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Willkommen auf Hooge
Оглавление»Erinnerst du dich?«, lachte Sabine. »Vor ein paar Wochen noch sind wir hier mit den Schuhen in der Hand barfuß den Sommerdeich entlanggeschlendert.«
Natürlich erinnerte ich mich. Auch heute liefen wir dem Lauf der Sonne folgend im Süden der Hallig, und auch dieser Tag war wunderschön. Allerdings war es kein warmer Sommertag mehr, sondern ein Tag im Oktober. Es fing schon an zu dämmern, dennoch war auffällig, wie viel länger es hier oben im Norden hell bleibt als im Süden.
Sabine und ich schlenderten durch die inzwischen überwiegend dunkelrot und braun verblühte Wiese auf dem Deich, direkt am Wasser entlang. Die Hallig zeigte sich in ihrem Herbstkleid. Insbesondere der Queller – als »Spargel des Meeres« inzwischen vielerorts ein Trendgemüse, hier auf der Hallig eine beliebte und vielseitig einsetzbare Beilage zu Meeresfrüchten, Lamm und Nudelgerichten – hatte sein sattes Grün inzwischen gegen ein müdes Rot eingetauscht. Nun war er nicht mehr genießbar. Auch die Farbe des im Sommer lila blühenden Halligflieders hatte sich in einen schnöden Braunton verwandelt.
Wir blickten abwechselnd rechts auf die Fennen, auf denen noch ein paar Kühe mit ihren über den Sommer groß gewordenen Kälbern standen, und links auf das Wasser bis zum nicht enden wollenden Horizont, an dem die ersten sanften rosa und lila Töne aufzogen. Der Blick reichte noch weit über die Hallig Norderoog hinaus. Über unsere Köpfe hinweg flogen mal eine Möwe, mal ein paar Austernfischer. Kinah, Sabines Ridgeback-Hündin, die folgsam an der Leine zwischen uns lief, verfolgte wachsamen Blickes die letzten gefiederten Gäste auf der Hallig. Nach und nach machten sie sich fast alle auf den Weg in südliche Gefilde. Sicherlich würde Kinah viel lieber frei laufen. Nicht weil sie die Vögel jagen wollte, sondern weil sie es liebt, einige Meter vorauszurennen, um dann wieder in einem großen Bogen um uns herum zurückzukommen. Aber gerade weil noch einige Vögel hier waren, musste das ausgelassene Toben warten. Zwischen April und Oktober gilt auf der Hallig Leinenpflicht. In dieser Zeit ist die sogenannte Rast- und Brutzeit. Darauf müssen Hundebesitzer unbedingt Rücksicht nehmen. Auf den Warften gilt die Leinenpflicht ganzjährig, aus Rücksicht auf Bewohner und auf unsere Gäste.
»Im Grunde ist der Deich ein einziges Kunstwerk.« Sabine stemmte die Arme in die Hüften und blickte den Deich entlang, in dessen feuchten Steinen sich die Abendsonne funkelnd brach. »Ein steinernes Mosaik.«
»Ja, und ein sehr nützliches dazu«, sagte ich und kraulte Kinah die durch die Sonnenstrahlen glänzende walnussbraune Stirn. »Ohne unseren Sommerdeich wäre die Halligkante Wellengang und Strömung schutzlos ausgesetzt, und der Blanke Hans würde uns unaufhaltsam unseren Lebensraum wegknabbern.«
Mit seinen knapp zwölf Kilometern Länge umschließt der Sommerdeich die fast sechs Quadratkilometer große Hallig wie ein schützendes Band. Die Arbeiten zur Küstenbefestigung begannen zwischen 1911 und 1914. Deicharbeiter und Steinmetze kamen, teilweise aus Italien, in den hohen Norden, um in mühevoller Handarbeit Stein auf Stein in- und aufeinanderzusetzen und der Hallig ihren Schutzwall und ihr heute unverwechselbares Antlitz zu verleihen. Regelmäßig müssen die Steinsetzungen ausgebessert oder sogar erneuert werden. Küstenschutz ist ein Dauerschleifenthema, denn wie sagen wir Küstenmenschen: »Die Nordsee schläft nicht – sie wartet nur.«
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich genieße die Spaziergänge mit Sabine und Kinah. Seit fast zehn Jahren kennen wir uns nun. Sabine kam das erste Mal als Gast zu mir ins Haus am Landsende, damals noch ohne Kinah. Inzwischen verbinden uns eine innige Freundschaft und die Liebe zur Nordsee, insbesondere zum Wattenmeer. Die große, sportliche Frau ist ein paar Jahre älter als ich und besucht mich mehrmals im Jahr. Immer an ihrer Seite ihre liebenswerte Hündin. Unsere Spaziergänge erinnern mich an die mit meinem Chico, dem Schäfer-Collie-Mix, der mich elf Jahre lang durch mein Leben auf Hooge begleitet hat. Gehen Sabine, Kinah und ich gemeinsam über die Hallig, begleitet er uns in Gedanken.
