Читать книгу Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit - Katja Kerschgens - Страница 6

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Nadine stürzte durch die Tür des Studiogebäudes, als diese endlich summend aufsprang. Ein kurzatmiges »Hallo« Richtung Martina am Empfang gekeucht, dann war sie auch schon am anderen Ende des Flurs angelangt. Loriot kannte seinen Job, er ließ sich auf seiner angestammten Decke neben dem Empfangstresen nieder.

Sie blieb vor der Tür zu Studio C stehen, holte zweimal tief Luft, bevor sie eintrat. Eigentlich doch ganz normal, wie immer. Außer, dass nicht sie erwartet wurde. Und sie eine halbe Stunde zu spät war.

Micha war schon da. Natürlich. Die Tür zur fensterlosen Studiokabine war geschlossen, offenbar war auch der heutige Sprecher bereits anwesend. Oder war es eine Sprecherin? Nadine wusste es nicht. Sehr peinlich.

»Hallo Micha, ich bin es. Tut mir voll leid, ich hatte ...«

Doch Micha sah noch nicht einmal auf. Er drehte an seinen Mischpultknöpfen, der dick gepolsterte Kopfhörer ließ seinen irgendwie etwas zu klein geratenen Kopf beinahe verschwinden.

Nadine setzte sich neben ihn, schnappte sich einen anderen Kopfhörer, an dem auch ein Mikrofon angebracht war. Die Leitung zu Micha war freigeschaltet, sie sah es an den Blinklichtern. Das Licht, das anzeigte, dass das Mikrophon in die Sprecherkabine freigeschaltet war, sah sie nicht.

»Oh Mann, was für ein verdammt blöder Start in den Tag. Brigitte ist im Krankenhaus, die hatte einen Blinddarmdurchbruch heute Nacht, das ist gar nicht witzig, die fällt jetzt länger aus, und ich war da jetzt überhaupt nicht drauf vorbereitet und hatte meine Gleitzeit heute genutzt, darum war ich später dran und dann hatte ich als Einzige ein Projekt gerade abgeschlossen und hierfür Luft und dann bin ich schnell losgefahren, aber die Straßenbahn war schon weg und dann kam kein Taxi ...«

Micha sah kurz auf, blickte ein bisschen durch sie hindurch und dann wieder zurück auf seine Knöpfe und Schieberegler.

»Gut, Soundcheck haben wir, warm gesprochen ist auch. Wir sind bei Seite vier jetzt. Willst du kurz reinhören?«

Der Toningenieur stand offenbar unter Druck. Sie musste darauf hoffen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Er rechnete wohl nicht mit einem Ja, denn er sagte sofort: »So, die Produktionsleiterin Frau Walters ist dann jetzt auch gekommen. Wir machen da weiter, wo wir waren.«

Da schwang so ein Hauch Ärger in seiner Stimme. Und Nadines Magen tat einen Satz, der Mensch in der Sprecherkabine musste alles mitgehört haben.

»Hallo«, sagte sie. Sie wollte entspannt und souverän klingen, hörte aber im eigenen Kopfhörer nur ein kleines, piepsiges Schulmädchen.

»Hallo«, kam es aus dem Kopfhörer.

Diese Stimme kannte sie noch nicht.

»Auf gute Zusammenarbeit, Frau Walters.«

Diese Stimme.

Diese Stimme.

Sie ging Nadine bis in die Fußnägel, dann in ihre Nackenhaare und landete schließlich. Landete da, wo ... Sie klapperte mit den Augendeckeln. Was. War. Das. Denn?

»Sie entschuldigen bitte, dass ich zur Begrüßung sitzen bleibe.«

Diese Stimme.

Nadines Kehle war mit einem Mal völlig ausgetrocknet. Das Manuskript, das sie gerade noch in den Händen gehalten hatte, segelte sanft zu Boden, die einzelnen Seiten schwebten wie Herbstblätter in langen Wellen nieder und verteilten sich malerisch auf dem braunen Korkfußboden.

Ein Leben in Zeitlupe. Von jetzt auf gleich.

»Eine Sekunde bitte, ich trinke noch einen Schluck Wasser.«

Diese Stimme.

Der Blick, den sie von Micha erntete, rauschte lautstark durch sie hindurch.

»Können wir dann weiter machen, Frau Walters?«, fragte er sie, wartete aber nicht auf ihre Antwort. »Und bitte, Herr Noack!«

Micha schaltete gleichzeitig die Verbindung in die Kabine aus und die Aufnahme ein.

»Der Mann hinter dem Vorhang musste groß sein. Smith sah die Falten des schweren Vorhangstoffes auf eine bestimmte Weise verändert, die sein fotografisches Gedächtnis sofort interpretieren konnte.«

Nadines Hände zittern wie dürre Äste im Sturm, während sie das Papier zusammenklaubte. Alles durcheinander, sie zu spät und völlig unvorbereitet - auf das! Hier! Dass es sich um ein brandeiliges Hörbuchprojekt handelte, weil es gleichzeitig mit der Übersetzung des Romans auf den Markt kommen sollte, machte die einzelnen Blätter brandheiß. Dass sie sich beim Bücken beinahe mit dem Kopfhörerkabel strangulierte, war so. So. Sexy.

