Читать книгу Queer lesen - Katja Kauer - Страница 7

2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung

Оглавление

Die Philosophin und Rhetorikprofessorin Judith Butler (*1956) gilt als Begründerin der Queertheorie. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Begehrens ist ihre Publikation Gender Trouble1 aus dem Jahr 1990. Sie erschien bereits 1991 unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter auf Deutsch. Butlers „Unbehagen“ wurde zum Kultbuch, das eine breite, meist auch sehr kritische Rezeption anstieß. Die Schrift erschien nun schon in der 19. Auflage. Es gibt zahlreiche Einführungen in ihr Werk und Judith Butler gilt auch in unserem Fach bereits als „Klassiker[in] der modernen Literaturtheorie.“2 20 Jahre nach Erscheinen der den Queerdiskurs begründenden Publikation wurde die Autorin in einer deutschen Philosophiezeitschrift im Rückblick auf die damals bahnbrechenden Thesen befragt. Ich zitiere eine lange Passage des Interviews, weil diese meines Erachtens in den Kern queeren Denkens einführt.

Ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ handelt von der Frage, wie sexuelles Begehren und geschlechtliche Identität entstehen – eine Frage, die für Sie fundamental für das Verstehen von Kultur ist. Können Sie das erklären?

Zunächst steht Kultur für mich immer im Plural. Wir müssen uns viele Kulturen denken. Doch in fast jedem kulturellen Kontext kommt die Frage auf, ob eine geschlechtliche Festlegung Vorbedingung für kulturelle Teilhabe ist. Muss jemand als Mädchen oder Junge etabliert sein, um in einer bestimmten Kultur verständlich oder erkennbar zu werden? Einige indianische Kulturen haben das Konzept eines dritten Geschlechts. Oder mancherorts bestehen Kategorien für hermaphroditische Menschen. Eine Frage, die mein Buch aufwarf, ist, ob wir im vorherrschenden Gesellschaftsmodell von jemandem eine lesbare geschlechtliche Identität verlangen, um sie oder ihn als Menschen anzuerkennen. Damit wird die Geschlechtsidentität zu einer kulturellen Voraussetzung für das Menschsein.

Sie versuchen in Ihrem Buch zu zeigen, dass unsere geschlechtliche Identität als Mann oder Frau keineswegs natürlich ist. Wie ist das zu verstehen? Gibt es nicht ganz offensichtlich biologische Unterschiede?

Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt. Zum Beispiel sagen Leute zu mir: „Frauen können Kinder gebären, Männer nicht – ist das kein Unterschied? Das leugnen Sie doch nicht!“ Die eigentliche Frage ist aber: Es gibt viele Frauen, die nicht gebären können oder nicht wollen – behaupten wir, sie seien keine Frauen? Wenn wir sagen, Frauen unterscheiden sich von Männern durch diese Fähigkeit, es sich aber herausstellt, dass diese Fähigkeit nicht wesentlich dafür ist, wer sie sind, dann befinden wir uns in einem kulturellen Akt: Wir setzen eine kulturelle Norm der Reproduktion zur Bestimmung eines biologischen Unterschieds fest. Es lässt sich nicht wirklich sagen, was in dieser Debatte biologisch ist und was kulturell.3

Mit diesen Aussagen stehen wir im Zentrum der Heteronormativitätskritik. Denn wenn die Geschlechtsidentität in „kulturelle Deutungsmuster verstrickt“ ist, gilt das auch für das Begehren. Auch ihm ist im Sinne Butlers keine Natürlichkeit zuzuschreiben, denn diese Zuschreibungen unterstehen „einem kulturellen Akt“.

Heteronormativität ist ein zentraler Begriff der Queer Theory, mit dem Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht nur die auf Alltagswissen bezogene Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen, kritisiert wird, sondern auch die mit Zweigeschlechtlichkeit und (ehevertraglich geregelter) Heterosexualität einhergehenden Privilegierungen und Marginalisierungen.4

Unter ‚Heteronormativität‘ versteht man die diskursive Abdrängung des same-sex-desire, also des gleichgeschlechtlichen Begehrens, als einer devianten, somit normwidrigen Erscheinung. Die Norm, dass Menschen das jeweils andere Geschlecht sexuell zu begehren haben, vermittelt zwar den Anschein der Natürlichkeit, in dem Sinne, dass Heterosexualität ‚naturgewollt‘ bzw. ‚naturentsprechend‘ sei, baut aber auf Prämissen auf, die kulturell vermittelt diesen Anschein des Natürlichen herbeiführen. So gilt es beispielsweise als natürliche Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt. Wie die Interviewaussage Butlers zeigt, herrscht bei Genderkonstruktivist*innen die Überzeugung vor, dass diese faktisch so evident scheinende Tatsache kulturell bedingt ist.

