Читать книгу Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit - Katja Kerschgens - Страница 9
5
ОглавлениеNadine streckte sich. Dabei berührte sie den Bücherstapel neben sich, was ihr ein Lächeln entlockte. Bücher im Bett, na und? Es gab schon noch trostlosere Umstände. Überhaupt hatte sie allen Grund, bestens gelaunt zu sein. Eigentlich.
Sie hatte Mr. Stimme gestern zum Lachen gebracht. Das war ein besseres Aufputschmittel als jeder Kaffee dieser Welt. Sie kannte jetzt seinen Vornamen, das war mit Sicherheit ein höchst ungewöhnliches Privileg. Sie hatte Michas Gemecker mit Nichtbeachtung getrotzt. Sie hatte wieder stundenlang dieser Stimme lauschen dürfen. Sie waren gut in der Zeit. Sie plauschten miteinander, während Micha seinen Lungenbrötchen frönte oder sich seinen Kaffee holte.
Wenn dieses Telefonat gestern Abend nicht gewesen wäre. Ihre Chefin höchstpersönlich hatte sie auf dem Handy angerufen. Es gab einen Produktionsstopp. Die aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzte Fassung des Buches war plötzlich zurückgenommen worden.
Nadine spürte, dass sie das nervös machte. Was hieß das genau? War das Projekt beendet? Wie sah es mit dem Zeitplan aus, falls das Manuskript wieder freigegeben worden war? Würde sie das Projekt weiter leiten oder war bis zum Neustart Brigitte wieder gesund?
Sie trottete ins Bad. Doch bevor sie dort ankam, klingelte ihr Handy. Sie sprang quer durch ihren Schlafraum über zwei Bücherberge und schnappte sich das kleine Gerät. Loriot fand das außerordentlich aufregend und hüpfte an ihr hoch.
»Walters«, meldete sie sich.
»Hallo.«
Und was für ein Hallo. Woher hatte Serafin ihre Nummer?
Die Stimme in ihrem alten Handy verwandelte dieses plötzlich in einen heiligen Gral.
»Hallo«, hauchte sie.
»Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
»Nein, nein, ich war gerade ... Ich bin wach.«
»Ich habe von dem Produktionsstopp gehört. Ich soll heute nicht ins Studio kommen. Ihrer Chefin habe ich Ihre Nummer abgeschwatzt. Wissen Sie vielleicht mehr?«
»Nicht mehr als meine Chefin.«
»Verstehe.«
Selbst das Schweigen ließ ihr Handy perlmuttfarben schimmern.
»Sind Sie heute im Verlag?«, fragte er.
»Ja, natürlich.«
»Gut. Das wollte ich nur wissen, damit ich nicht plötzlich dort auftauche. Es liegen neue Verträge vor, doch das muss ja nicht heute sein.«
»Das ... das ist aber nett, dass Sie dran denken, dass ...«
»Kein Problem.«
Neue Verträge? Hieß das, dass ihr Verlag Mr. Stimme für weitere Projekte gewonnen hatte? Und würde sie diese Projekte begleiten? Nadines Herz klopfte an ihre Rippen, als wollte es aus seinem Käfig ausbrechen.
»Gut, ich denke, wir hören uns«, blitzte es in ihrem Handy gülden auf.
»Ja, das hoff ... das denke ich auch.«
Nadine legte das Mobiltelefon sanft zurück auf den Bücherstoß. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, dann fiel ihr Blick auf die Digitaluhr an ihrem Bett. Nun denn, also Verlagsarbeit heute.
Der Produktionsstopp und die Aussicht auf die nächsten Tage ohne Mr. Stimme im Ohr verlangsamten ihre Morgenroutine um mindestens zwanzig Minuten. Nach dem Bad und dem kleinen Frühstück, bestehend aus einer Mandarine und einem starken Kaffee, ging sie eine lustlose Runde mit Loriot um den Block. Immer wieder tastete sie nach dem Handy in ihrer Umhängetasche. Nein, es klingelte nicht. Das war wirklich nett von Serafin gewesen, daran zu denken, dass sie sich im Verlag über die Füße laufen könnten.
