Читать книгу Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit - Katja Kerschgens - Страница 11
7
ОглавлениеNadine klopfte an wie gewohnt und wartete mit ihrem Papierbündel unterm Arm, bis Micha »Ja, ja, der Tiger ist im Tank« rief. Es gab gleich den nächsten Kommentar, als sie eintrat: »Können wir mit dem Affentheater endlich aufhören? Und überhaupt, es ist ja wirklich hochinteressant, was du unter zehn Minuten verstehst. Aber du hast dir ja ohnehin für eure Zirkusnummer das Zuspätkommen angewöhnt.«
Nadine ignorierte seine Bemerkungen mittlerweile grundsätzlich und jetzt erst recht. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. Sie schnappte sich das Headset und sagte in das Mikro: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, kam es aus ihren Hörmuscheln. Endlich. Nach vier Tagen Abstinenz genoss sie die Gänsehaut wie das Prickeln einer Regendusche. Zumindest stellte sie sich vor, dass sich das so anfühlen musste, sie hatte noch nie unter einer solchen gestanden.
»Können wir dann?«, fragte Micha scharf.
»Sofort!«
Nadine teilte den Papierstapel in drei Teile, die mit blauen Din A4-Blättern voneinander getrennt waren. Mit einem abgrundtiefen Seufzer nahm Micha zwei Stapel entgegen, legte einen vor sich ab und ging mit dem anderen zur Sprecherkabine.
»Hier, Herr Noack, hier haben Sie die neue Fassung«, Micha nahm gegenüber Mr. Stimme immer so einen domestizierten Tonfall an, »wollen wir hoffen, dass das die einzige Überraschung bleibt, nicht wahr?«
Nadine hörte, wie sich die Tür zur Kabine schloss, und schlug die Augen wieder auf.
»Ist das alles blödsinnig«, stellte Micha fest und funkelte sie an.
»Können wir?«, fragte diese nun und blätterte in ihrem eigenen Manuskript. Dann erklärte sie betont sachlich: »Diese Übersetzung ist vom Buchverlagsleiter persönlich autorisiert. Er hat unserer Chefin versichert, dass Blankett selbst diese Fassung gesehen und abgenickt hat.«
»Ein Bestseller-Autor aus Amerika, der Deutsch kann«, sagte ihr Kopfhörer.
»Ja, das macht die Sache durchaus«, Nadine hatte einen fiesen Ausdruck auf den Lippen, aber sie hielt sich zurück, »nun ja, umständlich.«
Dann fügte sie mit Leidensmiene hinzu: »Und leider sind sehr, sehr viele Änderungen reingekommen, so dass wir ...«
»Oder anders gesagt«, fiel ihr Serafin ins Wort, »alles noch mal ganz von vorne.«
Micha schlug die Hand vor die Augen und knurrte: »Ganz großes Kino.«
Nadine holte tief Luft. Die nächste Information dürfte die beiden Männer auch nicht glücklicher machen.
»Die schlechte Nachricht lautet«, sie wünschte sich genau jetzt auf eine einsame Insel mit Longdrinks und farbenfrohem Sonnenuntergang, »der Zeitplan ist unverändert.«
Micha reckte mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck die Hände in die Luft und starrte an die Decke, als erwarte er einen Sterntalerregen.
»Nachtschichten«, war Serafins knappe Bemerkung dazu.
»Nachtschichten«, bestätigte Nadine.
»Na toll«, quittierte Micha den Wortwechsel.
Eine Pause entstand, dann murmelte Mr. Stimme: »Gut, ich übertrage gerade noch meine Anmerkungen aus dem vorherigen Manuskript in die ersten Seiten, einen Moment bitte.«
Nadine lehnte sich zurück. Es war weniger eine Bewegung der Entspannung, als eine Ahnung von der Erschöpfung, die sie die nächsten Tage ereilen würde. Sie wusste, dass die härteste und anstrengendste Zeit ihres bisherigen Berufslebens auf sie wartete. Und sie freute sich darauf wie ein kleines Mädchen auf ihre erste Ponyreitstunde.
»So«, meldete sich Mr. Stimme wieder zu Wort, »es kann losgehen.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Nadine, während Micha entnervt den Kopf auf die Hand stützte.
»Das kann ja heiter werden«, zischte er.
»Davon bin ich überzeugt«, kam es aus der Sprecherkabine.
Und Nadine war es auch.
Sie kamen zügig voran, aber nicht zügig genug angesichts der wenigen Tage, die ihnen für das gesamte Manuskript verblieben. Nadine rechnete den Zeitaufwand im Stillen durch. Das Wochenende würde mit drauf gehen, da war sie sich sicher. Und Montagmorgen war Deadline, unwiederbringlich.