In der englischen Sprache lässt sich das Geschlecht eines Menschen mit zwei unterschiedlichen Begriffen bezeichnen. ‚Sex‘ wird als das biologische Geschlecht verstanden, ‚Gender‘ als die sozial-geschlechtliche Rolle. Im Deutschen können wir diesen Unterschied nur als biologisches oder soziales Geschlecht benennen. Es wird im Allgemeinverständnis davon ausgegangen, dass ein biologisches Geschlecht eine soziale Rolle nach sich zieht. Die Rolle sei vielleicht partiell veränderbar, die ihr zugrundeliegende Natur nicht. Das allerdings wird aus konstruktivistischer und queerer Perspektive bestritten. In der Argumentation für einen ‚Wahrheitsanspruch der Natur‘ wird die Möglichkeit bereits ausgeblendet, dass Menschen intersexuell geboren werden oder in der Pubertät hermaphroditisch werden können, also sexuelle Merkmale des anderen Geschlechts ausbilden. Diese Menschen lassen sich bereits ‚biologisch‘ nicht eindeutig im System der Zweigeschlechtlichkeit verorten. Die als Wahrheit geltende Prämisse, man/frau werde entweder als Frau oder als Mann geboren, blendet auch das Phänomen aus, dass einigen Menschen ein biologisches Geschlecht, in der Gendertheorie mit dem Begriff ‚Sex‘ bezeichnet, also die Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zwar attestiert wird, diese Personen sich aber in ihrem Rollenverhalten (Gender) entgegen der für sie gültigen Geschlechtsnorm verhalten. Dies kann so weit gehen, dass sie die an sie gestellte Rollenerwartung provokativ brechen, indem sie sich deutlich den Rollenerwartungen unterwerfen, die für das Geschlecht gelten, dem sie begrifflich nicht angehören. Wie Eveline Kilians Analysen darlegen, gibt es in der Literaturgeschichte Beispiele für diese Phänomene. Ob es dabei um Transsexualität geht, also das Bestreben unter Zuhilfenahme eines operativen Eingriffs und hormoneller Therapie eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen, um Travestie, also den Wunsch, sich nach Normen des anderen Geschlechts zu kleiden und zu stilisieren, oder ob wir weniger auffällige Erscheinungen wie betont burschikose Mädchen und feminin erscheinende Männer, die um 2000 sogar ein Männlichkeitsideal verkörperten, im Blick haben – dieses Wissen kann wenig daran ändern, dass wir an unseren medizinischen, juristischen, sozialen Vorstellungen von ‚naturgegebener‘ Zweigeschlechtlichkeit festhalten. Das tun wir, obwohl auch aus der Biologie Stimmen laut werden, die die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit kritisch erforschen und empirisch widerlegen.5

Die Hinterfragung der Zweigeschlechtlichkeit und die Heteronormativitätskritik sind keine geisteswissenschaftlichen Blüten, die sich betont von den Naturwissenschaften abgrenzen. Doch weiterhin operiert unsere Vorstellung von Geschlechtern mit einer Kette von sozialen Erwartungen und biologistischen Vorurteilen. Judith Butler bezeichnet das kulturelle Geschlechterarrangement, das zwei Geschlechter als sich gegenseitig ausschließende Pole als Norm setzt, als ‚heterosexuelle Matrix‘.6 Von einem biologisch als Mann geltenden Menschen erwarten wir, dass er sich männlich verhält – ein schweres Unterfangen, weil die Vorgaben darüber, was als ‚männlich‘ gilt, nicht eindeutig sind – und seiner Natur gemäß Frauen zu begehren hat. Für einen biologisch als Frau geltenden Menschen gilt im Umkehrschluss dasselbe. Eine Frau soll sich weiblich verhalten, was noch um Einiges schwieriger ist, weil die Rollenstereotype von Weiblichkeit noch kurzlebiger und kontextabhängiger als die von Männlichkeit sind, eingedenk der Tatsache, dass die feministischen Wellen ebenfalls deutlich dazu beigetragen haben, ‚Weiblichkeit‘ als Rollenvorgabe zu kritisieren. Nichtsdestotrotz gelten bestimmte Vorschriften für sie, nach denen reziprok von ihr erwartet wird, dass sie ihr Begehren auf einen Mann richtet. Eine Geschlechtsidentität setzt sich also aus den Kategorien ‚Sex‘ (biologisches Geschlecht), ‚Gender‘ (soziales Geschlecht, also geschlechtliches Rollenverhalten) und ‚Desire‘ (Begehren des anderen Geschlechts) zusammen. Diese Kategorien müssen kohärent sein, um eine mit der heterosexuellen Matrix in Einklang stehende Geschlechtsidentität zu bilden.