Nach der Hunderunde stieg sie in die nächste Straßenbahn ein. Sie hockte sich auf einen der grausig gemusterten Stoffsitze im Stil der 90er Jahre. Sie blickte sich in dem feucht-muffig riechenden Fahrgastraum um. Überall saßen graue Gestalten mit gelangweilten oder genervten Gesichtern. Unauffällig sah sie an sich herab. Heute hatte sie ihren kurzen Jeansrock an, darunter eine blickdichte, royalblaue Strumpfhose, darüber blau-gelb gestreifte Overknees. Ihre Füße steckten in dunkelgelben Sneakers.
Sie musste sich ein Grinsen verkneifen und griff beherzt in ihre Tasche, um ihr aktuelles »Ich-fahre-Straßenbahn-und-brauche-leichten-Stoff«-Buch hervorzukramen. Sie benutzte keine Lesezeichen, sie wusste auch so, auf welcher Seite sie zuletzt gewesen war. Loriot schnaufte, als wolle er die seichte Lektüre kommentieren.
Bis zum Verlag waren es diesmal vier Kapitel. Überhaupt maß Nadine die Zeit selten in Minuten oder Stunden, sondern in Seitenzahlen und Leseabschnitten. Sie klappte die vorhersagbare Geschichte eines einsam lebenden Waldschrats und einer jungen, lebenslustigen Frau zu und stieg aus. Loriot kannte den Weg bestens und zog sie energisch Richtung Verlagsgebäude. Nadine seufzte. Viel lieber wäre sie die zwei Stationen weitergefahren, um dann das längere Stück bis ins Studio zu gehen.
Den Tag verbrachte sie damit, Postberge durchzuarbeiten und Telefonate mit Sprechern zukünftiger Projekte zu führen, Termine abzugleichen und die nächsten Wochen durchzuplanen. So tröpfelten die Stunden vor sich hin.
Und dann schob irgendwann Heiko den Kopf zur Tür herein. Er war einer der beiden Männer, die im Verlag arbeiteten, und er hielt sich für unwiderstehlich. Das war auch gleich einer der Hauptgründe, warum Nadine ihn nicht leiden konnte. Heiko hatte die Mehrzahl der Kolleginnen bereits - nun ja, er nannte es: beglückt. Wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckte, war ihr grenzenlos egal. Ihr fehlte ohnehin jegliche Phantasie, wie eine Frau sich von diesem leicht angefettelten, dünnhaarigen Typen ... Nun ja.
»Na Nacho«, begann er in seinem selbstgefälligen Eroberungstonfall, »am Wochenende bereits was vor? Oder darf es mal etwas Besonderes sein?«
Nadine hatte schon alles ausprobiert, um seinen Annäherungsversuchen auszuweichen. Heute entschied sie sich für die Kurzform: »Ich kann nicht.«
»Natürlich kannst du. Dein Kalender ist leer morgen.«
Der Terminplaner, na klar. Dieses vermaledeite Ding, auf das alle im Büro Zugriff hatten.
»Private Termine trage ich da nie ein«, versuchte sie es, »und schon gar nicht für das Wochenende.«
»Ach so«, Heiko zeigte einen amüsierten Gesichtsausdruck, »Loriots Friseurbesuche sind also beruflich. Und deine Treffen mit Sarah zum Beispiel auch. Sag mal, wie genau verrechnest du das mit der Personalabteilung?«
Nadine seufzte genervt und verfluchte die völlige Vernetzung.
»Ich kann halt nicht.«
»Netter Versuch.«
Heiko ließ sich zu ihrem Entsetzen auf den zweiten Bürostuhl fallen. Offenbar war sie heute ausgemachtes Opfer, um seine samstagabendlichen Freizeitbeschäftigungen auf Vordermann zu bringen. Sie schüttelte sich innerlich und versuchte, ihn zu ignorieren.
Er spielte mit allerlei Gegenständen auf dem anderen Schreibtisch herum.
»Du hast ja keine Ahnung, was du verpasst«, raunte er.
Sie wusste ganz genau, was sie verpasste. Sie hätte in diesem Moment im Studio sitzen und Mr. Stimme lauschen können. Stattdessen hockte sie gegenüber diesem Kleinstadtcasanova und hielt sich mühsam mit schnöder Büroarbeit wach. Als Heiko sich auch noch lasziv nach hinten lehnte und seine Hände über die Oberschenkel rieb, kam die Kampfamazone in ihr hoch. Was bildete sich dieser stramm gealterte Bock überhaupt ein?
