Читать книгу Georgien. Eine literarische Reise - Katja Petrowskaja - Страница 13

Оглавление

TUSCHETIEN – BERG UND GEDÄCHTNIS

ARCHIL KIKODZE

Egal, ob im Auto, zu Fuß oder zu Pferd unterwegs, überall in Tuschetien trifft man auf Dogis. Ein Dogi markiert die Stelle, wo jemand zu Tode gekommen ist, und besteht aus einem einfachen Mahnmal: einer Metalltafel, die an einer Metallstange befestigt ist und auf der Geburts- und Sterbedatum des Verschiedenen aufgeprägt sind. Früher bestanden solche Mahnmale aus einem einfachen, glatten, in die Erde getriebenen Stein oder aus einem kleinen Turm aus Felsplatten, einem Steinmännchen ähnlich. Diese Steinmale hatten keine Inschriften, weder Name noch Datum standen darauf. Auch Grabsteine trugen in den Bergen früher keine Inschriften. Solange sich jemand erinnerte, lebte die Erinnerung fort. In den Bergen behalten die Menschen alles länger im Gedächtnis als im Tal, sie erinnern sich an die Menschen und an die Geschichten, aber nicht an Daten, denn hier in den Bergen wird der Chronologie nicht so viel Bedeutung beigemessen. Hier wurde Geschichte nie niedergeschrieben, der Berg filtert die Geschichten und sondert Unwesentliches, darunter Daten, aus. Dafür sind Berglegenden und -dramen ganz konkret verortet. Der Geografie kommt Bedeutung zu, wie auch dem Menschen und seinem Namen.


Nicht umsonst bezeichneten die Tuschen und andere kaukasische Bergvölker ihre Helden mit dem Begriff »Namhafte«. Sich einen Namen zu machen war für einen Mann überaus wichtig. »Bewahrt mir meinen Namen!«, soll ein noch blutjunger Tusche, der von Laken1 überfallen worden war, im Sterben ausgerufen haben, denn er wusste, dass außer seinen Mördern niemand seinen mannhaften Tod würde bezeugen können. Und diese ihrerseits bewahrten seinen Namen deshalb, weil sie mit denselben Wertvorstellungen aufgewachsen waren und sich vielleicht wünschten, einst ebenso mannhaft zu sterben. In den Bergen ist Geschichte mündliche Überlieferung. Wenn die persönliche Geschichte, dein Leben und dein Tod manneswürdig verlaufen sind, gerätst du nicht in Vergessenheit; in Liedern, Gedichten und Balladen wird deiner gedacht von Generation zu Generation, das Erinnerte erfährt im Laufe der Zeiten vielleicht ein wenig Veränderung, Ausschmückung, Modifizierung – aber wenn dein Name bleibt, heißt das, du hast nicht umsonst gelebt. Nichts ist von größerer Bedeutung.

Georgien. Eine literarische Reise

Подняться наверх