Das heterosexuelle Begehren wird auch mit einem weiteren Totschlagargument verteidigt: Neben dem Verweis auf die Existenz von zwei Geschlechtern dient der Hinweis, dass sich diese männlichen und weiblichen Wesen (man bedenke allerdings ‚nur‘ unter bestimmten Umständen) erfolgreich fortpflanzen können, als Fundament der Heteronormativität. Sexualität diene hauptsächlich der Fortpflanzung und mit diesem moralischen Diktum schreibt man den Geschlechtern ein ‚naturgewolltes‘ Begehren zu. Die kulturelle Norm der Reproduktion sorgt dafür, dass wir ein kinderloses heterosexuelles Paar für ‚natürlicher‘ halten als ein homosexuelles Paar, das Kinder hat, weil wir nämlich die Reproduktion, die nur heterosexuell erfolgen kann, als eigentliche Ursache der Paarbildung deklarieren, selbst dort, wo (heterosexuelle) Paare weder Kinder haben können noch wollen. Wenn wir gegen die (angebliche) Natur begehren, gilt dies vielleicht (zumindest in der säkularisierten Kultur, in der wir aufgewachsen sind) nicht mehr als Sünde, aber doch als ‚abnorm‘. Da sich die meisten Menschen tolerant wähnen, wird die Lebensform zwar akzeptiert, doch auch für so manchen Toleranten bleibt Homosexualität dem Wortsinn nach ‚abwegig‘. Die 2017 im Bundesrat verabschiedete ‚Ehe für alle‘ ist zwar ein Meilenstein für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen. Sie ändert jedoch nicht sofort unser Begriffssystem. Die Tatsache, dass Menschen, die das eigene Geschlecht begehren, keine prokreative Sexualität mit der begehrten Person leben können, also eine Sexualität, die primär dem Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft unterstellt ist, wurde in unserer Kultur als festes Zeichen dafür gedeutet, dass die Natur ‚wünscht‘, dass Männer eben nur Frauen begehren (natürlich die ‚richtigen‘, also gebärfähigen und -willigen) und andersherum. Diese Logik ist jedoch inkonsistent. Wenn die Natur so klug ermäße und einen Schöpfungswillen hätte, wie kann sie zeugungsunfähige Männer, unfruchtbare Frauen oder Menschen ohne Kinderwunsch hervorbringen? Wieso verlangt es Menschen auch unabhängig von einem Kinderwunsch nach Sexualität? Wären diese sexualfreudigen, aber kinderlosen Menschen nicht ebenso von Mangelhaftigkeit gekennzeichnet wie intersexuell geborene Menschen, was sie ähnlicher, wenn auch nicht gleich starker Diskriminierung aussetzen müsste? Ist es ein Verrat an der Natur, ein Kind mit einem anderen Menschen großzuziehen als mit dem Menschen, mit dem es gezeugt wurde? Sind alte Menschen, die keinen prokreativen Geschlechtsverkehr mehr haben können, in ihrer Sexualität auch naturwidrig? Halten wir es für legitim, wenn sie noch Begehren spüren oder äußern? Dürfen Menschen, die keine Kinder wollen, eigentlich jemanden ‚begehren‘? Im 19. Jahrhundert wäre die Frage in Bezug auf Frauen sofort verneint worden. Anständige weibliche Wesen hätten überhaupt kein sexuelles Begehren zu haben, allein ihr unumstrittenes Schicksal, von Gott oder Natur zur Mutterschaft berufen zu sein, zwänge sie, Sexualität über sich ergehen zu lassen. Eine aktiv begehrende Frau wäre im 19. Jahrhundert ebenso suspekt wie im 20. Jahrhundert eine Frau, die kein körperliches Begehren kennt. Sowohl die hier gestellten Fragen als auch die historischen Kontextualisierungen erweisen sich bereits als queere Intervention, weil sie an der Logik rütteln, dass Sexualität nur vom prokreativen Sexualakt und nur von der Zweigeschlechtlichkeit aus gedacht werden kann und dass rein lustbetonte Sexualität, sowohl hetero- als auch homosexueller Art, eigentlich nur ein Derivat dessen sei, was Natur ‚ursprünglich‘ vorgibt. Bereits heterosexuelle kontrazeptive Sexualität gewinnt bei näherer Betrachtung nach dieser Logik den Anschein des Unnatürlichen.

