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3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft

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Queerforschung besteht für Literaturwissenschaftler*innen unter anderem darin, die Performanz der Figuren zu prüfen und herauszufinden, inwieweit die Figuren auch eine andere als die rein heteronormative Auslegung zulassen. Sie rekurriert dabei nicht auf die Natur und auch nicht auf eine übergeordnete Wahrheit. Wir interessieren uns als Philolog*innen selbstverständlich nicht für die Biologie der literarischen Figuren, denn wie sähe ein Chromosom einer fiktionalen Gestalt auch aus? Wenn wir über Geschlecht reden, reden wir allemal über die geschlechtlichen Rollen. Wie bereits eingangs erwähnt, hat das breite Theoriegeflecht, das Queer Studies eröffnen, auch den Ruf obskur und unseriös zu sein. Daher haben wir in den Literaturwissenschaften keine Publikationsflut und es gibt in mancher Hinsicht eine gewisse Scheu vor queerem Denken.

Wie sieht die Forschungsdiskussion in der deutschen Philologie aus? Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gehört die queere Textarbeit in den Theorierahmen des Poststrukturalismus, aus dem sich die entnaturalisierte Geschlechtertheorie der Rhetorikprofessorin Butler speist.1 Poststrukturalistische Textarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass es ihr nicht darum geht, etwas wie die ‚Wahrheit‘ und die ‚Wesentlichkeit‘ der Dinge zu artikulieren, sondern gerade die Annahme, dass es etwas Letztgültiges überhaupt geben könne, zu kritisieren. Begriffe haben keine festen Bedeutungen, scheinbar feste Semantiken werden im Gebrauch ständig unterlaufen. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004), der Begründer der wissenschaftlichen Methode ‚Dekonstruktion‘, hat dieses Scheitern eindeutiger Signifikation u.a. in seiner einflussreichen Schrift „Grammatologie“2 thematisiert, die 1983 erstmals auf Deutsch aufgelegt wurde. Neben ihm gilt der Diskurstheoretiker (bzw. der Begründer dieser wissenschaftlichen Methode) Michel Foucault (1926–1984), dessen Augenmerk darauf gerichtet ist, wie Wissen, das oft nur mangelhaft generiert ist, dennoch als ‚wahr‘ zu gelten vermag und Macht über die Subjekte ausübt, als ein wegweisender poststrukturalistischer Denker, auf dessen Prämissen Queertheorie aufbaut. Michel Foucault versteht auch ‚Sexualität‘ als ein kulturelles Konstrukt, das durch Diskurse hervorgebracht wird. Diskurse prägen das menschliche Verständnis von Realität über Gegenstände alle Art. Sie sind sprachlich, indem sie Definitionen liefern, operieren aber auch auf nicht sprachlicher Ebene. Foucaults Texte, so zum Beispiel Der Wille zum Wissen3, sind seit den 1980er Jahren im deutschen Sprachraum breit rezipiert und in vielen Auflagen publiziert worden. Sie haben in der Literaturwissenschaft einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Während in den 1990er Jahren poststrukturalistische Literaturwissenschaft als mondän galt, wird der Begriff heute nicht mehr als gängiges Schlagwort gebraucht. Es mag sogar rückständig klingen, sich als ‚Poststrukturalistin‘ zu bezeichnen. Der Poststrukturalismus lebt jedoch in vielen geisteswissenschaftlichen Methoden, so auch der Gender- und Queertheorie, weiter. Sein kritischer Anspruch ist nicht passé. Der Verzicht auf einen letztgültigen Wahrheitsanspruch und die Hinterfragung der Machtstrukturen sind für die queere Lektüre kennzeichnend. Die Wiener Literaturwissenschaftlerin Anna Babka, die auch Leiterin der Forschungsstelle „Queer-reading in den Philologien“ an der Wiener Universität ist, zeigt in ihrem Band Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie (mit Gerald Posselt) die Genese der Queertheorie im literaturwissenschaftlichen Bereich.4 In einer älteren Publikation Queer Reading in den Philologien, herausgegeben mit Susanne Hochreiter, wird das Theoriekonzept durch einzelne Aufsätze erklärt. Dort werden aber auch Beispiele für eine Umsetzung der Theorie geliefert.5 In meiner Einführung verzichte ich darauf, die Genese der Queertheorie aus den poststrukturalistischen Theorien zu explizieren. Stattdessen werde ich versuchen, konkret an Texten zu arbeiten, was aber durchaus als ‚Dekonstruktion‘ und ‚Queer Reading‘ der Texte firmieren kann. Wo können wir eine theoretische Vorstellung von einem ‚Queer Reading‘ gewinnen, um zur Praxis vorzustoßen?

Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf den 2003 erschienenen, bereits zitierten Einführungsband Queer denken von Andreas Kraß.6 Der Autor zählt zu den prominenten Kritiker*innen der Heteronormativität im germanistischen Bereich.7 In diesem Band sind viele grundlegende Texte für die literaturwissenschaftliche Arbeit zusammengestellt. Diese Publikation ermöglichte es den Germanistikstudierenden des neuen Jahrtausends, Queer Studies in ihrem Fach umzusetzen. Es empfiehlt sich jedoch, auch sein jüngeres Buch Ein Herz und eine Seele in die Hand zu nehmen, um die Heteronormativitätskritik durch eine Geschichte der Männerfreundschaft expliziert zu sehen. Kraß zeigt dort, dass sich das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität zwischen Männern im Laufe der Zeit nicht als homogen erweist.8 Der Gegenstand der Untersuchung ist ein heterosexueller, nämlich die (homosoziale) Freundschaft unter heterosexuellen Männern, aber Kraß’ queerer Blick auf diese hochgelobte seelische Bindung unter Männern verdeutlicht, dass sie bestimmter diskursiver Strategien bedarf, die sexuelle Dimension zu leugnen oder fernzuhalten.

Keine literaturwissenschaftliche Einführung in ein Queer Reading bietet eine simple Anleitung, deren Vorgaben eins zu eins nachgeahmt werden können, um zum gewünschten Erfolg zu führen. Dieser Umstand trifft natürlich auch auf andere Methoden zu, erweist sich für Queer Studies allerdings als sehr prägnant. Bei der Etablierung eines eigenen queeren Blickes, also der Anwendung der Theorie in der Praxis, erscheint er Studierenden meiner Erfahrung nach als besonders hohe Hürde. Ich gehe davon aus, dass die meisten Studierenden, die sich der Theorie öffnen, diese auch zu überblicken vermögen, sich jedoch nicht sofort zutrauen, selbst einen Text queer zu lesen. Um diese Fähigkeit auszubilden, müssen wir uns bewusst machen, dass in den Queer Studies zwar einerseits die Entnaturalisierung von Genderidentitäten als grundsätzliche Prämisse gilt, dass aber andererseits die theoretischen Texte, die sich damit beschäftigen, nicht unsere einzige Quelle und Inspiration darstellen. Bereits vor Butler (oder etwa zeitgleich) arbeiteten sich Philosoph*innen, Dichter*innen und Denker*innen an der Kategorie ‚Geschlecht‘ kritisch ab. Auch diese Forschung denaturalisiert die Heteronormativität, jedoch meist nicht auf sprachanalytischer Ebene, sondern durch historische Analysen. Die Arbeit einer queer denkenden, lesenden Literaturwissenschaftlerin besteht darin, eine Kontrastierung zur Norm in den Texten zu zeigen. Diese Arbeit beruht meines Erachtens auf zwei Wurzeln der Queer Studies. Zum einen verfügen wir über die theoretische Basis, die nicht nur, aber doch hauptsächlich, mit dem Namen Judith Butler verbunden ist und für die der 1991 eingeführte Begriff ‚queer‘ generaliter verwendet wird. Sie würde ich als die sprachkritische, sprachphilosophische (oder auch poststrukturalistische) Basis des Queeren bezeichnen, die im akademischen Rahmen zum „Sammelbegriff für einen neuen kritisch theoretischen Zugang“9 systematisiert wurde. Daneben gibt es aber auch eine phänomenologische Wurzel der Queer Studies, die von all jenen Wissenschaftler*innen gepflanzt wurde, die sich am Gegenstand der Literatur mit den vielschichtigen, nicht heteronormativen Erscheinungsformen von Geschlecht und Begehren befasst haben. Diese prä-butlerschen (und in gewisser Weise prä-queeren) Studien, die vor den 1990er Jahren entstanden, werden meist der akademischen Disziplin der Gay and Lesbian Studies zugerechnet, weil sie zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als es den „Sammelbegriff“ ‚queer‘ als akademisches Konzept noch nicht gab. Einige Texte dieser Couleur gelten dessen ungeachtet als Klassiker der Queer Studies. Ich werde dafür einige Beispiele liefern. Diese methodische Quellensituation wurde in der deutschen Philologie nie systematisch reflektiert. Einige Klassiker des queeren Denkens sind noch nicht oder nur teilweise ins Deutsche übersetzt.