»Diese winzigen Nuancen im Farbenspiel des schweren Samtes waren eindeutig. Der Eindringling war größer als er selbst. Dass es ein Mann war, hatte seine Nase schon beim Betreten des Raumes ...«

Diese Stimme.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Noack, den letzten Satz freundlicherweise noch mal neu starten. Frau Walters ist gerade gegen den Crossfader gekommen.«

»Dass es ein Mann war, hatte seine Nase schon beim Betreten des Raumes wahrgenommen. Diese Mischung aus Sandelholz mit einem Hauch Moschus und Angstschweiß war ganz eindeutig männlich. Er ging mit langen Schritten auf die Fensterseite des Raumes zu ...«

Das Rauschen in Nadines Kopf schwoll an.

»Sorry«, murmelte sie in Richtung Micha, der mit einem Auge sein eigenes Manuskript, mit dem anderen auf seinem Monitor die auf- und abschwellenden Digitalsäulen fixierte.

»Wir müssen da insgesamt saugut durchkommen, dein Verlag und der Buchverlag hängen mir im Nacken«, Micha schaute sie kurz an, dann blickte er wieder auf seine Anzeigen, »und wir haben hier einen Topspeaker sitzen, der macht das alles nicht zum Spaß.«

Nadine wollte zu einer Antwort ansetzen, aber endlich griff ein Teil der professionellen Routine der letzten Jahre. Sie suchte sich die richtige Stelle im Manuskript. Dass ihr das Herz aus den Ohren herausschlug, ihr Magen heiß lief und ihre Hände Eisklötze waren, war neu, aber sonst.

»Kommen Sie da raus, sofort!«

Ihr Atem flog.

»Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?«

Die Buchstaben auf dem Manuskript flatterten wild durcheinander.

»Seien Sie lieber vorsichtig, ich bin bewaffnet.«

Ihr gesamter Körper kribbelte.

»Wie sind Sie hier hereingekommen?«

Nadine fragte sich, wie sie hier wieder herauskommen sollte. An konzentriertes Arbeiten war überhaupt nicht zu denken. Schlagartig wurde ihr bewusst, in was sie da hineingeraten war: Von jetzt auf gleich hatte sie ein absolut hochrangiges Projekt übernommen. Vor ihr lag das Manuskript eines weltweiten Topsellers. Dieses Buch wurde genauso sehnsüchtig auf dem Markt erwartet wie die ungekürzte Hörbuchfassung. Höchste Aufmerksamkeit garantiert.

Und sie saß da und hatte nur einen Gedanken.

Diese Stimme.

Sie war fassungslos darüber, wo es einem Menschen überall heiß werden konnte.

»Pardon, sicher haben Sie es auch gerade gemerkt, Herr Noack«, Micha klang regelrecht unterwürfig, »da hatten Sie im letzten Abschnitt eine Inquit-Formel übersprungen.«

»Ja, das stimmt. Ich handhabe das absichtlich an manchen Stellen so, damit die Dialoge flüssiger klingen.«

»Aha. Ja, also gut, wie Sie meinen.«

Micha bewegte die Computermaus, drückte Knöpfe. Ohne seine Sitznachbarin anzusehen, nörgelte er: »Ich mache übrigens gerade deinen Job hier.«

Nadine hatte überhaupt nicht gemerkt, dass der Sprecher ein »sagte er« übersprungen hatte. Der gesprochene Text hatte ohne dieses Füllsel tatsächlich besser gewirkt.

»Ja. Äh. Ich bin jetzt ganz da«, stammelte sie.

»Na hoffentlich.«

Die nächsten Seiten flogen vorbei. Nadine war berauscht. Entrückt. Erregt.

Sie hatte schon so viele ausgefallene, warme, voluminöse, ergreifende, rauchige oder knarzende Stimmen gehört. Und nie, wirklich nie hatten die Sprecher so ausgesehen, wie sie sich den Menschen hinter dieser Stimme vorgestellt hatte.

Das war nicht schlimm. So war das halt.

Aber hier wäre das schlimm.

Das hier war eine unglaublich attraktive, aufregend männliche, im wahrsten Sinne atemberaubende Stimme. Es konnte kein Gesicht geben, das dazu passte. Das wäre zu viel des Guten. Und jedes andere Gesicht wäre eine Katastrophe.

Ihre Gefühlswallungen mischten sich mit ihrem Gedankenkarussell vom Vortag. In ihrer Welt war alles gut, schlechte Erfahrungen waren ihr fremd. Und so sollte es auch bleiben, fertig. Sie konnte sich die Illusion doch nicht einfach so zerstören lassen. Ihr Entschluss fiel unwiderruflich von der einen auf die andere Sekunde: Sie wollte diesen Menschen niemals zu Gesicht bekommen.