Faktisch betrachtet denken und begehren wir natürlich nicht so fortpflanzungsgerichtet, wie die an der Reproduktion orientierte Logik suggeriert, selbst wenn immer wieder populärwissenschaftliche Thesen aufkommen, in denen unsere Bindung an andere Menschen mit der Fortpflanzungsorientierung erklärt und durch recht absurd anmutende Annahmen belegt werden. Ich will für diesen Diskurs, der vor allem Frauen auf ihren Status, Kinder gebären zu können, vereidigt, ein Beispiel geben.

Vor ca. 10 Jahren wurde im populärwissenschaftlichen Kontext breit diskutiert, wie sich die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel auf die weibliche Partnerwahl auswirke. Es wurde die These aufgestellt, dass die Zugabe von Hormonen die Frauen von ihrem eigentlichen ‚Beuteschema‘ ablenke. Statt maskuliner Männer, die sie natürlicherweise eigentlich begehren, würden sie sich für femininere Männer begeistern, da ihre Psyche hormonell verblendet sei. In der Diskussion dieses Themas wird fraglos Sex als Gender gelesen, das heißt die Definition dessen, was als maskuliner (begehrenswerter) Mann und was als femininer (vom Standpunkt des natürlichen Instinkts weniger begehrenswerter) Mann gilt, obliegt allein der äußerlichen Wahrnehmung. Den Frauen, die mit der Pille verhüten, werde durch ihren Körper eine Schwangerschaft vorgegaukelt. Das führe dazu, dass sie nun keine maskulinen Partner wählen, sondern ‚weiblichere‘, ‚verweichlichtere‘ Typen bevorzugen würden. Ihre Hormonverneblung brächte eine Frau dazu, im Hinblick auf den Wunsch, ihre Nachkommen mit einem verlässlichen Mann aufzuziehen, die Objekte ihrer sexuellen Wahl zu ändern. Abgesehen von der latenten Männerfeindlichkeit dieser These, die impliziert, dass die ‚richtigen Männer‘ allein für den Sexualakt, also als ‚Samenspender‘ für Frauen interessant seien, aber für das Leben danach die weniger männlichen Typen vorgezogen werden müssten, stützte sich das Argument der Dominanz des Gender im biologischen Diskurs um Sex auf Folgendes: Obwohl es sich eigentlich um eine biologisch begründete These handeln soll, die über ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ im Sinne von Sex reden möchte, wird doch beim Überdenken dieser Thesen klar, dass, wenn Frauen angeblich verfälscht begehren, sich dieses (falsche) Begehren bloß auf der Ebene von Gender zeigen kann. So heißt es etwa in der „Süddeutschen“: Unvernebelt, also ‚biologisch richtig‘, begehren Frauen Männer mit „ausgeprägten Gesichts- und Körperformen.“ In der Phase, in der die Pille eingenommen wird, „[s]tehen sie sonst eher auf ausgleichende, harmoniebedürftige Partner.“ Nur ohne Pille „schätzen sie […] aggressivere, konkurrierende Typen, die den Frauen selbst nicht ähnlich sind.“7 In anderen Texten, die diese Studie referierten, wurden diese „Gesichts- und Körperformen“ als kantiges Kinn, die hormonvernebelt begehrten Männer als jene mit zarterem Aussehen benannt.

