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KAPITEL 2 Tante Magdas Tracht – noch ein Abschied
ОглавлениеEin Abschied ganz anderer Art hat ebenso 2017 stattgefunden. Dass es irgendwann einmal eintreten würde, war zwar klar, aber als es dann so weit war, hat es mich doch überrascht.
»Nach 15 Jahren möchte ich die Tracht zurück in die Familie holen«, so der Wortlaut der E-Mail, die mich Ende 2017 eines Morgens völlig unerwartet erreichte. In einem Dreizeiler wurde dieser Wunsch an mich formuliert. Zuerst war ich sehr erschrocken, traute meinen Augen nicht, las die Zeilen immer und immer wieder und fragte mich, was ich möglicherweise falsch gemacht hatte. Nach und nach kam Verunsicherung in mir auf, und ich überlegte, ob es eventuell an einer Aussage liegen könnte, die ich im Fernsehen gemacht hatte, mit der ich der Familie, aus der die Tracht von Tante Magda stammt, zu nahe getreten war. Oder hatte ich etwas in meinem Buch geschrieben, das zu diesem Entschluss geführt hatte? Ich hoffte, eine Antwort auf die mich quälende Frage zu bekommen, aber mehr konnte ich nicht erfahren. Tante Magdas einzige Enkelin, die Absenderin der E-Mail und Erbin der Tracht, versicherte mir auf Nachfrage in knappen Worten, es sei einfach nur ihr persönlicher Wunsch und habe private Gründe. Das ist ihr gutes Recht. Magdas Enkelin lebt nicht auf der Hallig, noch nicht einmal in der Nähe. Wir haben uns insgesamt nur zwei-, dreimal gesehen. Sonst hätten wir uns vielleicht auf einen Kaffee oder Tee verabreden und über die Situation sprechen können. Nicht darüber, ob ich die Tracht vielleicht doch noch länger in meiner Obhut hätte behalten können, sondern darüber, wie wertvoll dieses Kleidungsstück für Hooge ist. Vielleicht hätte es die Möglichkeit gegeben, eine Leihgabe für den Ortskulturring daraus zu machen. Die Vorsitzende hütet einige der Gewänder, die damals von Hoogerinnen geschneidert wurden. Dazu weiß sie noch die ein oder andere Geschichte. Für Hooges Chronik unbezahlbar. Diese Idee hatte ich im Kopf, traute mich aber nicht, sie offen auszusprechen. Auch wenn es nur drei Zeilen von einer mir eigentlich fremden Frau waren, die mich aufforderten, mich von der Tracht zu trennen, klangen sie entschlossen und endgültig.
Gute zwei Wochen dauerte der Abschied von einer Tracht, die mir im Laufe der langen Zeit ans Herz gewachsen war. Eine Halligtracht einer alten Hoogerin, die ich noch persönlich kennenlernen durfte. Eine kleine, zarte Frau mit schneeweißen, feinen Haaren und einer im Verhältnis riesigen Brille auf der Nase. Zu ihrer Zeit gab es noch keine kleinen, fast unsichtbaren Lesebrillen. Tante Magda, wie sie liebevoll noch heute von den Hoogern genannt wird, trug sie, wenn sie Kleingedrucktes lesen musste. Eine Telefonnummer, einen Beipackzettel oder Ähnliches. Sie war eine humorvolle Frau, die die Menschen um sich herum mochte. Sie strahlte einen an, wenn man ins Gespräch kam, und sie hatte immer etwas zu erzählen, denn sie lebte mit Leib und Seele auf der und für die Hallig. Sie und einige andere Frauen schneiderten nach alten Vorlagen ihre eigenen Trachten und hielten somit eine schon fast eingeschlafene Tradition am Leben. Die Tracht, die ich tragen durfte, muss aus den 1960ern oder 70ern stammen. Nach Magdas Tod ging die Tracht traditionsgemäß in die Hände der – in diesem Fall sogar einzigen – Enkelin über. Diese wollte damals aber nicht, dass die Tracht nutzlos in ihrem Schrank hing, und stellte sie mir zur Verfügung. Ich durfte sie tragen und tat das immer mit Stolz und dem Gefühl, von der kleinen, zarten Frau, die dieses Schmuckstück einmal mit ihren eigenen Händen geschneidert hat, begleitet zu werden. So zum Beispiel beim alle zwei Jahre stattfindenden Trachtensommer auf