haben? Zwei wären besser. Zum Wechseln. Die Patientin muss sie ja die nächsten Wochen über Tag und Nacht tragen.«

»Tut mir leid.« Mit einem bedauernden Gesichtsausdruck zuckte die Angestellte der Apotheke die Schultern. »Sie sind bestellt, aber das war jetzt unsere letzte. Vielleicht versuchen Sie es noch in einer anderen Apotheke. Normalerweise haben wir die auch immer da, aber im Moment gerade . . .«

»Schon in Ordnung.« Leicht lächelnd legte Tanja die Packung auf den Verkaufstresen. »Fürs Erste reicht sie ja. Packen Sie mir dann alles zusammen ein, auch die Kompressionsverbände und das andere?«

»Natürlich.« Die Apothekenhelferin zog eine Tüte unter dem Tresen hervor, schob alles hinein und druckte den Kassenbon aus.

Tanja bezahlte und verließ die Apotheke. Draußen blieb sie noch einmal kopfschüttelnd stehen. Wie war das nur geschehen, dass sie sich so intensiv an ihre Zeit mit Charlie erinnert hatte, dass sie ganz darin versunken war? Sie war kurz genug gewesen.

Aber eindrucksvoll. Sehr eindrucksvoll. Das musste sie zugeben. Was sie mit Charlie in Wochen erlebt hatte, das hatte sie mit anderen nicht in Jahren erlebt.

Genauso . . . eindrucksvoll war dann allerdings auch das Ende gewesen. Ihre Lippen bildeten auf einmal nur noch einen schmalen Strich. Von jetzt auf gleich. Ohne jede Vorwarnung. Genauso wie sie sich kennengelernt hatten.

Charlie war keine Frau für die Ewigkeit. Das hatte Tanja sich gleich am Anfang gedacht. Aber dann hatte sie nicht mehr darüber nachdenken wollen, es gar nicht wahrhaben wollen, dass Charlie so außerhalb ihrer Liga spielte, dass eine dauerhafte Beziehung unmöglich war.

Aus diesem Grund hätte Tanja es auch niemals gewagt, Charlie anzusprechen, sie wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen. Aber das war ja auch nicht nötig gewesen. Charlie sprach Frauen an, wie andere einen Drink bestellten. Dazu brauchte es nicht viel.

Für eine Weile war es wie ein Traum. Wenn Charlie einmal beschlossen hatte, dass sie sich um eine Frau kümmern wollte, dann kümmerte sie sich um sie. Und wie. Tanja wurde mit Geschenken überschüttet, und obwohl sie sich gerade erst verabschiedet hatten, erwartete sie dann oft gleich darauf ein Blumenstrauß, wenn sie in die Klinik zum Dienst kam. Es war schon peinlich. Denn meistens waren es rote Rosen.

Der einzige kleine Wermutstropfen war der Tag gewesen, als Tanja herausfand, dass Charlie sie bezüglich ihres Medizinstudiums belogen hatte. Charlie hatte ihr gegenüber nämlich behauptet, dass sie Medizinstudentin wäre. Mit einem bezaubernden Lächeln hatte sie hinzugefügt: »Ich bin nur nicht so fleißig wie du. Deshalb bin ich noch nicht fertig.«

Das konnte Tanja verstehen, denn wie sollte Charlie ein Medizinstudium, wie Tanja es durchgezogen hatte, mit all ihren anderen Aktivitäten in Einklang bringen? Dass es da länger dauern musste, ergab sich ganz logisch von selbst.

Sie dachte an Marianne Koch, die ihre Schauspielkarriere mit ihrem Medizinstudium hatte in Einklang bringen müssen und deshalb viel länger gebraucht hatte, bis sie als Ärztin praktizieren konnte, als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, mit denen sie das Medizinstudium begonnen hatte. Charlie war in ähnlicher Weise eine Celebrity – wenn man das überhaupt vergleichen wollte –, wie Marianne Koch es damals gewesen war.