Ganz bewusst habe ich ein seriöseres Medium als die Frauenzeitschrift zitiert, die mich als Erstes über die bahnbrechende Erkenntnis unterrichtete, denn auch ohne dass wir blumigere Erläuterungen über die intrinsisch begehrenswerte Männlichkeit brauchen, die eher einem Groschenroman denn einem Wissenschaftsreport entsprechen würden, sehen wir, dass das Sprechen über ‚rein biologische‘ Phänomene bereits im kulturellen Kontext verankert ist. Sowohl die Vorstellung, was ausgeprägt männliche „Gesichts- und Körperformen“ sind, die sich, wie wir wissen, durchaus nach Moden ändern können, als auch die Annahme, dass Aggression und Konkurrenz urtypisch männlich sind, während Harmoniebedürftigkeit und Ausgeglichenheit bei Männern bereits als Degenerationserscheinung gelesen werden kann, verdeutlicht, dass der Begriff vom richtigen männlichen Partner ebenso kulturell geprägt ist, wie der Begriff des Begehrens heteronormativ gesetzt ist. Argumente, die das sexuelle Verhalten auf den Reproduktionswillen zurückführen, halten sich nicht so streng an die Biologie wie es scheinen mag. Die fragwürdigen Thesen artikulieren sich innerhalb der heterosexuellen Matrix. Mir geht es in diesem Beispiel darum, zu zeigen, dass wir tatsächlich auch im Alltag unsere Aussagen über die Biologie kulturell und damit auch heteronormativ verortet haben. Die Folie, vor der diese Thesen entstanden sind, ist, dass Frauen ‚richtige Männer‘ begehren, die ihnen „selbst nicht ähnlich sind“; wenn das Begehren aber gestillt ist, weil der Körper sich nun hormonell im Zustand einer Schwangerschaft befindet, scheinen gerade diese begehrenswerten Männer nicht als die Väter zu taugen, die Frauen zum Lebenspartner wählen würden. So seien die armen, hormonell verhütenden Frauen in ihrem natürlichen Begehren gehemmt und entschieden sich gegen die Männer, denen das ‚Mannsein‘ auf den Leib geschrieben ist. Die Entscheidung, dass der richtige, also authentisch zu begehrende Mann über „ausgeprägte Gesichts- und Körperformen“ verfügen müsste, trifft aber nicht die Biologie, sondern die Kultur.

In einem 2008 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Mann, was sind wir hart nimmt Franziska Bergmann einen im Sommer 2007 erschienenen FAZ-Artikel unter die Lupe. Der provokante Artikel Das arme Arschloch des Mannes von Baltazar Castor, der „mit althergebrachten Rollenbildern ab[rechnet]“8, bringt die Autorin dazu, „das weitestgehend unhinterfragt existierende Tabu der sexuellen Penetration des heterosexuellen männlichen Körpers“9 als Ausdruck heteronormativer Kategorien aus kulturhistorischer Sicht zu überdenken. Sie bezieht sich dabei auf die in der Männlichkeitsforschung zu einem Primärtext gewordene zweibändige Publikation Klaus Theweleits10 aus den 1970er Jahren, in der die Männlichkeitskonzeption eines gepanzerten, soldatischen Männerkörpers kritisch beleuchtet wird. Um in die heterosexuelle Matrix zu passen, untersteht der männliche Körper einer klaren Körpergrenze.11 Diese Grenze ist durch ein „Penetrationsverbot“ geschützt, was der Autor des FAZ-Artikels als kulturelles Vorurteil kritisiert. Bergmann geht in ihrer Analyse aber so weit, das Penetrationsverbot nicht als Verblendung, sondern als fest verankerte Tatsache in unseren heteronormativen Vorstellungen männlicher Körperkonzepte zu erklären. Sowohl die Körperwahrnehmung als auch die sexuellen Praktiken werden im heteronormativen Denken begrenzt und normiert.