Die aufkommende frische Brise im Rücken war angenehm und wir konnten beobachten, wie sie über das Halligland zog und dabei das immer noch satte grüne Gras fast zärtlich berührte. Sanft bewegte es sich und hinterließ eine feine Spur, die sich immer wieder zwischen den Grasspitzen verlief. Den Wind nicht nur fühlen und hören, sondern ihn sogar beobachten, das kann man besonders gut während eines Spaziergangs auf einer Hallig, dachte ich bei mir.
»Jetzt mal Hand aufs Herz, Katja. Hattest du diesen Erfolg des Buches erwartet?«, fragte mich meine Freundin. Sie war seinerzeit eine meiner ersten Leserinnen gewesen und hatte meinen Weg als Autorin von Anfang an begleitet.
»Nie im Leben!«, antwortete ich kurz und knapp.
Mit dem Erfolg von Barfuß auf dem Sommerdeich – so der Titel meines Erstlingswerks, das im Mai 2017 erschienen ist – hatten weder ich noch der Verlag gerechnet.
Im Rahmen einer Rezension gab es den wohlmeinenden Hinweis, dass der Titel etwas irreführend sei. Er würde eher eine Erzählung in Richtung Rosamunde-Pilcher-Liebesgeschichte erwarten lassen als die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die mit 25 Jahren von der Großstadt München auf die überschaubare Hallig Hooge gezogen ist. Tatsächlich dachte ich das auch, als ich den Titelvorschlag des Verlags zum ersten Mal las. Ich musste sofort an romantische Liebesschnulzen denken, die in wunderschönen englischen Grafschaften spielen, sich am immer gleichen roten Faden entlanghangeln und stets auf ein Happy End hinauslaufen. Doch so ziemlich das Einzige, was meine Geschichte mit diesem altenglischen Idyll gemeinsam hat, ist die Nordsee rund um das Eiland, auf dem das Ganze spielt.
Ich ließ mich schließlich vom Verlag überzeugen, und meine Geschichte fand unter dem Titel Barfuß auf dem Sommerdeich den Weg in die Buchhandlungen. Mein anfängliches Bauchgrummeln legte sich, und je länger ich über den Titel nachdachte, desto mehr konnte ich mich mit ihm anfreunden. Die ersten Rückmeldungen erreichten mich auf unterschiedlichen Wegen. Viele Menschen schrieben mir wunderbare Briefe oder E-Mails, nachdem sie mich im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört hatten. Eines sagten fast alle: »Ihr Buch ist so persönlich, Sie geben so viel von sich preis.« Das war mir zuerst gar nicht bewusst. Ich habe doch einfach nur von meinem Leben, insbesondere von den 16 Jahren, die ich zu dem Zeitpunkt auf Hooge lebte, erzählt und meinen Gedanken freien Lauf gelassen. So, als ob ich mich mit jemandem während eines Spaziergangs unterhalten würde. Und plötzlich war es mir klar. Dieser Titel war genau richtig! Er gibt wenig von dem preis, was ich erzählen möchte, aber beschreibt genau, wie ich mich in dem Moment des Erzählens beziehungsweise Schreibens gefühlt habe. Völlig frei von Zwängen und Sorgen – barfuß.
Barfuß auf dem Sommerdeich rund um die Hallig durfte ich die Leserinnen und Leser dazu einladen, mich zu begleiten. Unglaublich, wie viele Menschen mitgelaufen sind, zugehört haben und mit mir in das Halligleben eintauchten. Manche dieser Wegbegleiter haben mir gesagt, dass diese gemeinsame Zeit zu kurz war und dass sie mich ein weiteres Mal begleiten möchten. Sie haben sogar Wünsche geäußert, wovon ich ihnen noch unbedingt erzählen soll. Zum Beispiel von dem Unterschied zwischen einer Hallig und einer Insel. Sie möchten wissen, wie es Schmusi geht, der Kuh, die mein Herz im Sturm erobert hat, und was aus meinem Wunsch, ein eigenes Café zu eröffnen, geworden ist. Sie möchten eine Wattwanderung mit mir machen und noch einiges mehr. Daher spreche ich erneut eine Einladung aus:
Begleiten Sie mich ein weiteres Mal über den Sommerdeich und durch die Halligwelt. Lassen Sie sich vom Wind durchpusten, spüren Sie den feuchten, matschigen Wattboden unter Ihren Füßen, entdecken Sie neue Seiten des Halliglebens und stellen Sie sich mit mir gegen den Wind, der nicht immer nur von hinten bläst. Ich freue mich, Sie an meiner Seite zu wissen.