Hooge. Ich bin mir sicher, dass Magda von dem Anblick der vielen Menschen in den unterschiedlichsten Trachten aus allen Richtungen Deutschlands begeistert gewesen wäre. Selbst aus Frankreich war einmal eine Gruppe dabei. Ich stelle mir vor, wie Tante Magda mitten unter ihnen gewesen wäre, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Sie mit ihrer fröhlichen und offenen Art hätte sich auch ohne eine gemeinsame Sprache mit den Gästen aus dem Süden verstanden. Diese Vermutung hegte ich vor allem, als wir, die Hooger Trachtentanzgruppe, nach dem offiziellen Abschluss der Tagesveranstaltung mit den Gastgruppen am Anleger standen und auf die Schiffe warteten, mit denen sie wieder ans Festland fahren sollten. Die Franzosen forderten alle umstehenden Personen zu einem letzten gemeinsamen Tanz auf. Sie erklärten die Abläufe, und nicht nur ich verstand kein Wort. In dem Moment fiel mir Magda ein, und ich stellte mir vor, wie ungezwungen sie mit der Situation umgehen würde. Und schon fiel es mir leicht, mich mitreißen zu lassen. Zum Glück! Dieser Abschlusstanz, mit all den unterschiedlichen Menschen, hat für einen kurzen Moment eine Einigkeit und Fröhlichkeit am Anleger der kleinen Hallig mitten in der Nordsee verbreitet, die noch Tage später zu spüren waren. Als Abschlusstanz vorgesehen, tanzten wir ihn gleich dreimal hintereinander. Das war wirklich ein nachhaltiges Erlebnis. So wie jeder Moment, den ich mit und in Magdas Tracht erleben durfte.
Der Abschied fiel mir schwer, und der Gedanke daran, sie abgeben zu müssen, machte mich sehr traurig. Obwohl es natürlich klar war, dass es sich nur um eine Leihgabe handelte und ich keinerlei Anspruch auf das gute Stück hatte. Das habe ich auch in keinem Moment empfunden oder gar erwartet. Mein Ansinnen war es immer nur, diese Tracht lebendig zu wissen.
Der Abgabetag, ein Montag, bot schon morgens sehr wechselhaftes Wetter. Leiser Regen fiel immer wieder, mal kam die Sonne raus, dann war es wieder gräulich und kühl. So ließ sich auch mein Gefühlszustand beschreiben. Ich war traurig, ab und zu liefen mir Tränen über das Gesicht, ich wollte mich nicht von der Tracht trennen. Mit ihr ging auch ein Stück von Tante Magda aus meinem Haus. Dann war mir wieder warm ums Herz, denn ich wusste ja, dass das Kleidungsstück jetzt in die rechtmäßigen Hände kommen würde, in die Hände, die Fleisch und Blut von Tante Magda darstellten. Bessere Hände konnte es nicht geben, denn diese Verbindung war viel intensiver als die meine. Es sollte so sein. Und im nächsten Moment fröstelte ich, denn ich machte mir Gedanken darüber, ob diese Tracht jemals wieder auf Hooge getragen werden würde.
Blicke ich auf diesen Tag zurück, bin ich immer noch sehr traurig. Einfach unglaublich, wie einem ein Stück Stoff ans Herz wachsen kann. Ich hatte schon ernsthaft ins Auge gefasst, mir eine eigene Tracht zuzulegen, allerdings bin ich bis zum heutigen Tag immer noch nicht dazu gekommen, auf die Suche zu gehen. Und ehrlich gesagt will ich das auch gar nicht wirklich. Egal, wie schwingend der Rock, wie leuchtend das bunte Schultertuch oder mit Spitze verziert die Schürze sein wird, es wird immer eine anonyme Tracht sein. Sie wird mir weder eine Geschichte erzählen können, noch wird sie mir ein Bild von der vorherigen Trägerin widerspiegeln können. Das macht es schwierig, sich auf ein neues Kleidungsstück dieser Art einzulassen. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass sich eine solch tiefe Verbundenheit mit einem Kleid, dessen Trägerin und letztendlich auch mit deren Heimat ergeben könnte. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass ich inzwischen eine ebenso tiefe Verbundenheit mit der Hallig empfinde, wie es Magda wohl auf ihre Art getan hat.