Читать книгу Kuss der Wölfin - Band 1-5 (Spezial eBook Pack über alle Teile. Insgesamt über 1300 Seiten) - Katja Piel - Страница 19
Оглавление13. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, Anfang November 1589
«Du hast den Kuss empfangen und bist nun eine von uns.»
Zumindest fror Sibil nun nicht mehr. Wenn sie vor der Höhle stand und in den kalten, kahlen Wald hinaus starrte, fühlte sich ihr Körper warm und lebendig an. Manchmal war sie verwundert, dass der Schnee um sie herum nicht schmolz. Ihre Kutte behielt sie trotzdem an, obwohl sie nach Gefängnis, Angst und Tod stank. Auch das war neu: Gerüche, die so intensiv waren, dass ihr beinahe schwindelig davon wurde. Sie roch Wild, wenn es auf der Suche nach Futter in weitem Abstand an der Höhle vorbeikam. Sie roch die Mäuse unter dem Schnee, und sie roch es, wenn Raffaelus und Marina sich auf den Fellen vergnügten.
Außerdem verspürte sie einen Hunger wie noch nie in ihrem Leben. Das Rudel – wie Raffaelus seine Gruppe nannte – versorgte sie mit gebratenem Fleisch, das sie begierig hinunterschlang, und dennoch träumte sie manchmal vom rohen, heißen Fleisch eines Rehs oder Hirsches und von pulsierendem Blut.
Die Wunde an ihrer Schulter heilte schneller, als sie es für möglich gehalten hätte. Bereits am zweiten Tag war alles verschorft, und sie spürte, wie unter der dunklen Kruste prickelnd neue Haut entstand. Was blieb, war die Angst. Roderik und Utz fürchtete sie am meisten. Sie sahen manchmal mit grün glitzernden Augen zu ihr hinüber, und Utz rieb sich manchmal dabei sein pralles Geschlecht. Einmal hatte er versucht, ihr den Kittel vom Leib zu ziehen. Raffaelus' Faustschlag hatte ihn gegen die Wand geschleudert, wo er eine Weile reglos liegengeblieben war. Seitdem hielt er sich fern, aber seine Blicke verfolgten sie. In ihrer Tiergestalt waren die Männer noch beängstigender, riesige, unnatürlich aussehende Bestien mit Muskelpaketen unter dem struppigen Fell. Die Vorderläufe waren länger als die Hinterläufe, was ihnen stets eine bedrohliche Aufrichtung verlieh. Sibil hatte auch schon gesehen, dass sie sich nur zur Hälfte verwandelten, Tiermenschen mit haarigen Armen und dämonischen Fratzen. Sicher waren sie alle die Buhlen des Teufels, und Sibil hatte ein bitteres Lachen in den Mundwinkeln, wenn sie an die Bucklige, die Alte und die Rothaarige dachte, die als Hexen verbrannt wurden, während hier die Ausgeburten der Hölle durch den Wald hetzten.
Sie fragte sich, ob sie nun auch in der Lage war, sich zu verwandeln, aber der Gedanke war so schrecklich, dass sie niemanden zu fragen wagte.
Ihr altes Leben lag so weit hinter ihr, dass es ihr vorkam wie ein unwirklicher Traum. Katharina und der Vater mussten mittlerweile tot sein. Hatte man sie vorher gefoltert? Vielleicht waren sie klug genug gewesen, sofort zu gestehen. Sibil versuchte, Trauer zu empfinden, aber ihr Verstand weigerte sich, zu begreifen, was alles geschehen war.
„Möchtest du essen?“ Sie schrak herum. Hinter ihr stand Adam und lächelte entschuldigend, während er ihr ein Stück gebratenes Fleisch mit Knochen hinhielt. Es musste wohl ein Kaninchen gewesen sein.
„Iss, sonst nehmen es sich die anderen.“ Dankbar griff sie zu. Sie pflückte das mürbe Fleisch mit den Fingern vom Knochen und stopfte es sich in den Mund. Adam sah ihr zu. Er war der jüngste und schwächste im Rudel, und sie mochte ihn mit seiner ruhigen Art. Nur dass er wie die anderen nackt herumlief, wenn er sich in Menschengestalt bewegte, irritierte sie.
„Warum tragt ihr keine Kleidung?“, fragte sie kauend.