Nur dass Marianne Koch sich ihr Studium mit der Schauspielerei hatte verdienen müssen. Das traf für Charlie natürlich nicht zu. Wenn es nur ums Geld gegangen wäre, hätte sie früher fertig sein müssen als alle anderen. Aber bei einem Medizinstudium ging es eben nicht nur ums Geld.

Die Erinnerungen überfielen sie erneut gegen ihren Willen. Sie spürte wieder, wie wohl sie sich mit Charlie gefühlt hatte, wie Charlie ihr für eine kleine Weile die Schwere genommen hatte, die Sorge darum, ob sie als Ärztin gut genug war, um allen Patienten helfen zu können, was sie stets bezweifelte. Sie wollte noch Tausende von Ausbildungen machen, um alles zu lernen, was es nur zu lernen gab, weil sie sich so unvollkommen fühlte.

Charlie fühlte sich nie unvollkommen. Sie tat alles, was sie tat, aus einem Gefühl der Selbstverständlichkeit heraus. Ob es Eis essen war oder Schlittschuhlaufen oder sonst etwas. Nie hatte Tanja sie anders als lachend gesehen. Charlie war die Verkörperung des Lebens und wie man es genießen konnte.

Weil es so selbstverständlich klang wie alles andere, hatte Tanja es auch nicht in Frage gestellt, dass Charlie Medizin studierte. Eben auf eine etwas andere Art, als Tanja es getan hatte, aber dass sie studierte. Bis sie eines Tages doch etwas misstrauisch wurde, weil es ihr so vorkam, als ob Charlie nie zur Uni ginge. Eine Nachfrage bei Charlie bezüglich dessen ergab natürlich nichts. Das Ergebnis war, dass sie im Bett landeten, und danach hatte Tanja ihre Frage vergessen.

Doch irgendwann erwähnte Tanja Charlies Medizinstudium so ganz nebenbei gegenüber Professor Lüders, ergänzt durch die Bemerkung, dass sie es komisch fände, dass Charlie anscheinend keine Vorlesungen an der Uni besuchte. Aber, hatte sie eingeschränkt, sie selbst würde ja so lange Schichten arbeiten, dass sie das gar nicht beurteilen konnte. Wahrscheinlich ging Charlie zur Uni, wenn Tanja im Dienst war.

Daraufhin hatte Professor Lüders sehr erstaunt reagiert und Tanja darüber aufgeklärt, dass Charlie doch schon lange nicht mehr studieren würde.

Als Tanja Charlie bei ihrem nächsten Treffen deswegen zur Rede stellte, ihr vorwarf, sie hätte sie belogen, gab Charlie ganz frei von der Leber weg zu, dass sie geschwindelt hatte. Sie behauptete, sie hätte das getan, um Tanja nicht zu verlieren, weil sie gesehen hätte, wie viel Tanja an ihrem Beruf läge.

»Ich wollte nicht, dass du mich gleich abservierst«, hatte sie lachend gesagt und sofort wieder versucht, Tanja zu verführen, um sie sich gegenüber positiv zu stimmen.

So sehr, wie Tanja Charlies Charme damals verfallen gewesen war, war es überhaupt keine Frage, wie dieser Versuch endete. Tanja ließ sich verführen wie schon so oft, auch wenn sie dabei ganz kurz ein schlechtes Gefühl hatte. Aber . . . nun ja . . . Charlie hatte das nur für sie getan, diese kleine Notlüge erfunden, oder nicht? Das konnte man doch verstehen.

Heute hätte sie sich selbst dafür ohrfeigen können, wie sorglos und naiv sie jede von Charlies Aussagen akzeptiert hatte, aber damals war Charlie so etwas wie eine Droge für sie gewesen, auf die sie nicht verzichten wollte. Auf die sie nicht verzichten konnte. Bis Charlie sie dazu gezwungen hatte.