Niemals.

»So, kleine Pause, Herr Noack. Ich mache Ihnen die Kabinentür auf, damit Sie sich die Beine vertreten können«, sagte Micha und nahm seinen Kopfhörer ab.

Nadine riss sich ihr eigenes Headset herunter und schnappte sich das Manuskript. Sie sprang auf.

»Bin gleich wieder da.«

Sie stürzte regelrecht aus dem Raum voller Racks und Blinklampen. Sie musste nach draußen an die frische Luft. Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt für eine Zigarette. Wenn sie nur rauchen würde. Loriot sah sie sofort, als sie in den Empfangsbereich kam. Freudig sprang er an ihr hoch. Aber da fiel ihr ein, dass Micha und der Sprecher ihr hier oder vor der Tür begegnen könnten. Nein, das ging gar nicht. Außerdem hatte sie Dringenderes zu tun, als sich abzukühlen, auch wenn ihr die Hitze noch im Gesicht stand.

»Sorry, Schätzchen, jetzt kein Gassi, Frauchen muss lesen.«

Sie sah sich um und entdeckte eine offen stehende Tür, dahinter ein herrenloses Büro. Bestens. Sie huschte hinein, zog die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Schreibtisch. Schnell blätterte sie im Manuskript bis zu der Stelle, die zuletzt gelesen worden war. Sie scannte die nächsten Seiten im Schnelldurchgang. Sie musste das Buch perfekt drauf haben für die Produktion. Sie wusste, dass der Sprecher gut vorbereitet war und sich im Vorfeld schon intensiv mit dem Text auseinandergesetzt hatte, dass er längst Anmerkungen und Notizen für die einzelnen Protagonisten und seine Interpretation der verschiedenen Stimmlagen gemacht hatte. Alles Typen, die Nadine noch nicht kannte und von denen sie noch kein Bild hatte.

Auf dem Flur hörte sie ihn sagen: »Frische Luft ist eine gute Idee.«

Micha versuchte in seiner schnoddrigen Art einen Scherz zu machen, »Zigarette ist für Sie wahrscheinlich sowas Ähnliches wie Schokolade für Magermodels, was?«, scheiterte aber an seiner Unterwürfigkeit. Er hatte sicher schon bessere Witze gemacht, auch wenn Nadine noch keinen gehört hatte. Die Herren verließen offenbar das Gebäude, rasch sammelte sie sich für die Zeilen vor ihr.

Sie konnte schnell lesen, aber für diesen dicken Schinken und das bisschen Zeit nicht schnell genug. Nach einer Weile - viel zu kurz, aber immerhin - waren wieder die Stimmen und Schritte der Männer zu hören.

Dann rief Micha vom anderen Ende des Flurs: »Nadine, wo bist du? Herr Noack und ich warten!«

Nadine packte den Papierstoß, stolperte aus dem Büro und auf die Studiotür zu. Micha saß bereits an seinem Platz, als sie ankam, die Tür zur Sprecherkabine war verschlossen.

Perfekt.

Erleichtert aufseufzend ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder.

»Herr Noack«, sagte sie in das Mikro ihres Kopfhörers, den sie sich in einer fließenden Bewegung aufgesetzt hatte, »gleich beim nächsten Kapitel: Wie wollen Sie den Widersacher sprechen?«

»Warten Sie«, in ihrem Kopfhörer hörte sie Blätterrascheln, »ah, hier. Den hatte ich mir mit einer verschlagenen Stimme vorgestellt. Wie jemand, der immer so ein bisschen aus angehobenen Schultern heraus spricht, einen Hauch zischend, spitz.«

Er machte es vor. Und Nadine hatte sofort den perfekten Unhold vor Augen, eine hinterlistige Type, der besser nicht zu trauen und die brandgefährlich werden konnte. Sie scrollte im Geist die Geschichte weiter durch, die sie bis jetzt gelesen hatte, und nickte.

»Ja, das passt!«

Micha meldete sich zu Wort: »Also, ich hatte mir da eher so einen Grummler vorgestellt, so einen lauten Maulhelden.«

»Mh - mhm«, verneinten Nadine und die Stimme in ihrem Kopfhörer gleichzeitig, und sie musste schmunzeln. Sofort sprang ihr Herzschlag in eine andere Frequenz um: Dieser Noack sah es genauso wie sie

»Du wirst sehen, Micha«, wandte sie sich an den Toningenieur, »der Typ wirkt in dieser Variante noch böser.«

»Das glaube ich auch«, bestätigte die Stimme aus der Sprecherkabine, und Nadine hatte schon wieder diese Hitzewallungen.

»Dann mal los«, gab sie den Auftakt für das nächste Kapitel.

Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit

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