„Brauchen wir nicht“, sagte Adam. „Wir frieren nicht, das hast du sicher auch schon gemerkt.“
„Ja, aber... im Sommer frieren die Menschen auch nicht, und sie tragen trotzdem Kleidung. Einfach weil es sich so gehört.“ Adam zuckte mit den knochigen Schultern. „Wir sind keine Menschen. Deshalb gelten die Regeln der Menschen für uns nicht.“
„Aber ihr wart alle mal welche?“
„Ja. Aber mit dem Kuss legst du dein Menschsein ab. Du bist jetzt ein Tier in menschlichem Körper.“ Sibil fasste sich an die heilende Schulter. „Du meinst...?“
„Ja, genau. Du hast den Kuss empfangen und bist nun eine von uns. Wenn der nächste Vollmond kommt, wirst du deine erste Wandlung erleben.“
„Tut das weh?“
„Nein. Es ist nur sehr ungewohnt. Nach deiner ersten Wandlung kannst du dich immer verwandeln, wenn es dir beliebt. Du wirst dich schnell daran gewöhnen.“
„Wie lange bist du schon... so?“
Adam lächelte schüchtern. „Seit vier Wintern. Ich war noch ein Junge, als Raffaelus mich fand. Mein Vater hatte mich bei einem Gerber in die Lehre gegeben, der mich schlug und mir nichts zu essen gab. Ich bin ausgerissen und habe versucht, mich durchzuschlagen. Er hat mich im ersten Winter vor dem Erfrieren gerettet.“
„Wie mich.“
„Ja.“
„Und du wirst dein Leben lang hier bleiben?“
„Ich weiß es nicht. Ich gehe, wohin Raffaelus geht. Er ist mein Anführer.“
„Aber willst du denn keinen Beruf ergreifen? Eine Frau und Kinder haben?“
„Du denkst noch wie ein Mensch.“ Sibil nickte. „Das gibt sich mit der Zeit“, sagte Adam.
Am Abend beobachtete sie, wie Raffaelus hinüber zu Adams Lager ging. Er drehte Adam auf den Bauch und legte sich auf ihn, und binnen kurzer Zeit hatte er ihn mit seinen muskulösen Armen gepackt und an sich gezogen und stieß in ihn hinein, wie er es auch mit Sibil und Marina getan hatte. Sibil war höchst erstaunt. Sie hatte nicht gewusst, dass zwei Männer das miteinander tun konnten. Adam schien das Geschehen zu genießen, er stöhnte leise und verschränkte seine Finger mit denen von Raffaelus. Sibil sah, wie Raffaelus' Gesicht sich verzerrte. Mit einem lustvollen Schrei verausgabte er sich in Adam und brach dann keuchend auf dem Rücken des Jüngeren zusammen. Einige Atemzüge später richtete er sich jedoch schon wieder auf, zog sich aus Adam zurück und verließ das Lager. Dieser sah ihm verträumt hinterher, während er sein Geschlecht heftig rieb. Sibil verspürte einen Stich des Bedauerns. Sie hätte sich dem Jungen gerne angeboten und herausgefunden, ob auch er mit seinem schlanken, jugendlichen Körper dieses wunderbare Gefühl zwischen ihren Schenkeln hervorrufen konnte, so wie es Raffaelus in ihrer ersten Nacht getan hatte. Doch die Angst und auch Reste der menschlichen Scham hielten sie zurück. Raffaelus beanspruchte jeden im Rudel, den er wollte, und vielleicht würde er wütend werden, wenn sie seine Wege kreuzte. Nicht nur vielleicht, sicher sogar. Sie sah zu ihm hinüber, wie er sich neben Marina auf sein Lager fallen ließ. Sie nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich.
Allein in ihrer Ecke, schlief Sibil ein.
Am nächsten Tag brachte Roderik einen toten Mann ins Lager. Die Leiche war angezogen wie ein Köhler, die Kleidung blutverschmiert. Roderik hatte Blut im Gesicht und ein irres Glitzern in den Augen. Vor der Höhle ließ er die Leiche fallen und baute sich stolz daneben auf.