Die Monita, die aus queerer Überlegung gegenüber den Alltagsweisheiten vorgebracht werden können, führen jedoch nicht dazu, den ‚Sinn‘ von Sexualität zu überdenken. Würde die Queertheorie anstelle der Prokreativität nun das Lustargument setzen, bliebe sie derselben Gesetzmäßigkeit verhaftet, die Sexualität mit einem natürlichen Sinn ausstattet. Ist aber nicht der ‚Sinn‘ unserer Sexualität schon längst kulturell überformt? Es geht darum, die Norm und ihre ‚Natürlichkeit‘ in Frage zu stellen, nicht darum, eine andere Norm des vielleicht besseren Begehrens, einer besseren Geschlechtsidentität (Sex), besseren Genders zu entwerfen, sondern zu zeigen, wie der uns so authentisch anmutende Bereich der Sexualität, wie auch unsere Körper (nicht bloß der Geist) und das dingliche Begehren dieser Körper, kulturellen Mechanismen unterliegen. Diese Mechanismen sind so wirkungsmächtig, dass sie den Blick auf eine darunter liegende Natur völlig verstellen. Kein/e Queertheoretiker*in verleugnet Natur. Aus queertheoretischer Perspektive ist sie, wie das Ding an sich bei Kant, eben einfach nicht sichtbar, denn obwohl sich Heteronormativität auf Natur beruft, ist sie auf einen mächtigen argumentativen Unterbau angewiesen, der die Vorstellung von Natürlichkeit als das Wahrhaftige in Stand setzt.

Dieser Unterbau kann in der Analyse von literarischen Texten immer wieder ins Wanken gebracht werden. Die Beschäftigung mit literarischen Texten kann einer queeren Kritik ebenso dienlich sein wie die Forschungen in empirischen Wissenschaften. Zu widersprüchlich sind die herrschenden Gendervorstellungen, als dass sie nicht permanent Uneindeutigkeiten hervorrufen würden. Interessanterweise bringen auch Texte das Phantasiebild der Heterosexualität ins Wanken, die diese eigentlich affirmieren.

Die heterosexuelle Matrix entfaltet ihre Macht, indem sie die Annahme von der Existenz zweier Geschlechter mit der Fiktion verknüpft, dass sich Männer und Frauen nicht nur in ihrer körperlichen Erscheinung, sondern auch in ihrem Auftreten, quasi per Natur, unterscheiden würden. Es gehört schon zu den Grundannahmen des Egalitätsfeminismus, dass die sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau kulturell produziert worden sind. Wir manifestieren auf vielen sozialen, kulturellen und politischen Ebenen die Vorstellung von einer einander andersgearteten weiblichen und männlichen Physis/Psyche. Es besticht durch eine sozusagen faktische Evidenz, dass Männer und Frauen sich unterscheiden, und es erscheint uns manchmal bequem und schmeichelhaft, diese Vorstellung selbstherrlich und blind zu bedienen. Dass diese Unterschiede jedoch als biologisch verankert betrachtet werden können, stellt Butler – und mit ihr die Queertheorie – in Frage. Sie lehnt es ab, die phänomenologische Gegensätzlichkeit der Geschlechter, also die sexuelle Differenz, in den biologischen Bereich zu verschieben. Queertheoretiker*innen sehen ‚Sex‘ und ‚Gender‘ nicht als etwas, das einfach so ist, sondern werten die Geschlechterdifferenz als (kulturell gewachsene), als gewordene Erscheinung.

Ist das naiver Idealismus? Diese Frage stellten sich viele kritische Stimmen nach Erscheinen von Gender Trouble, und zwar nicht nur diejenigen, die einer konservativen Geisteshaltung zu verdächtigen sind. Mutet das, was Butler postuliert, nicht einfach viel zu kontra-intuitiv an, weil wir ja ständig die Geschlechterunterschiede vor Augen haben und nach ihnen leben (müssen und wollen)? Ist es nicht so, dass wir bereits, wenn wir das stille Örtchen aufsuchen, mit unserer Geschlechterdifferenz konfrontiert werden? Ist das bestreitbar? Butlers Argumente postulieren keineswegs eine Nichtexistenz des Körperlichen, sondern sie verweisen darauf, dass wir die Geschlechterdifferenz nur kulturell vermittelt wahrnehmen können:12