Der Essay Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz der Lyrikerin Adrienne Rich (1929–2012) allerdings kann auch im deutschsprachigen Raum auf eine über 40jährige Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Er entstand im lesbisch-feministischen Kontext der USA der späten 1970er Jahre. Das englischsprachige Original Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence10 wurde 1980 verfasst und 1986 in Richs Buch Blood, Bread, and Poetry: Selected Prose, 1979–1985 veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung kam 1983 heraus.11 In diesem Essay wird der Begriff der Zwangsheterosexualität (compulsory heterosexuality) etabliert. Damit entnaturalisierte Rich das Konzept der Heterosexualität. Der Aufsatz setzt sich zum Ziel, alle etablierten Begründungen für weibliche Homosexualität, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden haben, zurückzuweisen. Da sowohl für Männer als auch für Frauen die Mutter die erste emotionale und erotische Bindung darstelle, hinterfragt Rich die herkömmliche Psychoanalyse und argumentiert dafür, dass für Frauen die Wahl eines homosexuellen Objekts eine ganz ‚natürliche‘ sexuelle Orientierung wäre, weil sich Frauen anderen Frauen gegenüber seit der Kindheit in einem lesbischen Kontinuum bewegen. Über dieses Konzept wird im Laufe dieses Buches noch zu sprechen sein. Seine Pointe besteht darin, dass weibliche Homosexualität, falls sie von Frauen als sexuelle Präferenz gewählt würde, keinesfalls eine Diskontinuität in der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsidentität bedeute, da die Liebe zu einer anderen Frau eine Konstante in der weiblichen Sozialisation darstelle. Der lesbische Feminismus, in dem die Frauenliebe als Wahl und nicht als pathologisch bedingte Not gelebt wurde, ist durch Richs Essay inspiriert und beglaubigt worden. Der Essay hat auch 40 Jahre nach seiner Entstehung nichts an seiner inspirativen Kraft, Beziehungen unter Frauen neu zu denken, verloren. Die Thesen sind allerdings eng in einen bestimmten politisch-feministischen Kontext eingebunden und zeigen sich nicht mehr in jeder Hinsicht als zeitgemäß. So ist nicht auszuschließen, dass in der heutigen Gegenwart Väter für die Kinder eine ähnlich bedeutende Rolle einnehmen, die damals nur den Müttern zugebilligt wurde, was Zweifel an der These aufkommen lässt, dass ausschließlich die Mutter die erste erotische Bindung eines Mädchens darstellt. Dieses Studienbuch widmet Richs Essay ein eigenes Kapitel, in dem gezeigt wird, dass sich ihre Thesen für die literaturwissenschaftliche Arbeit weiterhin als durchaus fruchtbar erweisen. Die Philosophin Monique Wittig (1935–2003) denkt noch radikaler als Rich, indem sie die Verbindung zwischen ‚weiblichem Geschlecht‘ und ‚Heterosexualität‘ hinterfragt. Ihre These besteht darin, dass der Begriff ‚Frau‘ nur in einem patriarchalisch heterosexuellen System gesetzt ist, sodass Frauen, die diesem heterosexuellen Konzept widersprechen, indem sie Männer als erotische Wahl zurückweisen, auch aus dem Begriff fallen.