„Frühstück“, sagte er und grinste mit abgebrochenen Zähnen wie ein Wahnsinniger. Raffaelus stieß ihn grob beiseite und verwandelte sich. Gleich darauf stürzte er sich auf den toten Mann, zerfetzte mit seinen messerscharfen Klauen die Kleidung und grub seine Fangzähne in den weichen, weißen Bauch des Mannes. Es gab ein Geräusch, als würde alter, mürber Stoff reißen, als die Haut des Toten sich öffnete. Blut ergoss sich in den Schnee.
„Hm“, machte Marina hinter Sibil. „Noch ganz frisch.“ Sie verwandelte sich ebenfalls und umstrich die Futterstelle. Roderik, mittlerweile auch in Tiergestalt, näherte sich Raffaelus knurrend und wurde von diesem grob verscheucht. Während Raffaelus' Aufmerksamkeit auf Roderik gerichtet war, sprang Marina heran und riss einen Fetzen Fleisch aus der Leiche. Sibil tauchte unter Utz hinweg, der sich ebenfalls näherte, stürzte ins Unterholz und erbrach sich heftig. Als nichts mehr kommen wollte außer bitterer Galle, lehnte sie sich erschöpft an einen Baum. Die grausigen Bilder tanzten vor ihren Augen.
Wo war sie hier? Was war sie? War das der Vorhof zur Hölle? Hatte man sie vielleicht verbrannt, und sie erinnerte sich nur nicht?
„Geht es dir gut?“, fragte eine schüchterne Stimme. Adam.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Werde ich auch...? Ich meine, muss ich auch...?“
„Du musst nicht“, flüsterte er. Sie spürte seine Körperwärme. „Nur wenn du bei uns bleiben willst, musst du. Es gibt auch andere Wege, aber wir leben sie hier nicht.“
„Ich bin kein Menschenfresser“, schluchzte Sibil.
„Schsch.“ Adam legte ihr zart einen Finger auf die Lippen. „Du hast die Wahl. Es gibt andere, die leben, ohne zu töten. Aber das ist der härtere Weg, denn das Tier in dir will Blut, und das von Menschen schmeckt am süßesten. Menschenblut macht uns mächtig. Mit Tierblut sind wir lediglich Wölfe.“
„Wie finde ich die anderen?“
„Sie finden dich, wenn du das willst. Aber entscheide nicht zu schnell. Gut und Böse gilt für uns nicht. Wir sind Ausgestoßene, wir machen unsere eigenen Regeln und versuchen zu überleben, so gut es geht.“
„Ich will keine Menschen töten!“
„Er wäre sowieso gestorben. An der Kälte, an der Pest, am Fieber, am Alter. Wir haben sein Schicksal nur beschleunigt, und er musste nicht leiden. Ein kurzer Schreck, und alles war vorbei für ihn. Genau das wünschen sich die Menschen, wenn sie die ersten Beulen unter ihren Armen entdecken.“
„Er war krank?“
„Nein. Wir würden ihn sonst nicht fressen. Aber wer weiß, ob er es nicht bald geworden wäre?“
Voller Abscheu wandte Sibil sich ab.
„Geh fressen, Adam.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich gehe zuletzt, wenn alle satt sind. Ich bin der Rangniedrigste.“
Sie starrte in das trübe Weiß des verschneiten Nachmittages, bis ihr die Tränen kamen. Noch am gleichen Abend fasste sie ihren Entschluss. Sie war dankbar für die Hilfe, die sie durch Raffaelus' Rudel erfahren hatte, aber dieses Leben wollte sie nicht führen. Die teuflischen Kreaturen hatten sich ihr leibhaftig gezeigt, was sie vermutlich zu einer Hexe machte, und sie hatte sogar mit dem Anführer gebuhlt. Wenn sie einen Rest ihres Seelenheiles retten wollte, musste sie das Weite suchen. Vielleicht existierte Gottes Vergebung ebenso leibhaftig wie die Versuchung.
Sie wartete, bis alle schliefen, erhob sich dann lautlos von ihrem Lager und schlich aus der Höhle. Die Nacht war hell und angefüllt mit Geräuschen. Sibil tauchte in die Schatten der Bäume und begann zu laufen. Raffaelus würde ihrer Spur sicher folgen können, also musste sie möglichst schnell eine große Entfernung zurücklegen. Vielleicht verlor er dann das Interesse und ließ sie ziehen.