»Was hast du eigentlich in deiner Kindheit erlebt, dass du jetzt überall dein Ding reinstecken musst?«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie denken konnte.
Sie glaubte hören zu können, wie der Staub polternd auf dem Boden und den Tischplatten aufschlug. Dann schnellte Heiko hoch, knallte die flache Hand auf den Tisch und fixierte Nadine.
»Hör mal gut zu, du alte Jungfer«, schnauzte er, »bilde dir mal nichts darauf ein, dass du hier auf einmal die dicken Projekte an Land gezogen hast.«
Ihr lag auf der Zunge, dass sie sich überhaupt nichts einbildete, aber stattdessen vermied sie jeden Blickkontakt und hypnotisierte wortlos ihren Computerbildschirm. Sie spürte den Lufthauch, als Heiko zur Tür marschierte und diese schwungvoll hinter sich zuknallte. Erleichtert atmete sie auf. Der Blick auf die Uhr entlockte ihr den nächsten Seufzer. Sie hatte genügend Überstunden in den letzten Monaten angesammelt. Guten Gewissens und dank der Tatsache, dass das in diesem Verlag an einem Freitag möglich war, verließ sie das Büro um kurz nach drei. Damit gewann sie Zeit für sich und den Rest des Tages. Sie wusste nur noch nicht so recht, wofür.
Sie stieg in die nächstbeste Straßenbahn, mit der sie in die Stadtmitte gelangte. Dann schlenderte sie durch die Fußgängerzone, was Loriot offensichtlich spannender fand als sie selbst. Er schob seine Nase über den Asphalt und lebte in seiner eigenen, vielfältigen Abenteuerwelt.
Nadine stand irgendwann vor ihrem persönlichen Tempel. Es war der größte Buchladen der Stadt mit fünf Etagen und einem Café im obersten Stockwerk. So, wie andere Leute in Teeläden erst einmal tief Luft holten, um den vielfältigen Geruch zu genießen, schnupperte sie sich hier mit Hingabe in die zu Papier gewordenen unendlichen Welten hinein.
Sie stromerte die Regalreihen entlang, bis sie sich auf der dritten Etage wiederfand. Dort wurde sie wie von Geisterhand von einem großen Regal mit der Überschrift »Lebenshilfe« angezogen. Sie ließ ihren Blick über die bunten Reihen voller Ratgeberbücher schweifen. Alle Probleme der Menschheit schienen hier ihre Lösung gefunden zu haben. Selbst, wenn jemand glaubte, keine Probleme zu haben: Spätestens hier fand er ein Passendes für sich. Selbstbefreiung, reich werden, Ratgeber für Eltern und solche, die es noch werden wollten, vegan ernähren, endlich glücklich sein, Tipps für Trauzeugen, Selbstheilung, mentale Blockaden meistern, Ziele erreichen oder überhaupt welche haben, mehr Selbstvertrauen gewinnen, den Traummann finden.
Siehste, überlegte sie, da ist wirklich für jeden etwas dabei.
Sie wollte nach dem letzten Titel greifen, aber dann zögerte sie. War das tatsächlich ihr Problem? Oder war es nicht vielmehr das Problem ihrer Mutter, die sich so dringend Schwiegersohn und Enkelkinder wünschte?
Sie zog ihre Hand wieder zurück. Sie dachte plötzlich an Sarah. Und an Karl und Fippsi. Sie ging Buchtitel für Buchtitel durch. Als sie nicht fand, was sie suchte, wandte sie sich an eine der Buchhändlerinnen, die hinter ihrem Computer stand.
»Entschuldigung«, sagte sie, »ich suche einen Ratgeber für - äh - also ...«
»Ja, bitte?«
Die Dame an dem Stehtisch wirkte nicht sonderlich interessiert. Sie musterte Nadine wie einen kuriosen Paradiesvogel.
»Ich suche etwas zum Thema, wie man mit dem Problem glückliche Kindheit umgeht.«
Die Buchhändlerin zwinkerte ungläubig.
»Sie meinten sicher unglückliche Kindheit«, murmelte sie und tippte auf ihre Tastatur ein.