Sie kehrte mit dem Aufzug ins Penthouse zurück und schloss die Tür auf. Charlie lag immer noch auf dem Sofa, so wie sie sie zurückgelassen hatte, nur war der Pegel in der Whiskeyflasche, die neben ihr auf dem Tisch stand, gesunken.

»Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nichts mehr trinken«, schimpfte Tanja sofort. »Das ist nicht gut für dich.«

»Das ist sehr gut für mich«, widersprach Charlie mutwillig grinsend. »Hilft gegen die Schmerzen.«

»Ich habe dir etwas gegen die Schmerzen gegeben.« Tanja rollte die Augen. »Und gerade deshalb hättest du nicht noch mehr Whiskey trinken sollen.«

»Warum hast du die Flasche dann auf dem Tisch stehenlassen?« Egal, wie sehr ihr Knöchel auch angeblich schmerzte, Charlie blieb Charlie. Sie versuchte sogar, mit Tanja zu flirten.

Das machte sie ganz automatisch, und wahrscheinlich trug jetzt auch der Whiskey dazu bei, dass sie die Melancholie, die die Beerdigung in ihr hervorgerufen hatte, nicht mehr so spürte. Sofort kehrten ihre alten Gewohnheiten zurück.

»Weil ich sie vergessen habe. Und weil ich dachte, dass du vernünftiger bist. Erwachsen.« Verärgert griff Tanja nach der Flasche und stellte sie ins Regal zurück.

»Oh, so streng, Frau Doktor?« Charlie lächelte sie verführerisch an.

»Hör auf, Charlie! Das zieht nicht mehr bei mir. Und außerdem haben wir gerade eben deine Frau beerdigt!« Tanja drehte die Tüte aus der Apotheke um und verteilte alles auf dem Tisch. »Ich habe ein paar Sachen besorgt. Der Knöchel sollte auf jeden Fall noch geröntgt werden, aber so angeschwollen, wie er jetzt ist, bringt das sowieso nicht viel. Und gebrochen ist nichts. Also können wir damit auch noch ein paar Tage warten. Aber gestützt werden muss das Ganze, deshalb habe ich alles dafür mitgebracht.«

Während sie sprach, wunderte sie sich nicht, dass Charlie nicht antwortete, aber nun doch. Als sie Charlie anschaute, sah sie, dass der fröhliche Ausdruck, mit dem Charlie sie bei ihrer Rückkehr begrüßt hatte, aus ihren Augen verschwunden war.

»Es tut mir leid, Tina«, sagte sie.

»Tanja«, korrigierte Tanja sie. »Ich heiße Tanja, nicht Tina. Auch wenn das ähnlich klingt.«

»Tut mir leid«, sagte Charlie noch einmal. »Und diesmal meine ich wirklich dich. Du hast recht. Ich hätte den Whiskey nicht trinken sollen. Zusammen mit den Tabletten hat der mich richtig high gemacht.«

»Schmerzen hattest du keine, oder?«, fragte Tanja, während sie die Bandage auspackte. »Das war nur mal wieder eine deiner Lügen.«

Dazu sagte Charlie erst einmal nichts. Erst als Tanja ihren Fuß nahm, den Eisbeutel entfernte und die Bandage anlegte, kam die Antwort. »Du kennst mich viel zu gut«, bemerkte sie leise. »Das hatte ich fast schon vergessen.«

»Ich auch.« Tanja schnürte die Bandage zu und sicherte die Verschnürung dann mit den daneben angebrachten Klettbändern. »So, das sollte erst einmal reichen. Nicht auftreten, wenn du es nicht musst. Ich habe dir Krücken mitgebracht.« Sie legte die Krücken neben Charlie auf den Tisch. »Du bist stark genug. Du kannst dich damit überall hinschwingen.«

»So wacklig, wie ich mich im Moment fühle, würde ich eigentlich nicht gern versuchen, mich irgendwo hinzuschwingen«, meinte Charlie mit zweifelnd verzogenem Gesicht.