Die Radikalität dieser Position löste vor allem in der deutschen Butler-Rezeption eine vehemente Debatte aus, die sich auf den Status des Körpers in seiner unhintergehbaren Materialität konzentrierte. Dazu ist zu bemerken, dass Butlers Konstruktionsgedanke die Materialität des Körpers keineswegs leugnet, wie manchmal behauptet. Vielmehr geht es ihr darum zu zeigen, dass der dem Individuum vorgängige, auf Zweigeschlechtlichkeit basierende Geschlechterdiskurs als Regulativ fungiert, das nur solche Arten von Materialisierung hervortreten lassen kann, die innerhalb dieses Diskurses lesbar sind.13

Das biologische Geschlecht ist kulturell determiniert, weil die Interpretation bestimmter Organe als primäre Geschlechtsorgane bereits eine kulturell vorgegebene Praxis ist. „Als Ort kultureller Interpretationen ist der Körper eine materielle Realität, die bereits in einem gesellschaftlichen Kontext lokalisiert und definiert ist.“14 Lehrt uns die Sorge um die hormonelle Verneblung nicht genau das, was Butler hier behauptet? Die Queertheorie fragt, wie diese Unterschiede als Vorspiegelungen einer unterstellten natürlichen Wahrheit von Geschlechterdifferenz kulturell hervorgebracht und vermittelt werden, und geht davon aus, dass der Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit nicht biologisch, sehr wohl aber begriffslogisch festzumachen sei. Demnach wäre es durchaus denkbar, dass es Gesellschaften geben könnte, die ihre Geschlechter in ein Dreier- oder Vierermodell einordnen und dass es ebenso viele Erscheinungen unserer Kultur gibt, die dem Zweigeschlechtermodell zuwiderlaufen, aber sprachlich missachtet, nicht ernst genommen und so in ein diffuses Außen abgedrängt werden. Auf analytischer Basis betrachtet ist die binäre Geschlechterdifferenz Ausdruck des binär geordneten Denksystems unserer Kultur. Das Denken in sich ausschließenden Gegensätzen (schwarz vs. weiß, hoch vs. tief oder eben männlich vs. weiblich) bestimmt die abendländische Denkstruktur. Diese Denkstruktur ist auch im Bereich des Sexuellen derart fundamental, dass sie die Aufteilung der Geschlechter in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ ebenso nachhaltig prägt. Doch gerade in diesem Bereich zeigt sich, dass die binären Begriffe ‚Mann‘/‚Frau‘ oft unzulänglich sind, weil sie einer Vielfalt des Geschlechtlichen kaum gerecht werden, ja dass auffallen muss, wie wir in einer Denkstruktur verharren, die kaum plausibel und empirisch widerlegt ist.

Wie kann es sein, dass „die Wissenschaft“ als Begründungsinstanz mit der Unterstellung gerade heilsbringender Vergewisserung für die immer wieder perpetuierte „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität herhalten muss (und dies teilweise auch bereitwillig tut), während genau diese (Natur-, Sozial und Geistes-) „Wissenschaft“ regelmäßig und produktiv den Blick auf das „Geschlecht“ verkompliziert – sieben Jahrzehnte nach Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe und fünf Jahrzehnte nach Stonewall?15

Die Frage spiegelt zwei Jahrzehnte nach Butlers Gender Trouble dasselbe ungläubige Erstaunen gegenüber dem Beharren auf einer „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität“ wider, die den genderkonstruktivistischen Thesen damals noch entgegengehalten wurde. Das Beharren auf „Zweigeschlechtlichkeit“ scheint auch aus studentischer Sicht überholt. Das zeigt mir meine bisherige Lehrerfahrung. Wenn Studierende ihr erstes Seminar zu Queer Studies belegen, ist es nicht selten so, dass zwanzig Jahre intellektueller Auseinandersetzung auf 14 mal 2 Semesterwochenstunden komprimiert werden müssen. Öffnet sich der Erkenntnisweg, wird plötzlich das, was erst so unplausibel erschien, offenkundig. Zu viele Texte widerlegen die Heteronormativität. Wenn es für einige Studierende erst einmal eine intellektuelle Hürde darstellen kann, die Zweigeschlechtlichkeit produktiv zu hinterfragen, mutet hingegen den Studierenden, die sich bereits länger mit Gender beschäftigt haben, das Phantasma einer sich stetig bewährenden Heterosexualität, die vorbildlich in einer „hierarchisch-sphärengetrennten Kleinfamilie“ gelebt wird, „empirisch unsinnig“ an.16 Sie stimmen mühelos in den Ton der queer Denkenden ein.