Während Adrienne Rich […] zwar Heterosexualität, nicht aber Geschlecht, entnaturalisiert, geht Monique Wittig (1992) weiter und hinterfragt die Verbindung zwischen Geschlecht und Heterosexualität. Mit ihrem Zitat „lesbians are not women“ (Wittig, 1992, S. 32) führt sie die Subjektposition der Lesbe (lesbian) affirmativ als widerständige an. Lesben seien deshalb keine Frauen, weil ‚Frau‘ nur innerhalb des heterosexuellen Regimes Bedeutung habe […].12

Während Adrienne Richs Essay in diesem Studienbuch noch eine Rolle spielen wird, beziehe ich mich auf Monique Wittig nicht explizit. Judith Butler geht in dem von mir als Lektüreeinstieg vorgeschlagenen Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault auf diese Denkerin ein. Kleiner zitiert die französische Philosophin Wittig nach dem Band The Straight Mind and Other Essays, der 1992 erschien. Der Text The Straight Mind selbst wurde jedoch bereits 1980 das erste Mal auf Englisch veröffentlicht.

Eine weitere wichtige, auch in diesem Studienbuch prominent gemachte Klassikerin des queeren Denkens ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009). Übersetzungen ihrer Texte ins Deutsche sind noch nicht vollständig, im Sammelband von Andreas Kraß Queer Denken ist sie mit dem Aufsatz Epistemologie des Verstecks vertreten.13 In ihrem Buch Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire (1985)14 stellt Sedgwick dar, wie sehr die Kultur durch die homophobe Unterdrückung gleichgeschlechtlicher Beziehungen geformt ist.15 Ihre Thesen, die in diesem Studienbuch fruchtbar gemacht werden, basieren auf der Analyse von Romanen des 19. Jahrhunderts und den in diesen Texten verhandelten Männerbeziehungen. Sedgwick hat den Begriff des homosozialen Begehrens in den Genderdiskurs eingeführt. Er ermöglicht es, die affektive und emotionale Seite gleichgeschlechtlicher Beziehungen von der sexuellen Seite zu unterscheiden, was für Männerbeziehungen eine große Rolle spielt. Das Patriarchat des 19. Jahrhunderts verurteilt nämlich Homosexualität unter Männern ebenso streng, wie es Homosozialität unter Männern fördert und privilegiert. Sedgwicks Analysen stellen männliche Homophobie und den männlichen Umgang damit in den Vordergrund, indem sie zeigen, wie die gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern vermieden und heterosexualisiert wird, obwohl zwischen Männern (between men) ein homosoziales Begehren besteht. Wie Sedgwick diese Strategie, Homosexualität über ein trianguläres Begehren zu vermeiden, theoretisiert, werde ich in einem späteren Kapitel zusammenfassen. Andreas Kraß geht in seinem bereits erwähnten Band über Männerfreundschaft historisch weiter zurück. Er dokumentiert, wie sich erst im Verlauf der letzten Jahrhunderte die Homophobie so etablieren konnte, dass Sedgwicks Differenzierung greift, die Kraß in seiner Untersuchung ebenfalls verwendet.16 Die Literaturwissenschaftlerin Terry Castle (*1953) fokussiert die historischen Erscheinungsformen weiblicher Homosexualität, die zwar tabuisiert und ausgeblendet werden, sich jedoch anders als die der Männer seit Jahrhunderten stetig artikulieren würden.17 Ihre Analyse ist weder ins Deutsche übersetzt noch im germanistischen Bereich rezipiert worden.