Sie rannte mühelos. Noch nie hatte sie sich so kräftig gefühlt. Dichtes Gestrüpp und umgestürzte Bäume waren kein Hindernis für sie. Leichtfüßig huschte sie durch den Wald. Eine dünne Schneedecke knirschte unter ihren Füßen. Die kalte Winternacht brannte auf ihrer Haut.
Sie erreichte eine Straße und rannte auf ihr weiter, in der Hoffnung, andere Reisende oder Fuhrwerke würden ihre Geruchsspur überdecken, doch der Schnee auf der Straße war unberührt. Nicht viele Reisende wagten bei diesem Wetter den Weg durch den Wald.
Ein Ziel hatte sie nicht. Nur weg von den teuflischen Kreaturen, weg von allen anderen Menschen, bis sie wusste, was mit ihr los war. Vielleicht würde das seltsame Gefühl vergehen und sie konnte ein normales Leben aufnehmen, irgendwo, wo niemand sie kannte. Sie hatte gehört, dass es Städte gab, die größer waren als Bedburg. Vielleicht stellten die Leute dort weniger Fragen, und sie konnte sich als Magd verdingen.
Die blasse Scheibe des abnehmenden Dreiviertelmondes stand hoch über den Bäumen, und sie wusste längst nicht mehr, wo sie war, als sie plötzlich begann, sich beobachtet zu fühlen. Sie blieb stehen und sah sich um, doch unter den Bäumen waren nur Schatten. Hatte Raffaelus die Verfolgung aufgenommen? Sie schnupperte. Sein typischer Geruch lag nicht in der Luft, dafür ein anderer, den sie nicht kannte, ein feiner, blumiger Duft, der sie an eine Frau denken ließ.
Sibil rannte weiter und wunderte sich gleichzeitig, dass sie immer noch nicht außer Atem war.
Nach einer Weile wurde der fremde Geruch stärker. Er wehte von rechts an sie heran, und nun meinte Sibil auch, einen Schatten zu sehen, der sich unter den Bäumen, jenseits des Straßengrabens bewegte. Beherzt sprang Sibil über den linken Straßengraben und rannte unter den Bäumen weiter. Hier kam sie nicht mehr so schnell voran. Sie sprang über Felsen und abgebrochene Äste und schlüpfte durch Gebüsch. Auf einer kleinen Lichtung scheuchte sie eine Gruppe Rehe auf und unterdrückte das irritierende Verlangen, ihnen nachzujagen. Sie überquerte die Lichtung, schlug die Zweige einer riesigen Tanne beiseite und stoppte sehr plötzlich. Vor ihren Füßen fiel der Waldboden steil ab. Schnee und loses Geröll rollten den Steilhang hinunter. Sibil klammerte sich an die Tannenzweige und rang um ihr Gleichgewicht. Hinter sich hörte sie leise Schritte und das Atmen eines Menschen. Sie saß in der Falle.
„Du kannst jetzt aufhören, wegzurennen“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. „Du bist angekommen.“ Mit einem Schrei stürzte Sibil sich nach vorne, doch sie wurde festgehalten. Schlanke Frauenhände griffen ihre Arme und bewahrten sie vor dem Absturz. Sibil wehrte sich, doch die Fremde war überraschend stark. Gegen ihren Willen wurde Sibil herumgedreht, sodass sie ihre Verfolgerin ansehen musste.
Im fahlen Mondlicht stand eine zierliche Frau vor ihr. Feuerrotes Haar fiel ihr in wilden Locken bis auf die Hüften. Sie trug ein leichtes Leinenkleid und war barfuß. Die Kälte schien ihr ebenso wenig auszumachen wie Sibil.
„Mein Name ist Imagina“, sagte sie freundlich. „Ich bin gekommen, um dich abzuholen.“
„Aber...“
„Du kannst nicht alleine und wild im Wald leben. Du hast Raffaelus verlassen. Das war eine weise Entscheidung. Doch du brauchst Lehrmeister, die dich auf deine erste Verwandlung vorbereiten.“
„Du bist wie er...?“
„Nein.“ Imagina schüttelte den Kopf, dass ihre Locken tanzten. „Ich bin Tag, er ist Nacht. Ich bin Sonne, er ist Mond. Wir sind zwei Seiten einer Münze, aber ich bin nicht wie er.“ Sibil nickte verzagt.