»Alkohol und Tabletten. Das wird vergehen.« Tanja richtete sich auf und räumte die Sachen auf dem Tisch zusammen. »Das Krankenhaus ersetzt das nicht, aber fürs Erste hast du alles, was du brauchst. Etwas anderes hätte ich dort auch nicht gemacht. Aber ich sollte dich jetzt einweisen.«

»Muss das sein?«, fragte Charlie. »Eigentlich geht es mir doch gut. Es ist nichts gebrochen, sagtest du doch. Und ich habe hier alles, was ich brauche.«

»Bis auf jemanden, der dich versorgt«, sagte Tanja. »Du kannst hier nicht alleinbleiben.« Sie blickte zur Tür, als müsste dort gleich jemand hereinkommen. »Oder erwartest du jemanden?«

»Direkt nach Tinas Beerdigung? Das traust du mir zu?« Charlies Stimme klang tatsächlich entgeistert.

»Ich traue dir alles zu«, gab Tanja trocken zurück. »In der Beziehung sowieso.«

»Kannst du nicht hierbleiben?«, fragte Charlie. »Oder wartet zu Hause jemand auf dich?«

Es wäre ein Leichtes gewesen, jetzt irgendetwas zu erfinden. Charlie wusste nichts mehr von ihr, Tanja hätte ihr das Blaue vom Himmel herunterlügen können. Aber auch wenn sie es gern getan hätte, es lag nicht so richtig in ihrer Natur zu lügen, und selbst wenn sie es versuchte, sah man es ihr sofort an.

Also sagte sie: »Nein, da wartet niemand auf mich. Ich hatte mal überlegt, mir eine Katze zuzulegen, aber die wäre auch zu viel allein bei meinen langen Schichten.«

»Aber trotzdem fändest du dieses einsame Zuhause immer noch besser, als hier bei mir zu bleiben«, stellte Charlie fest. »Das spricht Bände.«

Hohl lachte Tanja auf. »Die du geschrieben hast. Und ich kann sie leider nicht verbrennen.«

»Vergessen meinst du.« Charlie nickte. »Ich verstehe.«

»Dein Gedächtnis ist nicht so gut, ich weiß.« Tanja wandte sich halb ab. »Sei froh, dass es so ist.«

»Vielleicht«, sagte Charlie langsam, »ist es nicht mehr so.«

Der Tonfall in ihrer Stimme überraschte Tanja so sehr, dass sie sich wieder zu ihr umdrehte.

Charlie sah sie an, und das Hochgefühl, das Alkohol und Tabletten in ihr hervorgerufen hatten, war nicht mehr zu erkennen. Sie sah jetzt tatsächlich so aus, als hätte sie Schmerzen.

»Was soll das heißen?«, fragte Tanja. »Dass du jetzt plötzlich ein Gewissen hast? Seit wann?«

»Seit . . .« Charlie schluckte. »Seit Tina gestorben ist. Oder eigentlich schon davor. Weil Tina . . . Tina war . . .« Sie brach ab.

Tanja durchrieselte ein merkwürdiges Gefühl. Es durchrieselte sie wirklich. Es kribbelte nicht, kitzelte nicht, zog sich nicht zusammen, es rieselte. Wie Sand in einer Eieruhr, die unten immer voller wurde und oben immer leerer. Ganz langsam und gleichmäßig. Ihr Kopf war auf einmal so leer, als könnte sie Zimmer darin vermieten.

»Sie war etwas ganz Besonderes«, setzte Charlie plötzlich fort.