Es liegt uns jedoch eine deutsche Übersetzung historischer Analysen von Frauenbeziehungen aus dem anglistischen, amerikanistischen Bereich vor, die als reiche Quelle für die Entnaturalisierung der Heterosexualität und als ein Nachweis der historisch-kulturellen Dimension von ‚Geschlecht‘ in diesem Studienbuch Erwähnung finden muss. Lilian Fadermans (*1940) Studie untersucht Frauenfreundschaften von der Renaissance bis zur Gegenwart (1981). Zwar kann auch in diesem Fall nicht von einer bereiten akademischen Rezeption die Rede sein, doch Kraß erwähnt diese Studie und nennt sein Buch über Männerfreundschaft ein Gegenstück dazu.18 Der Ansatz von Castle und Faderman unterscheidet sich insofern, als Erstere den Standpunkt vertritt, dass Homosexualität unter Frauen als Schattenbild stetig diskursiviert wurde, während die etwas ältere Forschung von Faderman dafür argumentiert, dass Frauenbeziehungen vor dem Aufkommen der Sexualwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts gerade nicht als sexualisiert galten. Surpassing the love of men19 wurde 1981 in den USA und ein Jahr später in England veröffentlicht. Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft zwischen Frauen von der Renaissance bis heute im Jahr 1990.20 Faderman verwendet den Begriff des Queeren selbstverständlich nicht. Sie thematisiert in ihrem Buch auch nicht die Unterscheidung von Sex und Gender. Ihre historische Diskursanalyse hat aber den Effekt, das Konzept einer festen geschlechtlichen Identität zu entnaturalisieren. Somit erweist sich ihre Studie als eine phänomenologische Wurzel für das queere Denken. Faderman präsentiert anhand von Textmaterial, dass bis zur Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) romantische Freundschaften zwischen Frauen nicht nur gang und gäbe waren, sondern zu einem Ideal erhoben wurden. Diese romantischen Freundschaften drückten sich als dermaßen starke affektive Bindungen aus, dass Faderman der Überzeugung ist, dass sie von ihren Zeitgenoss*innen (im späten 20. Jahrhundert) eindeutig als ‚lesbisch‘ klassifiziert werden würden. Diese Klassifikation ist jedoch historisch viel jünger als die Liebe unter Frauen. Das aus der Sexualwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts stammende Konzept war im 20. Jahrhundert so popularisiert worden, dass es die Vorstellungen über Frauenliebe dominierte. Die Literaturwissenschaftlerin argumentiert dafür, dass dieselbe Art von Beziehung in früheren Jahrhunderten (dem 19. beispielsweise) als im höchsten Maße anerkannt und wünschenswert galt, im 20. Jahrhundert dann aber geächtet und gesellschaftlich abgedrängt wurde. Das habe nichts damit zu tun, dass sich die Art der Beziehung geändert hätte, sondern der Blick auf Frauen wäre für die neue Bewertung ausschlaggebend gewesen, da diese durch den männlichen Blick zunehmend sexualisiert worden waren. Weibliche Sexualität galt als bedrohlich und musste begrifflich vereinnahmt werden. Nicht die Frauenbeziehung selbst bzw. deren politische Brisanz gab den Anstoß für die beginnende Ächtung, sondern der gewandelte, von nun an sexualwissenschaftlich fundierte Blick auf diese Art der Beziehung. Während die Liebe unter Frauen davor, wie die bürgerliche Frau an sich, als entsexualisiert galt, ganz unabhängig davon, ob die romantischen Freundinnen miteinander schliefen oder nicht, ist die Frau des postfreudianischen Zeitalters sexualisiert und begehrlich, was, wie die Autorin überzeugend darstellt, sich als Männerphantasie des späten 19. Jahrhunderts erweist. Zeichen von sexueller Gier wurden auf die frauenliebende Frau in besonders starkem Maße projiziert. Die Vorstellung der von ihrem unnatürlichen, gewaltsamen ‚lesbischen‘ Begehren irregeleiteten Frau ist ein Mythos, den die Sexualwissenschaft und der Alltagsdiskurs aus der misogynen Literatur französischer Provenienz übernahmen. Das Konzept der Lesbierin entstand also im Geiste der aufkommenden Furcht vor weiblicher Emanzipation und war eher literarisch als empirisch belegt, führte jedoch dazu, dass affektive Bindungen zwischen Frauen suspekt wurden. Gewandelte Vorstellungen von Gender und neue kulturelle Konstellationen führen im Fin de Siècle zum Wandel der Bewertung von affektiven Frauenbeziehungen. Das, was vor dem Ende des 19. Jahrhunderts unsichtbar, ja unbekannt war, wurde durch die aufkeimende Sexualwissenschaft ans Licht gezerrt bzw. ‚erfunden‘ und die weiblich-weibliche Zuneigung, die ihre Karriere als sozial erwünschte romantische Freundschaft begann, wurde im 20. Jahrhundert zur Perversion, Krankheit oder Neurose erklärt.21 Die Normierung innerhalb der heterosexuellen Matrix bedeutete von nun an für Frauen, jeglichen Verdacht zu vermeiden, dass die Freundin begehrt würde.