„Komm mit“, sagte Imagina. „Ich zeige und erkläre dir alles. Deine Reise hat erst begonnen, du musst noch nicht alles verstehen.“ Sibil seufzte tief. Die fremde Frau hatte etwas Vertrauenerweckendes. Sie erinnerte Sibil an ihre Mutter, die vor so vielen Jahren im Kindbett ihres Geschwisterchens gestorben war. Sibil lehnte sich nach vorne, und Imagina umfing sie mit ihren Armen. Es tat unglaublich gut. Etwas in Sibils Innerem löste sich, und sie begann zu schluchzen wie ein Kind. Imagina strich ihr übers Haar. Schwieg. Sibil wurde schwindelig. Sie blinzelte in den Wald, der sich immer schneller um sie drehte. Der Schnee und die Umrisse der Bäume wurden zu einer schwarzweißen Masse, in der Sibil versank. Dann mischten sich dünne goldene Fäden in den Wirbel, Grün kam dazu und Himmelblau. Vogelgezwitscher drang an Sibils Ohren, und in ihre Nase stieg der Geruch von frischem Gras. Sibil blinzelte.
Sie stand in weichem, grünem Gras auf einer Lichtung. Imagina neben ihr hielt ihre Hand. Die Luft war warm und gleichzeitig frisch wie an einem Frühlingstag. Die Sonne ging gerade über den Baumwipfeln auf und beleuchtete ein hübsches, helles Steinhaus, das sich unter blühende Kirschbäume duckte. Ein sandiger Weg führte zur Tür. Ein niedriger Zaun grenzte einen Garten ab, in dem zarte Pflänzchen ihre Köpfe gerade aus der Erde schoben.
„Ja“, sagte Imagina. „Es ist Zauberei und kein Traum. Ich mag den Winter nicht.“
„Aber wie...?“
Imagina lächelte. „Das ist mein Geheimnis, Kleine. Nun komm mit und begrüße die anderen.“ Während Imagina Sibil zum Haus führte, nahm diese die Umgebung in sich auf. Die Kirschblüten verströmten einen lieblichen Duft. Hinter dem Haus befanden sich flache Stallgebäude, in denen Sibil Ziegen meckern und Kühe scharren hörte. Irgendwo krähte ein Hahn.
Imagina stieß die Haustür auf und schob Sibil ins dämmerige Innere. An einem Tisch saßen ein junger Mann und eine junge Frau, die beide aufsprangen, als Sibil eintrat.
„Du hast sie gefunden!“
„Wie geht es ihr? Wo war sie?“
„Langsam“, sagte Imagina. „Ja, Marcus, ich habe sie gefunden. Rosa, es geht ihr gut, sie rannte durch den Wald nach Westen. Ihr Instinkt hat sie schon in unsere Richtung geführt. Ich betrachte das als gutes Omen.“ Sibil betrachtete die beiden jungen Menschen schüchtern. Marcus war groß und schlank, aber muskulös, mit goldenen Locken und großen blauen Augen in einem Gesicht, das gerade einen ersten Bartflaum trug. Rosa war klein und mollig, mit langen, dunklen Zöpfen und einem ansteckenden Lächeln.
„Willkommen“, sagte sie und zog Sibil in eine freundschaftliche Umarmung. „Wie heißt du?“
„Sibil.“
„Ich bin Rosa. Wir werden uns eine Kammer teilen.“
„Das ist sehr freundlich von dir.“
Rosa lachte. „Überhaupt nicht. Ich habe mir schon lange eine Freundin gewünscht, mit der ich plaudern kann, bevor ich einschlafe.“
Marcus lachte. „Dann genüge ich dir wohl nicht?“
„Du bist ein Mann. Mit dir kann man doch nicht reden.“ Während sie sich lachend kabbelten, blieb Sibils Blick an Marcus hängen. Seine blauen Augen gaben ihm etwas Kindliches, obwohl sein Kinn schon männlich markant war. Seine Lippen waren voll und sinnlich. Lippen zum Küssen. Ihr Herz schlug plötzlich fester.