In Tanja rührte sich etwas. Als ob jemand die Eieruhr umgedreht hätte. »Sie hatte so viel Geld, dass sie schon dadurch etwas Besonderes war«, sagte sie. »Genauso wie du.«

Schleppend schüttelte Charlie den Kopf. »Das war es nicht. Du hast sie doch gekannt, hast sie gesehen, sie behandelt, mit ihr gesprochen. An Geld lag ihr gar nichts.«

Auch wenn sie darüber nicht gesprochen hatten, aber Tanja wusste, dass Charlie recht hatte. Bettina Hersbach war zufällig reich gewesen, aber sie hatte sich nicht so verhalten. Niemand, der es nicht wusste, hätte eine reiche Erbin in ihr vermutet. Sie hatte sich immer ganz normal benommen. Mehr als normal. Sehr, sehr weich und nachgiebig, eher um andere besorgt als um sich selbst.

Jetzt schluckte sie. »Ja, das stimmt wohl«, sagte sie. »Sonst hätte sie es nicht so leichtfertig dir überlassen.«

Ein wehmütiges Lächeln umspielte Charlies Mundwinkel. »Du und Tina . . . Ihr seid euch in gewisser Weise ähnlich. Du lebst dafür, deinen Patienten helfen zu können. Sie lebte dafür, alten Bildern helfen zu können.« Unbewusst versuchte sie, den Fuß mit der Bandage zu bewegen, und verzog das Gesicht. »In anderer Hinsicht wieder nicht. Sie hätte nie so mit mir gesprochen, wie du es jetzt tust.«

Tanja zuckte die Schultern. »Du hast ihr keinen Anlass dafür gegeben. Du hast sie nicht von einer Minute auf die andere verlassen.« Sie holte tief Luft, um ihre aufkommenden Gefühle im Zaum zu halten. »Du hattest keinen Grund dazu. Oder keine Zeit mehr. Sie ist vorher gestorben.« Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Nein, du hattest keinen Grund. Selbst wenn sie dir einen gegeben hätte, hättest du sie nicht verlassen. Du wolltest ja ihr Geld.«

»Oh mein Gott.« Diese Art Ausruf hatte Tanja noch nie von Charlie gehört. Jedenfalls nicht in einer Situation wie dieser.

»Ich sage nur die Wahrheit«, stellte sie fest. »Stört dich das?«

Wieder bewegte Charlies Kopf sich wie im Schneckentempo hin und her. »Nein. Das stört mich nicht. Das ist auch etwas, das Tina und du . . . gemeinsam habt. Sie konnte nicht lügen, und du kannst es auch nicht.«

»Warum sollte man auch lügen?«, fragte Tanja. »Ist die Wahrheit nicht immer der beste Weg?«

Es schien fast, als wollte Charlie lachen. »Wie selbstverständlich das für dich ist. Wie selbstverständlich du das sagst. Genauso, wie sie es gesagt hätte.«

»Willst du mich jetzt für den Rest deines Lebens mit ihr vergleichen?« Nun war Tanja doch etwas konsterniert. »Suchst du einen Ersatz?«

»Klingt es so?« Mit einer Hand fuhr Charlie sich durch die Haare. Dann holte sie tief Luft. »Vielleicht hast du damit nicht einmal so unrecht.«

»Ach?« Ungläubig lachte Tanja auf. »Du gibst das sogar zu? Soll das jetzt ein Kompliment für mich sein?«

»Du siehst das im Moment vielleicht nicht so, aber es wäre für jeden ein Kompliment, mit Tina verglichen zu werden. Mit ihr auf eine Stufe gestellt zu werden.« Mit einem müden Seufzer lehnte Charlie sich auf der Couch zurück, ließ ihren Kopf schwer auf der Armlehne niedersinken. »Sie war einfach perfekt.«

»Gut, dass du sie wenigstens noch geschätzt hast zum Schluss. Und nicht nur die Zahlen auf ihrem Bankkonto«, gab Tanja bissig zurück. »Aber wenn du meinst, ich würde mich jetzt hier als ihre Nachfolgerin präsentieren, wenn du meinst, du könntest einfach da weitermachen, wo du mich hast sitzenlassen, dann irrst du dich. Ich bin kein Ersatz, und das werde ich auch nie sein!«

Wütend drehte sie sich um und verließ das Penthouse.

Liebe ist kein Beinbruch

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