Eine etwas populärwissenschaftlichere Untersuchung Karin Lützens (*1952) aus dem skandinavischen Bereich, die in der Originalsprache fünf Jahre nach Fadermans Untersuchung (1986) entstand und zwei Jahre nach Fadermans Text, im Jahr 1992, unter dem Titel Frauen lieben Frauen auf Deutsch erschien, zeigt dieselbe Karriere der Frauenliebe mit etwas anderen Quellen.22 Lützen spricht in diesem Buch von Zwangsheterosexualität, durch die die affektive Energie unter Frauen gehemmt wird, ohne sich in ihren Thesen allerdings explizit auf Adrienne Rich zu beziehen.

Die moderne Gesellschaft wurde heterosexualisiert – um nicht zu sagen, zwangs-heterosexualisiert. Das zuerkannte Begehren mußte sich auf Männer richten, sonst galt es als Abweichung, und nachdem das abweichende Begehren das Licht der Welt erblickt hatte, wurde das Zusammensein von Frauen nicht nur als „Mangel an Besserem“ betrachtet […], sondern als Brutstätte schwüler Homosexualität.23

Die zwangsheterosexualisierte Frau des 20. Jahrhunderts, der sowohl der Zwang zur Sexualität als auch der Zwang, das Begehren auf Männer zu richten, postfreudianisch aufgegeben wurde, konnte ihre Zuneigung zu Frauen gar nicht mehr als romantische Freundschaft leben. Sie musste sich entweder als ‚homosexuell‘ und damit als deviant begreifen, was ihrer Liebe einen pathologischen Zug verlieh, oder durfte andernfalls ihr Begehren zum eigenen Geschlecht nur als Spielart, singuläre Verfehlung bzw. Verirrung bewerten, die keine Identitätsspuren zu hinterlassen habe. Die Definition der weiblichen Homosexualität zerstörte den romantischen Freundschaftsdiskurs. Gleichgeschlechtliches Interesse wurde im 20. Jahrhundert suspekt und ließ Rückschlüsse auf die Person zu, die als fehlgeleitet, frigide oder männerfeindlich angesehen werden konnte.24 Sowohl Faderman als auch Lützen sehen den lesbischen Feminismus als ein Konzept, das mit der patriarchalen Definition des lesbischen Begehrens bricht, indem es diese Liebe historisch an den Diskurs um die romantische Frauenfreundschaft bindet. Damit wird diese Liebe entpathologisiert und erhält eine positiv konnotierte Begriffsgeschichte, zumindest aus der Perspektive der Frauen liebenden Frau. Die Perspektive der Gesellschaft auf Lesben und lesbische Feministinnen blieb natürlich erst mal die, die das 20. Jahrhundert beherrschte. Die kritischen Wissenschaftlerinnen argumentieren durch ihre historischen Analysen überzeugend dafür, dass Frauen immer auch stark für das eigene Geschlecht empfunden hätten, dass allerdings der Blick des Mannes bzw. der patriarchalischen Gesellschaft diese Empfindung in bestimmten historischen Phasen als asexuell und wünschenswert, in der jüngeren Geschichte dagegen als übersexualisiert und verachtenswert definiert hat.