Imagina nahm Sibil und führte sie zu einem Stuhl. „Setz dich. Möchtest du etwas essen oder trinken?“ Plötzlich merkte Sibil, wie ausgehungert sie war. Eifrig nickte sie. Imagina öffnete die Tür zu einem kleinen, dunklen Nebenraum und brachte Brot, Butter, einen Topf mit Honig und ein Stück Käse zum Vorschein, das in ein feuchtes Tuch geschlagen war.
„Ich kann dir Eier braten“, bot sie an.
„Au ja“, sagte Marcus sehnsüchtig, und Imagina versetzte ihm einen spielerischen Schlag mit dem feuchten Tuch.
„Du nicht, Vielfraß. Heute gehört alles, was wir haben, Sibil. Ab morgen müsst ihr wieder teilen.“
„Das ist kein Problem“, sagte Rosa und setzte sich zu Sibil an den Tisch. „Wir haben viel.“
„Ist das hier das Paradies?“
„Du meinst, ob du gestorben und in den Himmel gekommen bist? Nein, das hier ist immer noch das gute alte Erdenleben. Nur ganz anders, als du dachtest. Es gibt so viel mehr zwischen Himmel und Erde, als du glaubst...“
„Erzähl mir davon.“
„Soll ich...?“Rosa sah zu Imagina hinüber, die aus einem großen Krug Milch in Becher füllte. „Mach nur. So sehe ich gleich, ob du gut aufgepasst hast.“
Rosa holte tief Luft. „Also. Wie du bereits weißt, gibt es uns Gestaltwandler. Wir haben eine menschliche Gestalt und eine Wolfsgestalt. Wenn du deinen ersten Vollmond erlebt hast, kannst du nach Belieben zwischen beiden Gestalten wechseln. Der Wolf wohnt dann in dir, und du musst dafür sorgen, dass es ihm gut geht. Das kannst du auf zwei verschiedene Arten tun. Entweder, du lässt das Tier entscheiden. Dann wirst du wie Raffaelus und sein Rudel. Sie morden, sie folgen ihren Trieben, sie haben Spaß am Töten, und dadurch wird das Tier immer mächtiger. Manche vermischen auch ihre Gestalt und bleiben für immer ein Zwischenwesen. Die zweite Möglichkeit ist es, die menschliche Seele in dir entscheiden zu lassen. Du sorgst gut für dein inneres Tier, aber du lässt es nicht über dich bestimmen. Der Schlüssel dafür ist, dass du niemals einen Menschen angreifen darfst. Du darfst auch niemals jemanden beißen und ihn damit auf unsere Seite holen. Deine Seele muss rein bleiben. Du kannst dich dann jederzeit in einen Wolf verwandeln, aber du kannst auch die Kontrolle über ihn behalten.“
„Einer aus Raffaelus' Rudel... Adam... er sagte mir, dass es Macht verleihen würde, Menschenfleisch zu essen. Und Macht sei... gut. Nötig.“
„Adam?“ Imagina stellte den Krug ab. „Wie geht es ihm?“
„Du kennst ihn?“ Imagina seufzte. „Ich wollte ihn damals Raffaelus nicht überlassen. Aber der Junge war so voller Wut. Er konnte sich nicht beherrschen und hat bei seiner ersten Wandlung einen Menschen getötet. Danach konnte er hier nicht bleiben, und Raffaelus hat sich seiner angenommen.“
„Davon hat er mir gar nichts erzählt“, sagte Sibil erstaunt. „Allerdings hat er mich zu dir geschickt. Auf Umwegen zumindest. Und es geht ihm gut. Er scheint ganz zufrieden zu sein.“
„Ich denke, damals war er verliebt in Raffaelus. Er wollte sich lieber von einem starken, wütenden Mann lenken lassen als von einer Frau.“
„Das ist wahrscheinlich immer noch so“, sagte Sibil und trank durstig ihren Milchbecher leer. „Aber wie ist das nun mit der Macht? Muss man Menschen töten, um zu überleben?“
„Nein.“ Imagina klang sehr entschieden. „Der Weg als reine Seele ist schwierig, aber man kann ihn gehen. Er erfordert mehr Mut als der andere. Aber du bist freiwillig zu uns gekommen, um alles über diesen Weg zu lernen, und ich werde dir beibringen, was ich weiß.“
„Dann werde ich eine Weile hierbleiben?“
Imagina lächelte. „Ja. Eine ganze Weile, mein Kind.“