»Äh. Nein.«
»Verstehe ich nicht. Worum soll es da gehen?«
Nadine wurde es warm.
»Lassen Sie mal, hat sich erledigt.«
Die Dame mit der halben Brille hatte ganz offenbar nicht zugehört. »Nein, da gibt es nichts. Oder - warten Sie ....«, sie linste mit schmalen Augen auf den Monitor, »nein, auch nicht. Da geht es nur darum, wie Sie im Nachhinein eine glückliche Kindheit ...«
»Schon gut.«
Nadine drehte sich mit quietschenden Schuhsohlen um und sah zu, dass sie Land gewann.
»Die Probleme mancher Leute will ich haben«, hörte sie die Frau hinter sich in ihren Damenbart brummeln.
Sie wurde von dem Gefühl übermannt, sich für ihr offensichtliches Luxusproblem schämen zu müssen. Die Buchhändlerin hatte ja Recht. Welchen Rat sollte man jemandem wie ihr schon geben? Die mussten halt sehen, wie sie klarkamen. Da gab es ganz andere Menschen, die Hilfe brauchten.
Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.
Sie nahm die Rolltreppen bis in die oberste Etage und fand im Café einen gemütlichen Platz am Fenster. Sie blickte über die Dächer der Häuser und die Kirchturmspitzen und ging die letzten zehn Jahre ihres Lebens durch. Sie hatte während ihres Studiums in Buchwissenschaft und Germanistik bereits in unterschiedlichsten Verlagen gearbeitet. Dank der beruflichen Verbindungen ihres Vaters war sie schließlich in diesem Hörbuchverlag gelandet. Sie selbst war bis dahin kein großer Fan von Hörbüchern gewesen, aber sie hatte immer mehr Gefallen daran gefunden, wie die Bücher dank der verschiedenen Stimmprofis zum Leben erweckt wurden. Zunächst hatte sie mit einfachen Büroarbeiten angefangen, dann entwickelten sich Kinder- und Sachbücher zu ihrem Hauptthemenbereich. Irgendwann hatte sie gekürzte Lesefassungen erarbeiten dürfen, später im Studio assistiert und die ersten kleinen Projekte übernommen. Für ein Jugend-Hörspielprojekt hatte sie sich sogar ein Lob von Dr. Niefanger eingehandelt. Und dann war ihr schließlich der Blankett in den Schoß gefallen.
Während des Studiums war sie mit Frank zusammen gewesen, ein hornbebrillter Geschichtswissenschaftler mit einem Hang zur Pedanterie. Das hatte er von seiner alleinerziehenden Mutter übernommen. Zu einem Zusammenziehen war es nie gekommen, da er sich stets über ihre Bücherberge echauffiert hatte und ihren Kleidungsstil bemäkelte. Irgendwann war die Beziehung einfach eingeschlafen, ein letztes gemeinsames Abendessen bei einem billigen Chinesen trennte sie in Freundschaft.
Davor hatte es noch den Studenten aus Korea gegeben, Yesung hatte er geheißen. Seine ach so lustigen Mitstudenten nannten ihn lieber Jesus. Er konnte darüber nicht lachen. Viele seiner Verwandten vegetierten in Nordkorea. Das wenige, was er über sie wusste, machte ihn immer depressiver. Schließlich kehrte er nach Südkorea zurück.
In der Schule war Tim eine Weile sehr wichtig für sie. Und natürlich war sie wie alle anderen Mädchen aus ihrer Klasse in Alex verliebt. Ja, und das war es dann. Seit dem Studium lebte sie ohne Beziehung. Litt sie darunter? Ihre Mutter schon, aber war das ihre Baustelle? Andererseits lag jetzt wieder ein einsiedlerisches Wochenende vor ihr, wenn sie von Loriot einmal absah. Er war ein wunderbarer Kamerad, doch Frühstück ans Bett bringen konnte auch er nicht.
Der Kaffee hier schmeckte formidabel. Na also. Die Welt war es doch ebenso, oder? Im Geiste ging sie ihren aktuellen Noch-nicht-gelesen-Bücherstapel durch und beschloss, sich in diesen Räumen hier mit ein paar weiteren Neuerscheinungen aus der Rubrik historische Romane einzudecken. Sie hatte immerhin ein langes, ruhiges Wochenende vor sich.