Es war für eine Frau nicht ungewöhnlich […] ihre romantische Freundschaft als Mittelpunkt ihres Lebens zu sehen. Erst als sich die gesellschaftliche Rolle der Frau zu verändern begann und das, was sie tat, ernster genommen werden mußte […] änderte sich die Meinung über die romantische Freundschaft. Liebe zwischen Frauen – Beziehungen also, die sich gefühlsmäßig in nichts von der romantischen Freundschaft unterschieden – wurden zu etwas Bösen und Krankhaften. […] Im verbildeten 20. Jahrhundert war es für eine Frau, die eine Frau liebte, schlichtweg unmöglich, diese Liebe als romantische Freundschaft zu sehen – außer es gelang ihr, sich der modernen Psychologie, der Literatur, den Zoten völlig zu verschließen. […] Das änderte sich mit dem Aufschwung der Neuen Frauenbewegung. Nachdem Feministinnen die patriarchalische Kultur kritisch hinterfragt hatten, begannen sie in den siebziger Jahren auch mit den Tabus bezüglich der Liebe zwischen Frauen aufzuräumen.25

Der lesbische Feminismus knüpft ideologisch an die Tradition der romantischen Freundschaft an, indem er die Frauenliebe als selbstverständliche Konsequenz einer weiblichen Situation und der paternalistischen Machtverhältnisse begreift. Beide Texte zeigen sich natürlich selbst in einer historisch-politischen Dimension verankert. ‚Lesbischer Feminismus‘ gilt im neuen Jahrtausend als fast ebenso anachronistisch wie das Konzept der romantischen Freundschaft. Fadermans Text allerdings gipfelt in einem Plädoyer, das wir durchaus als queeres Denken charakterisieren können. Durch dieses Plädoyer offenbart sie, dass ihrem Text bereits ein queerer literaturwissenschaftlicher Blick innewohnt, der in dem kommenden Kapitel privilegiert wird.

In einer idealen Welt gäbe es keinen lesbischen Feminismus, der Beziehungen zu Männern militant ausschließt. Selbstverständlich gäbe es auch keine romantischen Freundschaften – wie sie Frauen früher haben durften – Beziehungen, in denen die Frauen sich fast alles sein konnten, für ihren Lebensunterhalt aber einen Beschützer brauchten. […] Es gäbe auch keine Bemühungen, weiblichen Wesen die Idee aufzudrängen, daß sie, um normal zu sein, die frühe Liebe, die sie für ihre Mutter fühlten, zuerst auf den Vater und dann auf einen Vaterersatz übertragen müssen – auf einen Mann, der in allen Dingen mehr als sie ist: älter, besser ausgebildet, klüger und stärker. Frauen wie Männer würden ihre Liebesobjekte nicht auf der Basis sexueller Politik auswählen, sie würden nicht vor einer willkürlichen, heterosexuellen Ideologie kapitulieren oder sich ihr verweigern. Vielmehr würden sie die Wahl aufgrund der individuellen Bedürfnisse ihrer eigenen Persönlichkeit treffen, die sich im Idealzustand ungehindert und frei von den Stereotypen der Geschlechterrollen entwickeln konnte. Potentielle oder tatsächliche Bisexualität, die heute von lesbischen Feministinnen als Verrat und von den Heterosexuellen als Labilität gewertet wird, wäre sowohl emotional als auch statistisch gesehen normal.26

Führen wir uns vor Augen, was in diesem vor 40 Jahren verfassten Text steht, so kann der Sinn einer queertheoretischen Analyse, die produktiv gegen die Allmacht der Heteronormativität arbeitet, wohl nicht sein, ein homosexuelles Begehren irgendwie aus der heterosexuellen Perspektive rechtfertigen zu wollen, sondern nur darin zu zeigen, dass sich gleichgeschlechtliche Attraktion in Texten ebenso laut und natürlich offenbart wie die heterosexuelle. Dieses Studienbuch versucht nicht, Queer Studies abstrakt als einen lohnenswerten Forschungsansatz darzustellen. Ich stelle in der Folge literarische Texte vor, die, mit einem queeren Blick betrachtet, anders zu uns sprechen und ohne ihn vielleicht manchmal gar nicht verständlich wären. Ich berücksichtige dabei sowohl die theoretischen Grundlagen des queeren Denkens als auch die hier genannten, im Kontext der Gay and Lesbian Studies entstandenen Arbeiten, die eine Inspirationsquelle für meine queeren Analysen darstellen.

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