Serafin war Profi genug, unter dem Zeitdruck nicht in ein schnelleres Sprechen zu verfallen. In den nächsten Tagen kürzten sie die langen Pausen ein, machten dafür häufiger kurze Unterbrechungen, um seine Stimme zu schonen. Abends ging es bis in die späten Abendstunden, morgens starteten sie eine Stunde früher. Nadine musste noch zweimal in den Verlag, um weitere Korrekturen abzuholen, die sie nachträglich einarbeiteten. Soviel zum Thema »autorisierte Fassung«. Das hatte eben nicht geheißen, dass es auch die letzte gewesen war.
Immer wieder war sie gezwungen, Martina mit Loriot eine Runde um das Studiogebäude zu schicken, wenn dieser schon zu lange wartete. »Du weißt sicher, dass dein Hund hier nur geduldet ist?«, war ihre schnippische Bemerkung dazu. Klar, Gassigehen stand nicht in ihrer Stellenbeschreibung, machte Nadine sich bewusst, so lebte eben jeder in den Grenzen seiner eigenen Welt.
In einer der kurzen Pausen, in der Micha zum Qualmen nach draußen ging, erzählte sie Serafin davon.
»Ach, der kleine Hund am Empfang ist Ihrer«, zeigte dieser sich erstaunt, »ich hatte gedacht, dass er der Dame dort gehört. Niedlicher Kerl.«
Sie hörte, wie er einen Schluck trank. Dann setzte er das Glas so schwungvoll ab, dass es in ihrem Kopfhörer knallte.
»Wissen Sie was? Ich gehe mit Ihrem Loriot spazieren. Frische Luft brauche ich ohnehin zwischendurch mal.«
Nadine glaubte, sich verhört zu haben.
»Das ... das müssen Sie aber nicht«, sie dachte nach, »außerdem sind Sie hier ja wohl am wenigsten abkömmlich.«
»Ach so, sorry, Denkfehler.«
Er ließ jedoch nicht locker.
»Darf ich trotzdem in den längeren Pausen mal mit ihm gehen?«
Da musste sie lachen. Das war ja süß.
»Äh, ja, natürlich, wenn Sie wollen.«
Und so wurde es in den nächsten Tagen zur Gewohnheit, dass sich Nadine und Serafin das Gassigehen aufteilten. Wenn er das Studio verließ, verzog sie sich in eines der Büros. Sie hörte auf dem Flur, wie sich Loriot schnell an den neuen Begleiter gewöhnte und ihn fröhlich begrüßte. Nadine quoll jedes Mal das Herz über, wenn sie mitbekam, wie er mit dem Tier sprach.
»Na, kleiner Mann, was macht das Jodeldiplom?« oder »Herr Müller-Lüdenscheid bittet um seine Badeente, wollen wir sie suchen gehen?« oder »Wir sollten uns mal darüber unterhalten, was Sie von Atomstrom halten, auf ein Wort!«
»Sie mögen Hunde, sehe ich das richtig?«, fragte sie bei einer der nächsten Gelegenheiten.
»Ich mag intelligente Wesen. Ihr Loriot ist ein besserer Gesprächspartner als so manch menschlicher Zeitgenosse.«
»Klar«, sie musste auflachen, »er gibt ja keine Widerworte.«
»Nein, das ist es nicht«, erwiderte er todernst, »er macht keine schlechten Witze.«
Als bei Nadine der Groschen gefallen war, lachten sie beide, bis die Leitungen vibrierten.
»Uups«, japste Nadine, »Sie sollten Ihre Stimme in den Pausen doch schonen.«
»Ich mache nicht anderes. Lachen ist das beste Warmup, es schüttet Dopamin aus, baut Stress ab, aktiviert das Zwerchfell und macht es flexibel, dabei entspannt es andere Muskelgruppen.«
»Schon gut. Keine Fragen mehr.«
Und dann lachten sie wieder.
Als Micha das Studio betrat, zog er die Augenbrauen zusammen. »Was geht denn hier für eine Party ab?«, fragte er und wirkte beleidigt, dass er offenbar nicht eingeladen war.
»Tut mir leid«, kicherte Nadine, »geschlossene Gesellschaft.«
Damit war der Damm endgültig geborsten und die beiden brauchten beinahe zehn Minuten, um ihren Lachanfall unter Kontrolle zu bekommen. Michas Laune drohte ins Bodenlose zu fallen, aber auch seine Spiegelneuronen konnten sich der Situation irgendwann nicht mehr entziehen, und er schnaufte leise mit. »Könnte mir mal jemand sagen, worum es hier geht?«, stieß er mit gewaltsam unterdrücktem Lachen hervor.
»Wir machen Stimmübungen«, erwiderte Serafin trocken.
»Ah, verstehe.«
Nadine hielt sich den Bauch und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Also, ich denke, ich habe die Übung jetzt auch verstanden«, röchelte sie.
Der Übergang zu Blanketts Verfolgungsjagden in den Straßen von Dubai war hart. Aber wenigstens waren sie alle drei wieder hellwach.