Um nicht gnadenlos betriebsblind mit Judith Butler als Gewährsfrau des Queeren zu operieren, schränke ich die Wiedergabe ihrer Thesen, die seit den 1990er Jahren in fast jedem Buch, das sich mit Gender auseinandersetzt, nachzulesen sind, auf die zentralen Aspekte ein. Ich möchte an dieser Stelle einen Text für das Selbststudium vorschlagen. Der Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault17 eignet sich dafür gut. Während Gender Trouble ohne vorherige Kenntnis der Theorie auf Deutsch schwer zu rezipieren ist, ist dieser Aufsatz auch für Leser*innen ohne Vorkenntnisse als Einstieg zu empfehlen. Hier benennt Butler einige ihrer denkerischen Wurzeln, die auch immer in Einführungstexten zu Gender Studies referiert werden. Wie Simone de Beauvoir (1908–1986)18 schon in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts darlegte, werde man nicht als Frau geboren, sondern durch systematische Erziehungsprozesse zu dem sozialen Wesen ‚Frau‘ gemacht. Diese Erkenntnis radikalisiert die Philosophin Butler mit ihrer Behauptung, dass die Projektion der sozialen Zuschreibungen (Gender) auf den Körper der Frau erst das natürliche Geschlecht (Sex) als eine wie auch immer geartete prädiskursive Figur erschaffen würde, die aber selbst jenseits der Gendervorstellung keine Essenz, ja keinen Raum hätte. Die Kultur macht eine Frau also nicht nur sozial, sondern auch biologisch zur Frau, denn ursprünglich für die Geschlechtszuschreibung einer Person sei Gender. Die sozial erworbene Rolle einer Person bestimmt deren Geschlecht (auch im Sinne von Sex), obwohl man es gemeinhin andersherum betrachtet. Besonders hervorzuheben ist in Butlers Theorie der Begriff der Performativität. Damit ist die darstellerische Realisierung der jeweiligen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau gemeint. Nicht die Natur verleihe demnach den Menschen ihr Geschlecht, sondern die zwanghafte und doch oftmals zum Scheitern verurteilte performance vermittelt die Identität eines Menschen. Sie lässt das Geschlecht erscheinen. Der Begriff stammt aus der Theatersprache. Es ist jedoch nicht so, dass eine einmalige Aufführung der Geschlechtsidentität genüge, um als Mann oder Frau ‚durchzugehen‘ (was im Englischen als passing bezeichnet wird), sondern dass Geschlecht ständig zur Vorstellung gebracht wird. Diese Vorstellung der sozial erworbenen Rolle geht Sex voraus. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung benennt Butler mit der rhetorischen Figur der Metalepsis. Dies ist für uns Literaturwissenschaftler*innen sehr spannend. Barbara Vinken fasst Butlers Thesen so zusammen:

Die Metalepsis produziert als rhetorischen Effekt eine vorausliegende Ursache, als deren Wirkung sie sich darstellt. Metaleptisch produziert gender das Geschlecht (sex), als dessen Konsequenz es auftritt. Die Metalepsis funktioniert, um einen verwandten Effekt zu zitieren, wie Roland Barthes’ „effect de réel“; dessen „Realismus“ ist nichts der Abbildung Vorhergehendes, sondern ebenfalls erst Effekt der Darstellung, Effekt einer bestimmten Rhetorik.19

Die Bezugnahme auf den Semiotiker Barthes zeigt, dass wir uns in einem genuin literaturwissenschaftlich zu erforschenden Bereich bewegen. Texte sind angereichert mit Vorstellungen von Geschlecht, die keine universelle Gültigkeit haben, die oft widersprüchlich sind sowie unbeständig und dennoch vermögen sie, das Geschlecht real werden zu lassen. Nur über die Wahrnehmung der sozialen Rolle, sei es in der sozialen Realität oder im literarischen Text, sprechen wir den Personen ein Geschlecht zu, welches wir jedoch als biologische Tatsache verstehen. Die Queerforschung in Deutschland entstand durch die Rezeption von Butlers Thesen und in dem Versuch, diese Thesen an geeigneten Gegenständen nachzuvollziehen.

Queer lesen

Подняться наверх